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117. Prozesstag: 27. Februar 2003

Der Tag der "sicheren Lebenserfahrung"

Ein Zeuge und ein ganzer Rattenschwanz von Anträgen auf Antragsablehnungen seitens der Bundesanwaltschaft füllten die Stunde Verhandlung, die heute in den Kammerspielen gegeben wurde.

Underground

Der Zeuge, ein 66-jähriger Bauingenieur, war Anfang der 90-er Jahre "zuständiger Gruppenleiter für den Hochbaubereich" beim Bezirksamt Mitte. Er zog einen endgültigen Schlussstrich unter die Mousli-Mär, es gebe einen unterirdischen Zugang zur Verkehrsinsel am großen Stern, auf welcher die Siegessäule prangt. "Das ist nicht der Fall", sagte der Zeuge auf die Frage, ob ein solcher existiere. Bei einer Ortsbegehung kürzlich aus gegebenem Anlass habe er nur zwei, abgedeckelte Schächte ausfindig gemacht, welche mit 80 Zentimetern Durchmesser jedoch nur in Rohrleitungen mündeten, welche für Menschen nicht zugänglich seien. Es gebe sonst keinen "Gang- oder Kriechbereich": Die Geschichte ist damit vom Tisch.

Sehr wohl gebe es - und zwar, wie Richterin Hennig unterstrich, durchaus unterirdisch - die bekannten, "Tonnen" genannten öffentlichen Fußgänger-Unterführungen zur Insel, die jedoch nachts an beiden Enden versperrt würden. Unausgesprochen stand die Erkenntnis aus "sicherer Lebenserfahrung" im Raum, dass ein ziemlicher Depp sein muss, wer sich Nachschlüssel für die beiden Scherengitter besorgt, um nachts unbemerkt an die Siegessäule heran zu kommen.

"interim" beweist sich selbst

Anschließend verwarf die Bundesanwaltschaft bis auf einen - der wohl noch nicht durch die BAW-Mühle durch ist - alle Anträge der Verteidigung Glöde vom 20. Februar 2003 sowie einen der Verteidigung Haug und empfahl dem Gericht, diese abzulehnen. Als Begründung musste auffällig oft das Textmodul mit der Phrase "sichere Lebenserfahrung" herhalten.

Eben diese Lebenserfahrung lasse es unwahrscheinlich erscheinen, dass die Verlesung einer Mitschrift aus dem Prozess gegen Tarek Mousli im Jahr 2000, welche in der Szenezeitschrift "interim" veröffentlicht wurde, den intendierten Beweiswert habe. Eine Verlesung des Textes könne allenfalls dessen Existenz beweisen, so Bundesanwalt Wallenta. In der Mitschrift wird Tarek Mouslis Aussage vom 1.12.2000 wieder gegeben, dass sich eine konspirative Wohnung der RZ in der Oranienstraße 7 oder 9 befunden habe. Mousli hatte mit seiner Aussage Wolfgang B. insofern schwer belastet, als er behauptet hatte, dieser habe dort eine Wohnung angeblich als Mieter bewusst den RZ zu konspirativen Zwecken zur Verfügung gestellt. Mousli sei nicht nur selbst häufig in dem Objekt gewesen, dort hätten zeitweise auch RZ-Mitglieder gewohnt und dort sei ein Sprengsatz fabriziert worden. Mousli, der zur fraglichen Zeit selbst um die Ecke am Heinrichplatz gewohnt hatte, hatte den Ort sehr genau lokalisiert. Es kann nur leider der Nachweis erbracht werden, dass der Mieter, den er hier der Unterstützung der RZ beschuldigt, dort niemals eine Wohnung hatte. Auf diesen Nachweis hat die BAW aber offenbar keine Lust. Warum nur?

Bohren statt lesen

Auch die Verlesung des Prüfbuches zum berühmten "waffentauglichen" Aufzugsschacht im Mehringhof hält die BAW für nicht erforderlich. Denn ohne Zweifel seien darin alle genehmigungspflichtigen Veränderungen am Aufzugsschacht vermerkt. Negativ gewendet habe es jedoch keinen Beweiswert, schlaumeierte Bundesanwalt Wallentas aus seiner "sicheren Lebenserfahrung": Alle heimlichen und nicht genehmigungspflichtigen Veränderungen insbesondere am Grund des Schachtes seien darin sicher nicht vermerkt.

Demnächst wird nun allen Ernstes der Boden des Aufzugsschachtes von Materialprüfungsexperten im Beisein des Ex-Hausmeisters und Angeklagten Haug aufgebohrt, um anhand der Bohrkerne zu überprüfen, ob sich hier nicht doch ein Versteck für Sprengstoff und Waffen befunden hat, das später verfüllt worden sein könnte.

"Eine auf's Geratewohl geäußerte Behauptung" nannte Wallenta den Inhalt eines Antrages der Verteidigung Haug. Nachdem der Verfassungsschutz die Anfrage Haugs verneint hatte, ob er, seine Wohnung, sein Mitbewohner oder sein Arbeitsplatz zwischen September 1986 und Frühjahr 1987 vom VS observiert worden sei, hakte der Antrag dort noch mal nach, wo die Auskunft aufgrund inzwischen vernichteter Akten unklar blieb. Die BAW lehnt hier ein Nachhaken ab.

