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Früchte des Zorns

TitelblattRevolutionärer Zorn Nr. 4 - Januar 1978


Krise im Hinterland

Auf dem Hintergrund der neuen internationalen Arbeitsteilung verlieren die anhaltenden Krisenerscheinungen in den imperialistischen Metropolen gänzlich den Charakter von "Konjunkturschwankungen". Es sind die ersten Auswirkungen der "Revision der Pläne und Strategien" des transnationalen Kapitals, von denen auch die Industrienationen nicht verschont bleiben. Aufgrund der immer höheren organischen Zusammensetzung des Kapitals in den Zentren wird zunehmend die Produktion von Massen- und Standardgütern von dort abgezogen. Inlandsinvestitionen dienen der Rationalisierung bzw. dem Aufbau neuer kapital- aber nicht arbeitsintensiver Sektoren, wie der Nutzung der Atom- und Sonnenenergie, der Ausbeutung von Meeresbodenschätzen, Biochemie, Genetik, Mikroelektronik, kurz: eine Verlagerung auf "saubere know- how- Produktion" (Matthöfer [51]). Insgesamt ist also eine "Tendenz zur Deindustrialisierung der klassischen Industriestaaten" zu beobachten.

Als Opfer einer wahnwitzigen, menschenfeindlichen Industrialisierung schient die "Tendenz zur Deindustrialisierung" für uns zunächst ein Grund zum Aufatmen zu sein, denn die Vergiftung von Wasser, Luft, Erde und Menschen hat die Ausmaße einer Katastrophe angenommen. "Amerikaner sind für den menschlichen Verzehr nicht geeignet. Mit 10 ppm (DDT [52]) im Fett liegen sie über dem vom Lebensmittelgesetz erlaubten Wert. Die Qualität des nordamerikanischen Menschenblutes zum Beispiel ist derart abgesunken, daß die Blutsauger gutes­ (und zehnmal billigeres) Blut der noch nicht so verseuchten Menschen der Region der dritten und vierten Welt einfliegen. Imperialistischer Vampirismus." (Schehl, S. 32)

Die Tendenz zur Deindustrialisierung der Metropolen bedeutet nur die Ausbreitung der ökologischen Katastrophe über den ganzen Globus. Und hinter der "Einführung sauberer Technologien" in den Zentren verbirgt sich der Angriff auf jegliches Leben auf dem ganzen Erdball:
Alle Vergiftungen, die durch das industrielle System weltweit und mit globaler Wirkung produziert wurden, nehmen sich vergleichsweise harmlos aus gegenüber dem "Faustischen Pakt", der mit der vor wenigen Jahren einsetzenden industriellen Fertigung von Atomkraftwerken geschlossen wurde. In all seinen Dimensionen ist dieses Projekt "einsame Spitze unter den Zerstörungskräften ... Das zusätzliche Problem der Radioaktivität ist im Gegensatz zu allen anderen nicht einmal theoretisch lösbar und überdauert alle politischen und wirtschaftlichen Veränderungen unserer und tausender nach uns kommenden Generationen." (Schehl, S. 32 ff)

Ist das mit den "radikalsten und schmerzhaftesten Veränderungen seit Menschengedenken" gemeint, die Business International­ ankündigt? Oder meint es damit die sozialpolitische Katastrophe, die den Metropolen durch diese Kapital- und Produktionsverschiebungen bevorsteht? Die ersten Anzeichen dafür sind bereits überall zu spüren:

1.)

Eine Rationalisierungswelle, die schon in ihrer Anfangsphase "einer mittleren Katastrophe gleichkommt" (Hauff, Staatssekretär im Forschungsministerium). Und Gewerkschafts- Vetter [54] jammert: "Wenn nur ein Teil der Vorhaben, die in Planung sind, realisiert werden, dann Gnade uns Gott".

