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85. Prozesstag: 4. Juli 2002

Auch das Fernsehen war mal wieder da

Ein Filmteam des SFB, gut gefüllte ZuschauerInnen- und Pressebänke - untrügliche Zeichen, dass etwas besonderes im Saal 500 des Kriminalgerichts Moabit ansteht. So auch heute. Die Verteidigung von Rudolf Sch. und Sabine E. präsentierten am 85. Verhandlungstag eine Entlastungszeugin, die in weiten Teilen die Einlassung ihrer Mandanten vom 18. Januar bestätigte.

Bundesverfassungsgericht versus Bundesgerichtshof

Bereits Anfang der Woche hatten die Rechtsanwälte Euler und König sowie Becker und Eisenberg einen Beweisantrag bei Gericht gestellt, in dem sie beantragen, eine Zeugin zu laden und zu vernehmen, die bekunden würde: 1. sie sei an dem Anschlag Hollenberg in der Vorbereitungs- und Ausführungsphase beteiligt gewesen, 2. sie sei gemeinsam mit Rudolf Sch. an der unmittelbaren Tatausführung dergestalt beteiligt gewesen, dass sie die Schüsse auf Hollenberg abgegeben habe, 3. sie sei nach dem Anschlag von Mousli zur Tatausführung beglückwünscht worden. "Damit werden die entgegengestehenden Behauptungen Tarek Mouslis widerlegt", so Rechtsanwalt Euler heute zu Beginn des Prozesstages.

Doch bevor die Zeugin den Gerichtssaal betreten konnte, kam es noch zu einem Disput zwischen der Verteidigung, ihrem Zeugenbeistand Rechtsanwalt Zieger und dem Gericht, wie angesichts des anwesenden Fernsehteams die Persönlichkeitsrechte der Zeugin gewahrt werden könnten. Zog sich das Gericht auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes zurück, dass es ausreiche, wenn auf etwaigen Filmaufnahmen das Gesicht undeutlich gemacht werde, so insistierte Rechtsanwalt Eisenberg und der Zeugenbeistand auf eine Entscheidung des Bundesgerichtshofes, der darin einer großzügigen Interpretation der Sitzungshoheit des Gerichts das Wort sprach, die auch beinhalte, Aufnahmen ganz zu untersagen. Am Ende war es dann so, dass die Zeugin den Gerichtssaal über den Zuschauereingang betrat - unbeobachtet von den Kameras des SFB, die vor der Saaltür postiert waren.

Sabine E. war nicht beteiligt

Nachdem die 63-jährige Barbara W. auf Nachfrage der Vorsitzenden Richterin Hennig kurz zu ihrem Lebenslauf Stellung genommen hatte, erläuterte die ehemalige Sozialarbeiterin warum sie sich zu ihrer Aussage entschlossen hatte: "Ich habe mich sehr schwer getan und mir lange überlegt, ob ich aussage, aber ich habe mich dazu entschieden, weil ich es nicht ertragen kann, dass jemand anderes für eine Tat, die ich begangen und die ich zu verantworten habe, beschuldigt wird." Damit zielte sie auf Sabine E., von der der Kronzeugen behauptet, sie habe zusammen mit Rudolf Sch., der geschossen habe, den Anschlag auf Harald Hollenberg durchgeführt. (vgl. 13. Prozesstag, 13.7.2001) Rudolf Sch. hatte diese Darstellung bereits in seiner Einlassung bestritten. Zwar bestätigte auch er damals, dass eine Frau an dem Anschlag beteiligt war, gab jedoch an, diese Frau habe geschossen und betonte zugleich, dies sei nicht Sabine E. gewesen. (vgl. 53. Prozesstag, 18.1.2002) Im Gegensatz zur Version des Kronzeugen hatte sich die Darstellung von Rudolf Sch. mit polizeilichen Ermittlungsergebnissen, der Aussage Hollenberg und Äußerungen der RZ selbst gedeckt. Mit der Zeugenaussage von heute existiert eine weitere Gegendarstellung.

