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103. Prozesstag: 31. Oktober 2002
Wenn die Erinnerung verblasst ...
"So, Herr Mousli, die Wahrheitspflicht gilt immer noch."
Warmherzige Worte der Vorsitzenden Richterin Gisela Hennig zur Begrüßung
bekam der Kronzeuge zu seinem vielleicht letzten Auftritt vor Gericht.
Seit März war Tarek Mousli nicht mehr vernommen worden. Einiges
ist seitdem passiert: Im Juli präsentierte die Verteidigung
vom Rudolf Sch. zwei Zeuginnen, die den Anschuldigungen des Kronzeugen
des Kronzeugen zum Knieschussattentat auf Harald Hollenberg und
zum Zeitpunkt des Ausstieg ihres Mandanten und Sabine E. widersprachen.
Während dieser Zeit ist auch offenkundig geworden, dass das
Sprengstoffpaket, das Mousli 1995 in einem Seegraben versenkt haben
will, dort nicht bis zu seiner Bergung im August 1999 gelegen haben
kann. Das ominöse, nie gefundene Sprengstoffdepot im Mehringhof
blieb weiterhin ominös. Zu all diesen Punkten und einigen anderen
mehr sollte heute Mousli befragt werden. Ergiebig war die Befragung
jedoch nicht. Er könne sich nicht genau erinnern, er würde
es annehmen, das wisse er jetzt nicht mehr genau - so oder so ähnlich
beantwortete er die meisten Fragen. Seine eloquente und zum Teil
souverän bis zuweilen kaltschnäuzige Art konnte jedoch
nicht darüber hinweg täuschen, dass Mousli sich bei allen
Antworten hinter einem Erinnerungs- Vorbehalt versteckte.
Weder "libinös", aber auch nicht libidinös
Elisabeth E. sagte als Zeugin am 11. Juli aus. (vgl. 87.
Prozesstag) Mit ihrer Aussage stützte sie die Angaben der
Entlastungszeugin Barbara W. und berichtete von einem Literatur-
bzw. Diskussionskreis, in dem sie nach ihrer Rückkehr aus Nicaragua
teilgenommen habe. Beteiligt an diesem Kreis seien auch die Angeklagten
Sabine E., Rudolf Sch. und ihr langjähriger Bekannter und Freund
Axel H. gewesen. Letzteres bestätigte dann auch der Kronzeuge.
Elisabeth E. sei ihm als alte Freundin von Axel H. bekannt. Doch
wollte er sich weder an eine "libinöse" Beziehung,
wie es die Vorsitzende Richterin die damalige Zeugin falsch zitierend
nannte, noch an eine libidinöse Beziehung zu Elisabeth E. erinnern:
"Das würde ich verneinen." Von einem Literaturkreis
will er auch nichts gewusst haben: "Seiner Zeit nicht, nein."
Der Wahrheit verpflichtet ...
Eine Woche vor Elisabeth E. hatte sich am 4. Juli Barbara W. vor
Gericht selbst bezichtigt, 1986 die Schüsse auf die Beine des
damaligen Chefs der Berliner Ausländerbehörde Harald Hollenberg
abgegeben zu haben. (vgl. 85.
Prozesstag) Mousli hatte behauptet, Rudolf Sch. sei der Schütze
gewesen. Dass ihm in diesem Punkt widersprochen worden war, wusste
der Kronzeuge bereits vor der heutigen Hauptverhandlung, wie er
auf eine entsprechende Frage eingestand: "Auch mir sind die
Veröffentlichungen von www.freilassung.de zugänglich."
Gleichwohl blieb er bei seiner Aussage: "Ich habe in Erinnerung,
dass Jon (Deckname von Rudolf Sch.) der Schütze war. Ich habe
nicht in Erinnerung, dass Barbara W. die Schützin war."
Machte dann allerdings doch eine Einschränkung: "Aber
ich kann dem nicht widersprechen, ich war nicht vor Ort, sondern
am S-Bahnhof Zehlendorf."
Dass er am Nachmittag des Tattages Barbara W. zu der erfolgreichen
Aktion beglückwünscht haben soll, bestritt Mousli vehement:
"Auch das habe ich gelesen, aber ich kann ihnen eindeutig sagen,
das stimmt nicht. Ich habe Frau W. nicht getroffen, ich war nicht
in einer Wohnung in der Oranienstraße, ich habe sie nicht
umarmt und somit auch nicht beglückwünscht, sondern es
war so, wie ich es geschildert habe." Erinnern konnte er sich
auch nicht, dass er in den achtziger Jahren für Barbara W.
