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101. Prozesstag: 24. Oktober 2002
Archimedes' Prinzip und Walentas Campingmatratze
Ein Zeuge und zwei Sachverständige führten das bisherige
Verfahren einem ersten Höhepunkt entgegen, denn nach unzähligen
Verhandlungstagen zum Thema Sprengstoffpaket im Seegraben konnte
heute im Grunde der Nachweis geführt werden, dass der Kronzeuge
Tarek Mousli die Geschichte mit dem in einem Wassergraben bei Berlin-
Buch versenkten Plastikbeutel mit 24 Stangen des Sprengstoffs Gelamon
40 über weite Strecken erlogen hat.
Mit der Mistforke im Trüben fischen
Zunächst lauschten die Prozessbeteiligten interessiert den
Ausführungen des Finders des besagten Sprengstoffpakets, eines
jungen Beamten des Bundesgrenzschutzes (BGS), der mit seinem rund
30-köpfigen Einsatzzug im Jahr 1999 bis zu den Knien im Schlamm
des abgelassenen Seegrabens watete und dabei den blauen Plastiksack
besagten Inhalts auf einer Mistforke zutage förderte. Auf Nachfragen
bestätigte der junge Mann, dass er das Paket mit der Forke
nicht aufgespießt, sondern aufgehoben habe. Dabei hatte es
sich um die zweite Suche im Seegraben gehandelt, nachdem die Landespolizei
in einem kleineren, von Mousli benannten Abschnitt, wo er den Beutel
entsorgt haben wollte, nicht fündig geworden war. Der Zeuge
hatte das Paket im Schlick, also bei gefüllten Graben weit
unter der Wasseroberfläche, versunken vorgefunden. (Die Fundstelle
lag übrigens 190 Meter gegen die Fließrichtung des Grabens
von der Stelle. entfernt, die Mousli ursprünglich als Einwurfstelle
angegeben hatte)
Und er schwimmt doch
Zwei Sachverständige, zum einen ein BKA- Mann, zum anderen
ein Hochschulprofessor, lieferten im Gerichtssaal den Nachweis,
dass das Paket, wenn es nur annähernd den Abmessungen, dem
Gewicht und dem Volumen entsprochen hat, welche dokumentiert sind,
nicht im Graben versunken sein kann. Dabei geht es nach dem Satz
des Archimedes ("Ein Körper erfährt in einem Fluid
(d.h. Flüssigkeit oder Gas) eine Auftriebskraft, die gleich
der Masse des verdrängten Volumens ist") um das Verhältnis
von Gewicht und Volumen, anhand dessen man Sink- bzw. Schwimmfähigkeit
jedes Gegenstandes bestimmen kann. Ausgehend von Fotos des Fundstücks
war der BKA- Experte von einem annähernd zylindrischen Paket
mit einer Grundfläche von 15 Zentimeter Durchmesser und einer
Seitenlänge von 45 Zentimeter ausgegangen. Er leitete diese
Werte aus einer kriminaltechnischen Fotografie mit Maßband
ab. Daraus ergibt sich ein Volumen von 7.900 Kubikzentimeter. Das
bedeutet, dass bei einem Eigengewicht des Sprengstoffs von 4.800
Gramm, mindestens ein Drittel des Pakets hätte über die
Wasseroberfläche herausragen müssen, das Paket wäre
also geschwommen. Der Sachverständige hatte dann noch den Auftrag
erhalten, weitere Messungen für einen Grundflächendurchmesser
von 10, 11 und 12 Zentimeter vorzunehmen. Dabei errechnet sich ein
Grenzwert zwischen Schwimmen und Sinken heraus, der zwischen 11
und 12 Zentimeter liegt.