Gegen Barbara W ist seit Januar vergangenen Jahres ein Ermittlungsverfahren wegen Mitgliedschaft in der Roten Zora eingeleitet, wie sie - trotz entsprechender Bemühungen ihres Anwalts seit Juni 2000 - nach eigenen Angaben erst gestern erfuhr. Deshalb berief sie sich in weiten Teilen ihrer Befragung auf ihr Aussageverweigerungsrecht als Zeugin und schwieg zu den Punkten, in denen sie Gefahr laufen könnte, sich selbst zu belasten. So verweigerte sie alle Angaben zu den Angeklagten Matthias B. und Harald G.. Lediglich zu den drei anderen Angeklagten wollte sie sich äußeren. Auf entsprechende Vorhaltungen erklärte sie: "Ich möchte nur zu denjenigen Angeklagten aussagen, die Einlassungen gemacht haben." Sabine E., so die Zeugin, habe sie bereits Anfang der 70er Jahre kennengelernt, Rudolf Sch. dagegen erst in Berlin bei der Vorbereitung der Aktion gegen Hollenberg. Auch Axel H. sei ein alter Bekannter, den sie aus dem Spektrum und dem Ex im MehringHof kenne. Zu Tarek Mousli gab Barbara W. an, sie habe ihn 1986 kennengelernt und ihn nach 1988 nicht mehr gesehen. Er erschien ihr als ein Mann, "der jederzeit das gemacht hat, was er machen wollte".

Hollenberg: Ich habe geschossen

Detailliert beschrieb sie den Tathergang beim Knieschussattentat auf den damaligen Chef des Berliner Ausländeramtes. Mit einer schwarzen Perücke, einem langen schwarzen Mantel und einer weiten schwarzen Hose verkleidet, die sie über ihre Jeans gezogen habe, sei sie zusammen mit Rudolf Sch. vom Hegauer Weg zum Wohnhaus Hollenbergs gegangen. Auf halbem Weg habe Rudolf Sch. ihr die Tatwaffe übergeben - eine Pistole mit aufgesetztem Schalldämpfer. Als Hollenberg mit dem Wagen aus der Garage kam und kurz anhielt, um das Tor zum Grundstück zu schließen, sei sie auf ihn zu gegangen und habe aus kurzer Entfernung - ein bis eineinhalb Metern - gezielt in die Beine geschossen. Der ebenfalls bewaffnete Rudolf Sch. habe sie aus Sicherheitsgründen begleitet, um Hollenberger einzuschüchtern. Nach den Schüssen hätten sich beide schnell wieder in Richtung Hegauer Weg entfernt, wo sie einen Fluchtwagen bestiegen. Rudolf Sch. sei auf einem Klappfahrrad gefahren, sie gelaufen. Am S-Bahnhof Zehlendorf habe sie den Wagen verlassen, kurze Zeit später sei auch Rudolf Sch. ausgestiegen. Anschließend habe sie sich zum S-Bahnhof Friedenau begeben, wo ihr Wagen geparkt war. Von dort aus sei sie in die Schwimmhall Sachsendamm gefahren, wie sie es jeden Tag getan habe. Noch am Nachmittag desselben Tages habe sie Tarek Mousli in einer Wohnung in der Oranienstraße getroffen, wo er über den Stand der polizeilichen Fahndung berichtete, die er an seinem Arbeitsplatz per Funk verfolgt habe. Bei dieser Zusammenkunft habe Mousli sie in den Arm genommen und gesagt: "Gut so!". Mouslis eigene Angabe, er sei zum Tatzeitpunkt mit einem Funkscanner am S-Bahnhof Zehlendorf gewesen, quittierte Barbara W. mit der Bemerkung: "Das macht gar keinen Sinn."

An der vorbereitenden Diskussion über den Anschlag waren Rudolf Sch., Tarek Mousli und sie sowie weitere Personen - zu denen sie allerdings sich nicht weiter äußern wollte - , definitiv aber nicht Sabine E. beteiligt. Von Vorbehalten bei Mousli gegenüber der Aktion habe sie nichts gemerkt. Die Vorbereitungen zu dieser Aktion hätten bereits Ende 1985 begonnen. Sie erinnere sich, dass sie selbst geraume Zeit vor dem Tattag den Tatort inspiziert und ausgekundschaftet habe, zwei Mal auch in Begleitung von Rudolf Sch.. Tarek Mousli habe sich auch an dieser Aufgabe beteiligt. Wie oft er vor Ort gewesen sei, könne sich allerdings nicht sagen, denn "das lag in der Entscheidung jedes einzelnen". Zur Vorbereitung der Aktion habe auch der Kauf eines Passat Kombi gehört, der als Fluchtauto verwendet werden sollte. Der Kronzeuge dagegen behauptet, das Auto sei gestohlen worden (vgl. 13. Prozesstag, 13.7.2001)

Zur Vorbereitung habe zudem ein Frankreich-Aufenthalt zusammen mit Rudolf Sch. gehört, bei dem sie in einer alten Bunkeranlage an der Atlantikküste Schießübungen durchgeführt hätten. Da sie zuvor nur einmal bei einem USA-Besuch geschossen habe, war dies notwendig, weil - wie die Zeugin betonte - ausgeschlossen werden sollte, dass einerseits Hollenberg an einer anderen Stelle als den Beinen getroffen und anderseits kein Unbeteiligter geschädigt werde.