Plakate gedruckt habe. Gekannt habe er sie allerdings schon - "als
Frau aus der Szene, die sich in autonomen, linksradikalen Zusammenhängen
bewegt hat". Erst 1989/90 will er erfahren haben, dass Barbara
W. auch mit den RZ zu tun gehabt habe. Damals habe "Jon"
ihn gebeten, sich mit zwei "Lolas", laut Mousli die RZ-
interne Bezeichnung für Frauen der Roten Zora, zu treffen,
um ihnen in funktechnischen Fragen behilflich zu sein. Dass er bei
einer BKA- Vernehmung im November 2000 Barbara W. in den Zusammenhang
mit einem Rote- Zora- Anschlag gebracht habe, bestritt er heute:
"Ich kann mich nicht erinnern, das so gesagt zu haben."
Ob er sich erklären könne, warum Barbara W. diese Einlassung
gemacht habe, wollte Rechtsanwalt Euler wissen. Doch Mousli verweigerte
die Antwort: "Ich kann nur wiederholen, dass ich nicht hier
bin, um Mutmaßungen abzugeben, sondern um wahrheitsgemäße
Aussagen zu machen." Und auf Nachfrage: "Ich gebe keine
Erklärung dazu ab, das ist nicht mein Teil."
... kann viel bedeuten
Erklärungen zu geben, war sein Teil heut wahrlich nicht. Auch
nicht im Falle des angeblichen Sprengstoffdepots im Mehringhof.
Zwar will seine Depotbeschreibung keine bauliche Entsprechung im
Gebäude finden, doch hielt Mousli an seiner Aussage fest. Gleiches
gilt für seine Geschichte zur Entsorgung von Sprengstoff in
einem Seegraben im Frühjahr 1995. Dabei war zuletzt am 101.
Prozesstag deutlich geworden, dass an dieser Geschichte etwas
nicht stimmen kann. Doch vor diesem Gericht sind solche Widersprüche,
Ungereimtheiten und Unmöglichkeiten nicht von Belang. Auch
heute konnte Mousli mit Leichtigkeit eigene, sich offenkundig widersprechende
Aussagen als solche im Raum stehen lassen, ohne unter Druck gesetzt
zu werden. Angesprochen auf ein abgehörtes Telefonat mit seiner
Mutter, in dem er von drei Besuchen am Seegraben in Begleitung von
Ermittlungsbeamten gesprochen hatte, blieb er bei seiner Aussage
in der Hauptverhandlung vom Januar 2002: "Ich war nur zwei
Mal dort. Einmal bei einer Ausführung aus Moabit (16. Juni
1999), das zweite Mal am Tag nach meiner Entlassung, das muss am
8. Juli (1999) gewesen sein. Ein drittes Mal gab es nicht."
Kritisches Nachfragen, Insistieren, Nachhaken von Seiten des Gerichts:
Fehlanzeige.
Rechtsanwalt Euler, der die Befragung des Kronzeugen im wesentlichen
bestritt, musste sich oft mit Ausflüchten und der Nichtbeantwortung
von konkret gestellten Fragen zufrieden geben. Aufgefordert, die
"Wegwerf- Situation" (Euler) zu schildern, wiederholte
Mousli seine allgemein gehaltenen Angaben. "Ich kann nur sagen,
dass ich
- es so versenken wollte, dass keine Kinder rankommen, und
- ich es durchschimmern sehen konnte."
Zu mehr, zu genaueren Erläuterungen war Mousli nicht zu bewegen.
Ab wann er wusste, in welche Richtung der Seegraben fließt?
"Daran kann ich mich nicht erinnern." Ob er mit seiner
Verlobten Jeanette O. darüber gesprochen habe, dass das BKA
ihn informiert hätte, das Paket sei 100 Meter entfernt der
Stelle, wo er es hineingeworfen habe, gefunden worden? Sie jedenfalls
habe dies so vor Gericht dargestellt. Reaktion des Kronzeugen: Diese
Frage würde Belange des Zeugenschutzes tangieren, deshalb werde
es darauf nicht antworten.
Was folgte war ein dreiviertelstündiges Hin-und-Her mit diversen
Prozessunterbrechungen. Am Ende stand ein Gerichtsbeschluss, der
sich durch eine bezeichnende Logik auszeichnete: "... die Frage
ist zulässig, aber der Zeuge muss sie nicht beantworten ..."
- wegen der Zeugenschutzbelange versteht sich. Eine kuriose Begründung,
die Reaktion des Kronzeugen dagegen war es weniger, auch wenn er
sich anschickte die Frage bereitwillig zu beantworten - allerdings
in der ihm eignen Art: "Ich kann mich nicht erinnern, dass
ich ihr das so gesagt habe."