Lob des Euro- Geldes
Diese Ergebnisse konnte der emeritierte Physikprofessor der TU
Berlin, Hans-Eckhard Gumlich nur bestätigen. Er ging von denselben
Voraussetzungen aus wie der BKA- Experte und kam zu dem Ergebnis,
dass der Grenzwert genau bei 11,66 Zentimeter liegt, ab welchem
das Paket an der Oberfläche bleibt. Nun ging der Gelehrte daran,
die Mindestgröße des aus 24 zylindrischen Sprengstoffstangen
von je 2,2 Zentimeter Grundflächendurchmesser geschnürte
Sprengstoffpaket, wie es im Seegraben gefunden worden war, zu errechnen.
"Da war die neue Währung sehr hilfreich", erklärte
Gumlich, denn das 20-Cent-Stück des Euro- Geldes habe einen
Durchmesser von genau 2,2 Zentimeter: Bei seiner recht simplen Versuchsanordnung,
legt er also 24 20-Cent-Stücke auf ein Blatt Papier und schiebt
sie in alle möglichen Positionen, um unterschiedliche Flächengrößen
der verschiedenen Grundflächen sich ändernder Körper
zu errechnen. Die knappste Grundfläche erreicht er bei einem
(annähernd) Kreis, den die Sprengstoffstangen in der Realität
(gemäß den Fotos) auch tatsächlich bildeten. Da
Gumlich seine Berechnungen sogar noch ohne Umverpackung mit dem
Plastikbeutel vornahm, dürften die errechneten 12,2 Zentimeter
Grundflächendurchmesser dick im grünen Bereich liegen,
das Paket muss also an der Oberfläche geblieben sein.
So scheint sich der Verdacht zu bestätigen, dass Mousli das
Paket keineswegs, wie er behauptet, bereits 1995 (nach einem Einbruch
und Sprengstoffdiebstahl in seinem Keller) dort deponierte, sondern
erst 1999 zwischen seinen beiden Verhaftungen. Als er merkte, dass
das Paket oben blieb und nicht wie erhofft im trüben Wasser
versank, wird er es wohl noch einmal heraus gefischt und die Plastikhülle
beschädigt haben, damit es sich mit Wasser voll sauge und unter
gehe. Hätte er das jedoch bereits 1995 getan, wäre im
durchnässten Inneren des Plastikbeutels bei der Bergung 1999
von dem Sprengstoff wohl nicht mehr viel übrig gewesen. So
wurde das Paket ebenfalls 1999, also schon kurze Zeit nach dem wahrscheinlichen
Einwurf, nach zweimaligem Suchen durch Landespolizei und BGS, gefunden.
Die Knetbarkeit der Wahrheit
Da die Glaubwürdigkeit des Kronzeugen nun vollends beim Teufel
zu sein scheint, kochten die Emotionen im Gerichtssaal hoch. Bundesanwaltschaft
und Richter Alban loteten mit absurden Sprengstofftheorien die Knetbarkeit
der Wahrheit aus: Bundesanwalt Walenta bemühte seine Outdoor-
Erfahrungen, um vermittels des Zusammenrollens einer Campingmatratze
darzustellen, wie die formbaren Gelamon 40 Stangen beim Packen des
Pakets zusammengepresst worden sein könnten. Diese Fragestellung
beschäftigte auch den für seinen Scharfsinn berüchtigten
Richter Alban. Er sah die Ergebnisse der Sachverständigen durch
das Gedankenmodell eines maximal komprimierten Gesteinssprengstoff
Gelamon 40 relativiert, nach dem die 24 Stangen beim Verpacken derart
zusammengedrückt worden sein könnten, dass ihr Volumen
so verkleinert gewesen sei, dass das Paket doch versunken sein könnte.
Ein hitziger und sehr lauter Wortwechsel zwischen RAin Lunnebach
und Matthias B. auf der einen Seite und auf der anderen Seite den
Richtern Alban und Hantschke, der Matthias B. "geiferndes Geschrei"
vorwarf, mündete in einen Befangenheitsantrag gegen letztere.