MikroprozessorWinzige Mikroprozessoren sind dabei, klobige Computer abzulösen; sie werden in ein paar Jahren ganze Berufsgruppen in der Verwaltung, wie Büroangestellte und Sachbearbeiter in den Müllhaufen der Rationalisierung kippen; werden Gewerkschaften wie die "IG- Druck wegrationalisieren, zumindest aber zur Bedeutungslosigkeit schrumpfen lassen" (FAZ [55]), weil die Berufe des Druckers, Setzers und Korrektors gegenstandslos geworden sind (selbst dieser Text wurde auf einem hochmodernen Mini- Computer getippt und mit Hilfe eines Hochleistungs- Rechners elektronisch belichtet); werden Fabrikhallen leerfegen, weil diese Dinger Arbeitsabläufe elektronisch steuern, die heute noch ein paar hundert Menschen beschäftigen.

So wurden allein in der Druckindustrie in den letzten Jahren 34.000 Arbeitsplätze und in der Stahlindustrie 50.000 wegrationalisiert. 8 Millionen Angestellte klagen über einen unerträglichen Leistungsdruck, da die freigemachten Stellen nicht mehr besetzt werden. 5 Millionen unter ihnen sind überzeugt, daß ihr Arbeitsplatz in naher Zukunft nicht mehr sicher ist.

Das ist keine eingebildete Angst, wenn man bedenkt, daß für einen neugeschaffenen fünf herkömmliche Arbeitsplätze wegrationalisiert werden. Diese neu geschaffenen Arbeitsplätze zeichnen sich durch eine unerträgliche Entmenschlichung aus, die nicht mehr den geringsten individuellen Spielraum freilassen, sondern die stupide, roboterhafte Bedienung der vorgesetzten Maschinerie erzwingen.

So hat die Rationalisierung neben ihrem ökonomischen Kalkül auch ein wesentlich politisches. Menschen zu trainieren, daß sie ihre unregelmäßigen Arbeitsgewohnheiten ablegen und sich mit der unveränderlichen Regelmäßigkeit des komplexen Automaten identifizieren.

2.)

"Eine auf hohem Niveau fortdauernde, strukturelle Arbeitslosigkeit, die wesentlich durch die weltweite Neuverteilung der industriellen Beschäfigung bestimmt wird und auch in vorhersehbarer Zukunft bestimmt werden wird." (Fröbel u.a., Technologie & Politik 8, S. 31) [56]. Zur Zeit gibt es in den OECD- Staaten über 15 Mio. Arbeitlose. Eine Studie des IFO [57]- Instituts prognostiziert bis 1985 für die BRD eine Steigerung der Arbeitslosenrate von 8,3%. In einigen Regionen der BRD ist diese Quote heute schon erreicht.

In diesen Berechnungen sind nicht berücksichtigt: die steigende Zahl der Kurzarbeiter, das Heer von Frauen, die keine Stelle bekommen, sich aber aus den verschiedensten Gründen nicht arbeitslos melden und die immer größere Zahl alter Menschen, die "ausrangiert" werden und deshalb früher auf Rente gehen (fast die Hälfte der offenen Stellen tragen einen "Alten- Sperrvermerk) sowie die Um- und Weiterbildungen, um den Arbeitsmarkt vorübergehend abzuschöpfen und die Hunderttausende abgeschobener bzw. freiwillig abgewanderter Arbeitsemigranten.

Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bereits höher als 20%. Dazu kommen 1,5 Mio. Kinder von ausländischen Arbeitern, "zweisprachige Analphabeten" und "natürliches Subproletariat", wie die Welt­ schreibt.

3.)

ArmutMit dieser Entwicklung ist eine zunehmende öffentliche Armut verbunden, denn der inländische Produktionsrückgang bedeutet nicht nur weniger Steuern, sondern auch wachsende Staatsausgaben zur "Ankurbelung der Produktion". Dem stehen auf der anderen Seite immer größere Ausgaben durch die hohe Arbeitslosenquote, Sozialhilfeempfänger etc. gegenüber.