Reißen und schwärzen

Ein weiterer Antrag der Verteidigung Glöde vom 20. Februar 2003 zu Reißfestigkeit von Klebeband und Müllbeuteln leuchtete den Herren in Rot auch nicht ein: Ein Beweisgelingen wurde von der BAW als unmöglich eingeschätzt, da das Beweisstück, das ebenfalls inzwischen berühmte Sprengstoffpaket aus dem Seegraben, inzwischen ja schon gar kein Material mehr hergebe für weitere Untersuchungen oder auch zum Teil bereits vernichtet sei. Ob der Riss im Müllbeutel, welcher allein das Absinken des Pakets in der vom Kronzeugen geäußerten Weise und gemäß dem Satz des Archimedes ermöglicht hätte, beim Einwurf, durch Tierfraß, beim Herausforken aus dem Grabenschlamm, danach bei der Nachschau des Inhalts durch die auffindenden Beamten oder noch später bei der Untersuchung aufgetreten ist, könne, so BAW, keinesfalls mehr zweifelsfrei nachgewiesen werden.

Auch die Akten des Verwaltungsstreits des Angeklagten Glöde gegen die Bundesrepublik empfiehlt die BAW dem Gericht nicht beizuziehen. In dem Verwaltungsstreit geht es darum, dass Glöde die Protokolle, welche von Gesprächen des Verfassungsschutzes mit dem Kronzeugen Mousli gibt ungeschwärzt sehen will. Derzeit liegen sie nur zu einem Drittel geschwärzt vor. Die BAW argumentiert, dass die Hauptsacheverhandlung vor dem Verwaltungsgericht noch nicht begonnen hat, mithin der Beweiswert der Akten gering einzuschätzen sei. "Der Angeklagte Glöde und seine Verteidiger verkennen, dass das Gericht nicht gehalten ist, jeder noch so fern liegenden Beweispflicht nachzukommen hat", plusterte sich der Bundesanwalt auf. Im übrigen seien diese Protokolle vom Kronzeugen auch nicht autorisiert worden.

Überwachen und strafen

Schließlich lehnte es die BAW auch ab, im Zusammenhang mit Telefonüberwachungsakten den Sicherheitsleiter der Netz-Betreiberfirma E-Plus sowie den Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz als Zeugen zuladen. Dabei geht es darum, dass Mouslis Telefonanschluss sowohl vom BKA als auch vom Verfassungsschutz abgehört worden ist, worauf die Existenz sogenannter G10-Reporte aus April und Mai 1999 hinweist. Ob dem so sei, darauf kommt es nach Ansicht der BAW nicht an, darin liege keine Entscheidungsrelevanz.

Was die Relevanz der Frage angeht, wie viele Seiten eine Akte umfasst, verstieg sich die Bundesanwaltschaft zu einer unverschämten Retourkutsche gegen die Anwältinnen des AG Glöde: Sie behaupteten es seien außer den vorhandenen Blättern weitere Seiten in einem bestimmten Aktenordner vorhanden gewesen in Form von "Berichten". Bundesanwalt Bruns hielt es für richtig, die beiden Juristinnen in beleidigender Weise zu belehren, dass Schul- und Universitätswissen hinreichen müsse, das Wort Bericht korrekt zu verstehen. Und wenn dem nicht so sei, gebe es immer noch den Duden, sogar Ausgaben auf CD-Rom, welche das Wort "Berichte" mit "offizielle Mitteilung" erklärten. Nichts anderes befinde sich in dem fraglichen Aktenordner aus dem Verfahren gegen den "Sprengstoff- Finder" Slawinsky.

BAW unvernünftig

Weil sich einige Verteidiger durch die Zurückweisung des Antrags auf Verlesung des Interim-Artikels "veralbert" (RA Eisenberg) fühlten, schlossen sich fast alle dem Antrag auf Verlesung an. RA Euler u.a. beantragten zusätzlich die Ladung des Vorsitzenden Richters Dietrich, der Mouslis Strafverfahren leitete, sowie des Berichterstatters.

RA Becker bezeichnete die formale Abfuhr des Antrags durch die BAW als "unvernünftig". Immerhin hätten sich die "linken Publikationen" zu den Prozessen als ziemlich verlässlich erwiesen. Es sei ein gewisses Bedürfnis nach Objektivität vorhanden, zumindest wenn es darum gehe, was im Verfahren gesagt worden sei. Auch im Kammergericht werde schließlich Bezug auf die Internetseite zum Prozess genommen, so Becker. Zwar passten ihnen die Bewertung in diesen Publikationen nicht, es komme jedoch auf den Inhalt an, sekundierte RA Eisenberg.

Weiter geht es am Freitag, 7. März, um 9.15 Uhr. Der Termin am Donnerstag, 6. März, wurde aufgehoben.

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http://www.freilassung.de/prozess/ticker/berichte/270203.htm