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45. Prozesstag: 20. Dezember 2001

Erinnerungslücken und Schweigen

Der heutige Verhandlungstag fand vor zahlreichem Publikum statt, darunter auch eine Reihe internationaler Prozessbeobachter. Eine relativ aufgeräumte Stimmung herrschte heute im Gericht wohl auch auf Grund der gestrigen Knastkundgebung, die zumindest von einem Teil der Angeklagten, wie heute zu erfahren war, verfolgt werden konnte. Anlass der Kundegebung war die Inhaftierung von drei der fünf Angeklagten vor genau zwei Jahren. Aus diesem Grund fand in der Mittagspause auch eine Pressekonferenz der internationalen Prozessbeobachter statt.

Am dritten Vernehmungstag von Ralf Trede, Ermittlungsführer im Bundeskriminalamt (BKA) in Sachen Revolutionäre Zellen wurden vier Themenkomplexe erörtert:

  1. Am 18./19.1.2000 wurde Tarek Mousli im Rahmen der Karry- Ermittlungen vernommen. Im Rahmen dieser Vernehmungen ergab sich die Arbeitshypothese, dass Matthias B. das gesuchte RZ-Mitglied "Heiner" sein könnte. Am 27.1.2000 soll Tarek Mousli Matthias B. hundertprozentig identifiziert haben. Wie ist es genau zu dieser Identifizierung gekommen?
  2. Am 20.8.1999 wurde vom BKA - von Kriminaloberkommissar (KOK) Trede unterzeichnet - ein Sachstandbericht verfasst. Dieser diente dem Bundesgerichtshof (BGH) am 27.8.1999 zur Anordnung weiterer Telefonüberwachungen. Der dem Gericht und der Verteidigung vorliegende Sachstandbericht vom 20.8. liegt in zwei unterschiedlichen Versionen vor. Beide wurden eindeutig nach dem 20.8. geschrieben. Wo ist das Original?
  • Die Kassetten, die die Telefonüberwachungen dokumentieren, sind dem Gericht nicht vollständig zur Verfügung gestellt worden. Wurden sie vom BKA vergessen oder von KOK Trede absichtlich zurückgehalten.?
  • Tarek Mousli ist observiert worden. Weder dem Gericht noch der Verteidigung liegen Berichte dazu vor. Wo sind sie?

zu 1) Wer ist "Heiner"?

Befragt durch die Vorsitzende Richterin Hennig, gab der Zeuge Trede heute zunächst an, dass Tarek Mousli "Heiner" mit "hundertprozentiger Sicherheit" bei einer Lichtbildvorlage am 27.1.2000 als Matthias B. erkannt habe. Weiter sagte er aus, sein damaliger Kollege Schulzke hätte die entsprechende Vernehmung durchgeführt, er, Trede, habe protokolliert. Ihm sei jedoch noch gegenwärtig, dass das Ziel der Vernehmung in einer "möglichst schnellen Identifizierung von 'Heiner'" bestanden habe. Wie schon bei der Befragung von Schulzke (vgl. Prozessbericht vom 14. Verhandlungstag), konnte jedoch der Ablauf der Vernehmung von Mousli auf Grund der großen Erinnerungslücken des Zeugen Trede nur schrittweise und insgesamt sehr undeutlich rekonstruiert werden.

Die Lichtbildmappe, die Mousli vorgelegt worden sei, habe aus 51 Bildern bestanden. Die Mappe sei nach dem 19.1.2000 zusammengestellt worden. Am 20.1. seien Mousli die ersten 30 Bilder aus der Mappe vorgelegt worden. Dabei hätte er zu verschiedenen Personen Angaben gemacht.

Das Bild von Matthias B. sei auf Grund einer Arbeitshypothese, die aus einer Vernehmung des Zeugen durch den Bundesanwalt Morré in einem anderen Zusammenhang basierte (vgl. Prozessbericht vom 14. Verhandlungstag), nachträglich als Bild Nr. 36 in die Mappe eingefügt worden. Am 27.1. wurden Mousli die restlichen Bilder (Photo 31-51) vorgelegt. Dabei war sich der Zeuge heute zumindest sicher, dass alle Bilder numeriert gewesen seien und der Reihe nach vorgelegt wurden. Laut Protokoll war dem nicht so. Die Vernehmung wurde nach 35 Minuten unterbrochen. "Warum?", fragte die Vorsitzende Richterin - aber selbst sie erhielt keine Antwort.