Die beiden Sachverständigen mussten nachsitzen, um die aus
nahe liegenden Gründen Zweifelnden zufrieden zu stellen: Der
76-jährige Physiker sollte für Alban ausrechnen, wie groß
das Volumen des Sprengstoffs gewesen wäre, wenn es vollkommen
zusammengepresst und ohne Lufteinschlüsse, also quasi ein kompakte
Sprengstoffmasse, gewesen wäre - was angesichts der Fotos des
Sprengstofffundes völlig unsinnig ist; der BKA-Sachverständige
sollte für den in den Naturwissenschaften stets hervortretenden
Bundesanwalt Walenta errechnen, was wohl gewesen wäre, wenn
das Sprengstoffpaket drei Zentimeter kürzer, nämlich nur
42 Zentimeter lang gewesen wäre.
Beide Wissenschaftler kamen zu dem Ergebnis, dass das Paket unter
den hypothetischen Vorgaben versunken wäre. Vermutlich wird
der Kronzeuge entsprechend getrimmt werden, dass er bei seiner kommenden
Vernehmung zu Protokoll gibt, er habe den Sprengstoff mit einigen
meisterlichen Karatehieben auf die von Gericht und BAW gewünschte
Größe zusammengestaucht, damit er überhaupt untergegangen
sein kann.
See me, feel me, touch me, smell me, squeeze me,
hear me
Zu Beginn der Verhandlung hatte der BKA- Sprengstoffexperte noch
über Gelamon 40 und verschiedene Sprengstoffvergleiche im Jahr
1991 referiert. Damals habe er Sprengstoff aus dem versuchten Anschlag
auf die Staatskanzlei in Düsseldorf und den missglückten
Anschlag auf die Berliner Siegessäule vergleichend zu untersuchen
gehabt und festgestellt, dass es sich bei beidem um Gelamon 40 gehandelt
habe, was am spezifischen Geruch des Sprengöls, der leicht
knetbaren Konsistenz und der spezifischen rostroten Farbe des beigemischten
Eisenoxids sowie an der (bei den Proben fast identischen) chemischen
Zusammensetzung zu erkennen sei. Eine weitere Untersuchung 1991
bezog noch einen Depotfund aus Bielefeld- Sennestadt mit ein, welcher
mit hoher Wahrscheinlichkeit ebenfalls aus einem Sprengstoffraub
aus einem Bergwerk bei Salzhemmendorf 1987 stammen könnte.
Eine zeitliche Zuordnung der Sprengstofffunde mit Eisenoxid sei
deshalb recht einfach, da das Eisenoxid in Gelamon 40 nur bis 1987
beigemengt wurde, danach sei es durch den organischen Farbstoff
Sudan- Rot ersetzt worden, der eine deutlich andere, rötere
Färbung habe, so der Sachverständige.
Einige Widersprüche ließen doch auch Zweifel an der
Zuverlässigkeit des Sachverständigen aufkeimen, der in
seinem Gutachten zugestanden hatte, dass sich die beiden Farbstoffe
unter Lichteinfluss fast zur Ununterscheidbarkeit veränderten.
Auf die Fotos des Seegraben- Fundes angesprochen, meinte der BKA-
Gutachter, es handele sich aller Wahrscheinlichkeit nach der stärkeren
Braunfärbung wegen um die alte Gelamon 40 Serie. Es stellte
sich später im Prozess heraus, dass der Sachverständige
doch nicht 100-prozentig firm war, was den besagten Sprengstoff
angeht. Denn er meinte, die im Seegrabenpaket gefundene Umverpackung
der Sprengstoffstangen aus weißem Plastik mit einem grünummantelten
Drahtverschluss sei zu dilettantisch für eine Originalverpackung.
Im Original sei Gelamon 40, Produkt zweier Herstellungsorte der
Ex-DDR, in Kartons ausgeliefert worden. Hier musste er sich von
RAin Lunnebach eines besseren belehren lassen: zu DDR-Zeiten hing
man wohl doch der dilettantischen Verpackung an.
Obwohl die wissenschaftlichen Gutachten das Ende der Glaubwürdigkeit
des Kronzeugen bedeuten müssten, geht es am morgigen Freitag,
25. Oktober, wie gewohnt und zum selben Thema um 9.15 Uhr weiter.
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