Immer gut informiert - mit der B.Z.
Sicher war Mousli hingegen, als er zu seinen Lektüregewohnheiten
befragt wurde - mit der Einschränkung, dass es dabei nur um
die Zeitungslektüre geht. (Denn wie sich zu einem späteren
Zeitpunkt der Befragung herausstellte, gilt dies nicht für
die Lektüre von Büchern und Aufsätzen.) Mit Bestimmtheit
sagte Mousli jedenfalls auf eine entsprechende Frage: "Die
B.Z. habe ich nie gelesen. Hintergrund ist folgendes: In der Hauptverhandlung
wurde am 14. Juni ein Artikel der Berliner Boulevardzeitung B.Z.
über den Sprengstoffanschlag auf die Berliner Siegessäule
1991 verlesen, der in seiner Detailfülle viel Ähnlichkeit
mit dem Insider- Wissen von Mousli hat. (vgl. 81.
Prozesstag) Mousli, damals nach eigenen Angaben lediglich demissionierter
"Schläfer" der RZ, war nicht an der Aktion beteiligt
und will lediglich vom Hörensagen Informationen über den
Anschlag erhalten haben. Aber vielleicht war dieses Hörensagen
ja vielmehr ein Anlesen und somit ohne Substanz und vor allem nicht
aussagekräftig hinsichtlich der beschuldigten Personen?
Ein reines Gewissen will Mousli nach eignem Bekunden haben, was
die Finanzen von Michael W. alias Roger anbelangt. Für ihn,
der nach einem Unfall zum Pflegefall wurde, hatte er Anfang der
neunziger Jahre Schwarzgeld verwaltet. Auch nach dessen Tod hab
es da keine Verwerfungen gegeben. Bei einem Treffen mit der Schwester
und einem Anwalt sie man einvernehmlich, ohne offene Rechnungen
auseinander gegangen. Und entgegen der Ansicht von Richter Alban
hält er seinen Geldgebaren auch nicht für chaotisch: "Nein,
da lief nichts durcheinander. Ich hatte eine sehr genaue Buchführung."
Militant, Militanter - Mousli
Etwas verworren wurde es dann allerdings, als Mousli zum Abschluss
noch einmal zum Lektüre- bzw. Diskussionskreis und zu seinen
Kontakten zu Irma H. befragt wurde. Das Durcheinander entstand dabei
nicht alleine deswegen, weil sich nun auch Rechtsanwalt Becker und
sein Kollege Eisenberg in die Befragung einschalteten, es entstand
offensichtlich auch dadurch, dass sich der Kronzeuge nicht mehr
auf sicherem Terrain wähnte. So recht wollte sich Mousli nicht
mehr an die Texte erinnern, die man zu dieser Zeit in seiner RZ-
Zelle diskutiert habe. Hinterfragt wurde auch, wie genau man es
denn mit den zeitlichen Angaben Mouslis nehme dürfe. Der hatte
beispielsweise recht großzügig mit Jahresangaben hantiert,
als es um seine Kontakte zu Irma H. ging. Da ging es darum, wann
man sich kennen gelernt habe, wann Frau H. nach Italien umgesiedelt
und wann sie nach Berlin zurückgekehrt sei. Mouslis Angaben
changierten zwischen Anfang, Mitte und Ende der achtziger Jahre,
die gesamte Dekade und Beginn der neunziger Jahre. An einen längeren
Aufenthalt von Irma H. während ihrer Italienzeit in Berlin,
konnte sich Mousli nicht erinnern. Dennoch bestätigte er auf
eine entsprechende Frage, natürlich habe er alles gesagt, was
er dazu wisse. Wozu dann auch gehörte, dass er nie in einem
Konkurrenzverhältnis zu Irma H. gestanden habe; Machogehabe
ihm fremd sei, ebenso wie prahlen und das Motto "militant,
militanter" in der Szene sowieso nie gegolten habe.
Unerfreuliche Prozessunterbrechung
Ein unerfreulicher Anlass führt dazu, dass dies der letzte
Prozesstag für einige Wochen gewesen sein könnte. Die
morgige Hauptverhandlung fällt jedenfalls definitiv aus. Der
Termin am nächsten Donnerstag wurde unter Vorbehalt terminiert,
denn für diesen Tag ist eigentlich eine Operation bei Sabine
E. vorgesehen. Laut Anwalt Becker ist mit einer Rekonvaleszenz von
zehn Tagen zu rechnen. Die Straffprozessordnung lässt in einem
solchen Fall jedoch auch eine Unterbrechung bis zu sechs Wochen
zu.
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