Ende der 80er Jahre war Schluss

Neben der Beteiligung am Hollenberg-Anschlag räumte die Zeugin auch die Teilnahme an dem Diskussionskreis ein, von dem Rudolf Sch. bereits in seiner Einlassung gesprochen hatte. Dieser Diskussionskreis sei Ende der 80er Jahre entstanden, nachdem sie und andere sich von der bewaffneten Politik zurückgezogen hatten. Zu diesem Zeitpunkt sei klar gewesen, "dass es keine Situation mehr gab, die relevant war für solche Aktionen". In dem Kreis seien theoretische Diskussionen geführt worden, außerdem habe man diverse feministische und marxistische Texte gelesen. Teilgenommen an diesem Kreis hätten Sabine E., Rudolf Sch., Axel H. und nach einem mehrjährigem Nicaragua-Aufenthalt Elisabeth E..

Barbara W. bekräftigte, sie habe Sabine E. erst nach dem Hollenberg-Anschlag in Berlin getroffen. Nach ihrer Darstellung kann von einer Tatbeteiligung von Sabine E., wie es der Kronzeuge behauptet, nicht die Rede sein. Ebenso berichtet sie von einer Reise nach Zürich, die sie 1989 zusammen mit Sabine E. unternommen habe. In Zürich sei es zu einem Treffen mit der Schwester von Sabine E. gekommen, bei dem eruiert werden sollte, ob eine Übersiedlung nach Italien in Betracht gezogen werden könnte.

Die Zeugin räumte auf entsprechende Nachfragen ein, sowohl die Einlassung von Rudolf Sch., wie auch die von Axel H. gelesen zu haben und sich gelegentlich bei www.freilassung.de über den Stand des Verfahrens zu informieren.

Während der Befragung durch das Gericht, die Verteidigung und die Bundesanwaltschaft bestritt Barbara W. vehement, jemals Mitglied der Roten Zora gewesen zu sein. Befragt, wie ihre Telefonnummer in den Besitz von Harald G. gelangen sei, erklärte sie, dies stünde im Zusammenhang mit einem Skiurlaub, den eine jugendliche Freundin und die Tochter Harald G.s gemeinsam in den 90er Jahren unternommen hätten.

Nachdem die Befragung der Zeugin W. abgeschlossen war, teilte die Vorsitzende Richterin Hennig mit, sie sehe keine Veranlassung auf eine Gegenüberstellung des Kronzeugen Tarek Mousli mit der Zeugin. Mousli habe zugegeben, die Zeugin zu kennen. Für eine Gegenüberstellung bestehe daher keine Notwendigkeit mehr.

Die Rechtanwälte Euler und Kaleck monierten diese Vorgehensweise, Euler, weil er davon ausging, es käme zu einer solchen Gegenüberstellung auf jeden Fall, Kaleck, weil er angenommen hatte, das Gericht hätte diese Gegenüberstellung nur deshalb nicht angesetzt, weil es von Tarek Mousli seit einigen Wochen heißt, er sei krank.

Stellungskrieg der BAW am Wassergraben

Mit insgesamt drei Stellungnahmen machte heute die BAW deutlich, dass ihr an einer Aufklärung des angeblichen Sprengstoff"funds" am Wassergraben nicht gelegen ist.

So beantragte der Bundesanwalt Wallenta die Ladung eines Sachverständigen Mikrobiologen, den die Verteidigung des Angeklagten Rudolf Sch. gefordert hatte, abzuweisen, weil nicht geklärt werden könne, wann und wie der biologische Abbau (Biodegredation) des Kautschuk im Klebeband stattgefunden habe; es handele sich dabei um eine "unerforschte experimentelle Situation", die sich das Kammergericht nicht "zumuten" müsse.