Die folgenden 45 Minuten der damaligen Vernehmung von Mousli, wurden mit einem separaten Protokoll als Untervernehmung geführt. Zunächst wurden mit Mousli - ebenfalls laut Protokoll - noch einmal alle bis dato vorliegenden Erkenntnisse zur Person mit dem Decknamen "Heiner" erörtert. Dann wurden Mousli nacheinander noch einmal die Photos Nr. 31-36 vorgelegt, bei denen es sich um Bilder von zwei Frauen, zwei guten männlichen Bekannten von Mousli und Matthias B. handelte. Mousli habe - daran konnte sich der Zeuge dann auch wieder erinnern - Matthias B. als "Heiner" "ziemlich sicher" erkannt. Danach wurde die Untervernehmung beendet und mit der ursprünglichen Befragung fortgefahren.

Die entscheidende Frage bei dieser ungewöhnlichen Art der Identifizierung sei, so Rechtsanwältin Lunnebach, ob dem Zeugen Mousli durch die Unterbrechung und die zusammenfassenden Informationen zu Heiner bei der Vorlage des Lichtbildes von Matthias B. klar war, dass "er jetzt 'Heiner' identifizieren soll". Wie bei den meisten Fragen konnte sich Trede auch hier nicht mehr erinnern, meinte aber auch, dass dies durchaus möglich sei.

zu 2) Wo ist der Originalbericht vom 20.8.99?

In mühsamer Puzzle-Arbeit versuchte die Verteidigung von Harald G. herauszubekommen, wie und wann ein umfangreicher Sachstandbericht, datiert vom 20.8.1999, angefertigt worden ist. Laut Trede handelte es sich dabei um eine Zusammenfassung aller Erkenntnisse bis zum 20.8.1999. Wer die einzelnen Komponenten zugeliefert hat, daran konnte er sich nicht erinnern. Klar ist jedoch, dass der Bericht "freigegebene Informationen des Verfassungsschutz" aus alten BKA-Aktenbeständen und Auswertungen von Materialien des Ministerium für Staatssicherheit (Gauck-Behörde) beinhaltet. Er, Trede, habe die Zusammenfassung geschrieben, ausgedruckt, unterschrieben und dann seinem Kollegen Schultzke vorgelegt.

Von diesem Sachstandbericht gibt es zwei unterschiedliche Versionen in den Verfahrensakten: eine kürzere und eine längere.

Trede konnte nicht sagen, warum gekürzt wurde, wann gekürzt wurde, auf wessen Veranlassung und mit welcher Intention. Der kürzere Bericht (17 Seiten weniger!) kam zu den Akten. Über den Verbleib des längeren, gab er an, nichts zu wissen. In beiden Fassungen gäbe es aber keine falschen Fakten. Vielleicht habe er nur vergessen auf dem Deckblatt ein neues Datum einzugeben, als er - auf Anordnung von Schultzke - den Bericht gekürzt habe.

Durch Vergleich der Vernehmungsprotokolle Tarek Mouslis mit den Sachstandberichten (kurz und lang) ergab sich, dass beide nicht am 20.8. geschrieben worden sein konnten: Der längere enthält Aussagen aus Mousli-Vernehmungen vom 7.10.1999. Der kürzere enthält plötzlich sämtliche Anschlüsse der Telefonüberwachung, die der BGH dann am 28.8. angeordnet hat - allerdings auch eine Auskunft von E-Plus zur Telefonüberwachung vom 8.9.99. Erklärungen wie es dazu gekommen ist, konnte Trede nicht geben.

Der Verteidigung stellt sich insofern die Frage, ob die Vernehmungsprotokolle oder der Sachstandbericht falsch sei bzw. ob es noch eine (dritte) Original-Version dieses Sachstandsberichtes gibt. Trede sagte in diesem Zusammenhang nur, er habe nichts zurückgehalten. Die Verteidigung beantragte, dass Original vorzulegen.

zu 3) Warum wurden die Telefonüberwachungsbänder zurückgehalten?

In den Vernehmungen in der letzten Woche war bereits festgestellt worden, dass Trede an seinem neuen Dienstort Bogota von Bundesstaatsanwalt Bruns angerufen worden sei - und quasi vorgewarnt wurde, dass man ihn zu den Kassetten aus der Telefonüberwachungen nach Mai 1999 befragen werde.

In der letzten Woche hatte Trede ausgesagt, dass die Übersendung der Kassetten von irgendeinem Kollegen im BKA wohl vergessen worden sei - durch Umstrukturierungen herrsche Chaos dort.