Und das "Heer der Überflüssigen" wird weiter wachsen. Der ehemalige Bundesforschungsminister Matthöfer rät ihnen, in den "humanen Dienstleistungsbereich" überzuwechseln, was einer gesellschaftlichen Bankrotterklärung gleichkommt, angesichts der wachsenden öffentlichen Armut, die sich vor allem in diesen Bereichen auswirkt. Denn gerade die "Industrien des tertiären Sektors": Schule, Universität, die Post, die Sozialfürsorge, das Transport- und Nachrichtenwesen, werden immer stärker demontiert. So kommt auch die IG- Metall zu der Einschätzung: "Der Dienstleistungssektor fällt als Auffangbecken aus, weil er selber vor einer großen Rationalisierungswelle steht, bei der sich auch der öffentliche Dienst aus finanzpolitischen Erwägungen beteiligen wird."

So sah denn auch das Gespann Friedrichs- Lambsdorff [58] schon 1975, das "Ende der sozialen Leistungsfähigkeit des Staates" gekommen, d.h. den "Ausweg in den Versorgungsstaat" gibt es nicht.

Damit bricht auch der Mythos vom Sozialstaat in sich zusammen, der 30 Jahre lang die notleidende Existenz eines Drittels des westdeutschen Volkes aus dem öffentlichen Bewußtsein radierte. "Vorsichtig geschätzt leben rund 18 - 20 Millionen Menschen der westdeutschen Bevölkerung in materieller Not." (FR [59], 17.11.75)

4.)

Pläne wie die Heraufsetzung des Rentenalters, die Einführung der flexiblen Altersgrenze, Arbeitszeitverkürzung, Verlängerung der Schulzeit, mehrjähriger Bildungsurlaub, Babyjahr etc. verfolgen zwar die Absicht, den Arbeitsmarkt abzuräumen, können aber angesichts der wachsenden öffentlichen Armut, die sich im versuchten Rentenbetrug, im geplanten Abbau der Sozialfürsorge, in der Erhöhung der Rezeptgebühren etc. ausdrücken, die Probleme absolut nicht lösen, höchstens verschieben bzw. vergrössern, Die Krise des Regimes ist nicht im reformistischen Sinn zu lösen.

So sieht denn auch die Welt­ [60] vom 26.1.77 "Verteilungskämpfen entgegen, die das gesellschaftliche System bis zum Zerreißpunkt belasten". Das explosionsartige Anwachsen einer industriellen Reservearmee in den Industriestaaten hat auf der einen Seite die bekannte disziplinarische Wirkung. Auf der anderen Seite fallen Millionen Menschen aus dem Zwangssystem der Arbeit heraus, der Dirigismus der Büros und Fabriken bestimmt nicht mehr ihr Leben, das Rattern der Maschinen erschlägt nicht mehr jeden Gedanken und ein Leistungs- und Konkurrenzdruck fällt von ihnen ab, der vorher eh schon Gespaltete täglich aufs Neue spaltete.

Eine Harvard- Untersuchung vermeldet, aufs Höchste alarmiert, "eine Veränderung im Arbeitsverhalten der US- Bürger - irgendetwas Neues, Produktionsfeindliches, das man wissenschaftlich noch nicht genau definieren kann." Die FR hat Ähnliches an den Deutschen bemerkt: "Viele verlieren ihren Halt und schwimmen in einem Meer von Zeit, wenn die Arbeit als Ordnungsinstrument ihres Lebens nicht mehr zur Verfügung steht. ... Die steigenden Zweifel an der Arbeit als Antriebskraft und Ordnungsinstrument unseres Wirtschaftssystems bringen den zentralen Pfeiler der Industriegesellschaft ins Wanken - und das ist erschreckend." Und der SPD- Arbeitsmarktexperte Lutz sieht "einen Sprengsatz aus Verbitterten und Verbissenen" entstehen, "der unsere Gesellschaft zuverlässiger in die Luft jagt, als jeder noch so wild entschlossene Anarchist dies vermöchte."


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