KieselalgeBundesanwalt Bruns beantragte, den Antrag der Verteidigung von Matthias B. abzulehnen, die ein Gutachten der Doktorin rer. nat. Kasten gefordert hatten, um nachzuweisen, dass sich aus den unterschiedlichen Ablagerungen von Kieselalgen auf dem Sprengstoffpaket nachweisen lasse, dass es keine volle Vegetationsperiode und daher deutlich weniger als ein Jahr im Wasser gelegen haben könne. Der dafür von der BAW ins Feld geführte Wissenschaftler des BKA, Dr. Demmelmeier, darauf wies die Verteidigerin Lunnebach anschließend in einer Stellungnahme hin, sei zudem kein Fachmann für den Abbau von Stoffen unter Wasser. Gleichwohl blieb die BAW bei ihrer Auffassung, die Erstellung eines Arteninventars, also der Auflistung aller auf dem Paket zu identifizierenden Stoffe, Organismen und sonstigen Lebewesen zur Bestimmung der Liegedauer, sei nicht möglich.

Die Ablehnung des Antrags des Verteidigers König, den Geschäftsführer der Beiersdorf AG zu laden, um zu prüfen, um welches Klebeband es sich handele sowie darauf aufbauend zu klären, wie lange es im Wasser gelegen haben können, beantragte die BAW ebenfalls. Es sei nicht davon auszugehen, dass dadurch neue Erkenntnisse gewonnen werden könnten.

In einer Erwiderung der Rechtsanwältin Andrea Würdinger, die sich dem Antrag Königs anschloss, machte diese deutlich, dass der schon im Vorfeld dieser Kontroverse genannte Experte für Mikrobiologie, Jendrossek, nach einem Telefongespräch vollständig anderer Auffassung sei. Er könne die Bedenken, weder das Wasser des Seegrabens noch der Zustand des Klebebandes ließen sich nicht mehr so rekonstruieren, dass daraus beweissichere Schlussfolgerungen gezogen werden können, nicht anschliessen. Vielmehr sei dies möglich, ein einfacher Kautschuktest bedürfe nach seiner Auffassung zwei, die Prüfung eines Kautschukklebestreifens vier Wochen; auch das Wasser des Grabens ließe sich untersuchen. Die Bedingung sei jedoch, dass sämtliche Prüfungen zu dem Zeitpunkt durchgeführt werden, an dem das Paket angeblich im Graben versenkt worden sein soll, also im Sommer. Da er, Jendrossek, seinen Urlaub bereits geplant habe, sei daher, so die Verteidigung des Angeklagten G., Eile geboten. Die Verteidigung machte auch deutlich, dass, wenn ihrem Antrag nicht entsprochen werden sollte, sie entsprechende Gutachten selbst in Auftrag geben würden. Darüber hinaus soll als Sachverständiger der zuständige leitende Mitarbeiter der Obersten Naturschutzbehörde des Landes Berlin, Sch., geladen werden, weil dieser bekunden werde, dass es zu keinen wesentlichen Veränderungen am oder im Seegraben im Verlauf der letzten Jahre gekommen ist, die eine Vergleichbarkeit von proben ausschließen.

In der sich daran anschließenden Diskussion zwischen Kammergericht, Verteidigung und Bundesanwaltschaft wurde zumindest deutlich, dass die Behauptung der BAW, es handele sich in dieser mikrobiologischen Frage nicht um Laien, als widerlegt gelten darf, wenngleich das angelesene Wissen teils recht eloquent vorgetragen wurde. Schon aus dieser Perspektive erscheint es angebracht, weitere Fachleute zu laden, eine Auffassung, der sich offenbar auch die Vorsitzende Richterin nicht völlig verschlossen hat, denn sie hat das Klebeband aus der Asservatenkammer bereits an die Beiersdorf AG bzw. deren Tochter, die Tesa AG verschickt. Sollte, so Hennig, festgestellt werden, dass es sich um ein Produkt der Tesa AG handelt, werde sie auch die entsprechenden Gutachter der Firma laden.

In Hinblick auf die heutige Vernehmung der Zeugin der Verteidigung stellte die Rechtsanwältin Lunnebach abschließend den Antrag auf Einsicht in die Vernehmungsprotokolle, in denen Tarek Mousli die Zeugin W. als Mitglied der "RZ" und Täterin bei einem Anschlag in Berlin bezeichnet hatte. Diese Protokolle liegen bisher nicht vor. Damit, so die Verteidigung, bestünde auch der Verdacht auf Falschaussage, denn Mousli hatte behauptet, es habe außer den bereits bekannten polizeilichen Vernehmungen lediglich noch Vernehmungen beim Bundesamt für Verfassungsschutz gegeben.

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