Die Verteidigung konfrontierte ihn nun mit einem Schreiben vom 18.4.2001, das Trede selbst verfaßt hatte. Obwohl bereits in Bogota für "ein anderes Ministerium" tätig, kehrte er im April/Mai 2001 ins BKA zurück und arbeitete dort an den Akten zum RZ-Fall. Das zitierte Schreiben war die Antwort von Trede auf eine Anfrage des Gerichts, der über die BAW an das BKA geleitet worden war, ob es nach Mai 1999 weitere Telefonüberwachungen gegen Mousli gegeben habe und wenn ja, wo die entsprechenden Kassetten seien. Obwohl Trede - wie er heute zugab - damals bekannt war, dass es nach Mai 1999 weitere Telefonüberwachungen gegen Mousli gab ("ja, natürlich"), führte er in dem Schreiben nur die schon bekannten früheren Maßnahmen auf.

zu 4) Wo sind die Observationsberichte Tarek Mousli?

Ein höchst unterhaltsames Lehrstück in Sachen Ermittlungstätigkeit des BKA.

Frage: Wurde Tarek Mousli observiert?

Antwort: Daran kann ich mich nicht erinnern.

Frage: Werden bei Observationen grundsätzlich Berichte angefertigt?

Antwort: langes Schweigen.

Auf Nachfrage: Observationen, die zu einem Ergebnis führen, werden sicherlich auch schriftlich festgehalten.

Frage: Haben sie Observationen durchgeführt?

Antwort: Ich weiß nicht, ob das von meiner Aussagegenehmigung abgedeckt ist

Kommentar der Vorsitzenden Richterin: Das hat damit nichts zu tun

Antwort: Unser Team hat nicht observiert

Frage: Wer war ihr Team

Antwort: Schulzke, Pankock, Barbian und ich.

Frage: Wer hat observiert?

Antwort: Kollegen aus Berlin, vom BKA, die "Sicherungsgruppe"

Frage: Haben sie Berichte der Sicherungsgruppe gesehen und wo haben sie sie abgeheftet. Oder haben sie die zurückgehalten?

Antwort: Ich weiß nicht, ob Berichte gefertigt wurden.

Frage: Welche Ergebnisse wurden aus Observationen gewonnen?

Antwort: Ich kann mich nicht erinnern.

Diverses anderes kam auch zur Sprache

Ebenso wenig auskunftsfreudig wie bei den zuvor behandelten Fragen, zeigte sich der Zeuge auch bei anderen Themen. So etwa als ihm die Verteidigung ein Schreiben von E-Plus aus den Akten vorhielt, das mit der Kennzeichnung "G-10-Report" versehen war. "Sehe ich zum ersten Mal", so seine lakonische Antwort. Immerhin konnte er Auskunft geben, was es mit dem G-10-Gesetzt auf sich hat, dabei handelt es sich nämlich um Telefonüberwachungen durch Geheimdienste. Die Frage, ob ihm bekannt sei, dass solche Überwachungen Mouslis durch Dienste durchgeführt wurden, verneinte Trede.

Ein weiterer Fragenkomplex betraf den ersten Anwalt von Tarek Mousli, Frank Assner. Erinnerungen hatte der Zeuge allerdings nicht daran, dass Rechtsanwalt Assner durch einen Kollegen Grüße an Mousli von "Anton" ausgerichtet wurden. Er wusste jedoch zu berichten, dass Assner das Ansinnen dieses Kollegen mit Mousli in Kontakt zu treten, "schroff" zurückgewiesen habe. Assner und Mousli hätten sich über diesen Kontaktversuch aufgeregt. Warum, dazu konnte Trede keine Angaben machen.

Der Zeuge wurde vereidigt, allerdings noch nicht entlassen. Im Anschluss gab die Verteidigung von Harald G. eine Erklärung zum "Aussageverhalten des Zeugen KOK Trede in der Hauptverhandlung am 13.12.01 und 14.12.01" ab. Der Zeuge, so die Verteidigung, spiele "immer wieder Erinnerungslücken vor". Anhand einer Reihe von Details untermauerte die Verteidigung den Eindruck, dass es sich dabei um "bewußt unvollständige Aussagen" handele.

In einem weiteren Antrag forderte die Verteidigung von Harald G. ein speziellen Kassettenrekorder zur Verfügung zu stellen, der beim Abspielen der Bänder die Originalaufnahmezeit der einzelnen Gespräche anzeigt. Die vorliegenden Bänder beinhalten teilweise Gespräche, die zusammen kopiert worden sind. Ohne Anzeige des Zeitcodes läßt sich nicht nachvollziehen, wann und in welcher Reihenfolge die Gespräche aufgenommen wurde.

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