www.freilassung.de
Zurück zur Startseite  

Übersicht

Aktuelle Meldung
Meldungen
Berichte
Vorschau
Hintergrund

 

Mailingliste
Mail
Suche

53. Prozesstag: 18. Januar 2002:

Kronzeuge bekommt Konkurrenz

Mit dem 53. Prozesstag ist nichts mehr wie zuvor. Mit der Einlassung zur Sache von Rudolf Schindler stehen nun zwei Versionen über die Vorgänge rund um die RZ im Berlin der achtziger Jahre im Raum. Erwartungsgemäß decken sich die Schilderungen Schindlers nicht mit den Erzählungen des Kronzeugen. Interessant, dass das Gericht und die BAW trotzdem den Einlassungen des Frankfurters Glaubwürdigkeit beschieden.

"Es liegt was in der Luft" - diese Einschätzung war vor Beginn des heutigen Prozesstages mehrere Male auf den Gängen des Moabiter Kriminalgerichts zu vernehmen. Von einer Einlassung, gar von einem Geständnis wurde gemunkelt. So überraschte es auch nicht, dass die Zuschauer- und Pressebänke heute gut besetzt waren. Nach einstündiger Verspätung wurde das Geheimnis gelüftet. Die Vorsitzende Richterin Gisela Hennig eröffnete die heutige Hauptverhandlung mit einer Erklärung, in der sie die Verfahrensbeteiligten über Gespräche zwischen dem Senat, der Verteidigung von Rudolf Schindler und der BAW unterrichtete. Gegenstand dieser Gespräche war, "wie im Falle einer geständigen bzw. teilgeständigen Einlassung zu verfahren sei". Ab November seien in diese Gespräche Mitglieder des Senats einbezogen worden. Es habe insgesamt drei Treffen gegeben, die am 29. November und 6. Dezember 2001 sowie am 10. Januar 2002 stattgefunden haben. Am Ende dieser Gespräche stand das Versprechen des Senats, dass er im Falle einer Einlassung folgendes garantiere: eine Strafobergrenze für Schindler von drei Jahren und neun Monate; eine mögliche Reststrafe wird zur Bewährung ausgesetzt; auf Grund der Einlassung sieht der Senat die "Fluchtgefahr" gemindert, weswegen die U-Haft aufgehoben wird.

Dass die Einlassung von Schindler Teil eines Abkommens zwischen seiner Verteidigung, dem Senat und der BAW war, konnte wenig überraschend. Einigermaßen überraschend war dann allerdings doch, dass bereits am 29. November erste "Vorgespräche" stattgefunden hatten. Auf die Nachfrage von Rechtsanwältin Würdinger, ab wann die Eckpunkte der Vereinbarung zwischen Senat, BAW und der Verteidigung von Rudolf Schindler festgelegt worden waren, erhielt sie von der Vorsitzenden Richterin die Antwort, die Vereinbarung sei am 6. Dezember getroffen worden. Die Verteidigung von Harald G. nahm diese freimütige Äußerung der Vorsitzenden Richterin zum Anlass, um nach einstündiger Unterbrechung, einen Befangenheitsantrag gegen das Gericht zu verlesen. Die Befangenheit des Senats, so die Argumentation, ergebe sich daraus, dass die Vereinbarung, die wesentliche Ergebnisse der laufenden Hauptverhandlung vorwegnehme, am 6. Dezember ohne Wissen aller Verfahrensbeteiligten getroffen worden sei. Der Senat habe gegenüber allen Beteiligten der Hauptverhandlung jedoch eine Informationspflicht, der er unverzüglich und zeitnah nachkommen müsse, was aber nicht geschehen sei. Aus diesem Grunde lehne die Verteidigung im Namen ihres Mandanten den Senat aus Besorgnis der Befangenheit ab.

Dieser Antrag war Auslöser eines heftigen Disputs innerhalb der Verteidigung. Obwohl er sich eindeutig an den Senat richtete und an keiner Stelle den Inhalt der Vereinbarung zwischen der Verteidigung Schindlers, der BAW und dem Senat betraf, sahen sich die Rechtsanwälte Euler, Becker und Eisenberg veranlasst, die Entscheidung von Rudolf Schindler und die Art und Wiese seiner Umsetzung zu verteidigen. Erst die Entscheidung des Senats, die Hauptverhandlung mit der Verlesung der Einlassung von Rudolf Schindler fortzusetzen, beendete diese Auseinandersetzung.

Es war Rechtsanwalt Euler, der nun die nächsten 45 Minuten die Aufmerksamkeit auf sich zog. Mit ruhiger Stimme verlas er die Erklärung seines Mandanten. Im ersten Teil machte Schindler Angaben zu seinem Lebenslauf, danach äußerte er sich zu seiner Motivation für diese Einlassung: "Ich habe mich zu einer Aussage entschlossen, weil ich zu der Überzeugung gekommen bin, dass ich nur so aufzeigen kann, wo und in welchem Umfang die Aussagen von Tarek Mousli falsch sind. Ich werde mich ausschließlich zu meiner Person und, mit ihrem Einverständnis, zu meiner Frau Sabine Eckle äußern." Gleichzeitig stellte er klar: "Diese Beschränkung bedeutet in keinem Fall eine direkte oder indirekte Bestätigung der Behauptungen von Tarek Mouslis über andere Personen. Diese Beschränkung bedeutet allein, dass ich nur eine Erklärung in eigener Sache verantworten kann."

Im weiteren belastete er sich selbst (Beteiligung an den Anschlägen auf Hollenberg, Korbmacher und die ZSA), erhob aber zugleich schwere Vorwürfe gegen den Kronzeugen. So erklärte er, er habe sich zusammen mit Sabine Eckle im August 1978 ins Ausland begeben, nachdem sie bemerkten hätten, "dass wir polizeilich observiert wurden". 1986 und 1987 sei er dann wieder in Berlin "politisch aktiv" geworden. Danach haben er und seine Ehefrau sich wieder aus der politischen Arbeit zurückgezogen: "Wir hatten seit längerer Zeit das Gefühl, dass die RZ politisch wie praktisch in der Luft hingen. Die Verankerung in einem sozialrevolutionären Milieu war seit langem nicht mehr gegeben, weil dieses Milieu zusehends ausgetrocknet war, und von einer kulturrevolutionären Bewegung konnte im Grund schon seit Mitte der siebziger Jahre nicht mehr die Rede sein. Wir waren der Meinung, man könne nicht gut als Zuspitzung einer gesellschaftlichen Bewegung agieren, die ihre Substanz verloren hatte und seit langem nicht mehr virulent war. Die Flüchtlingskampagne war insofern eine Ausnahme, als sie nicht ein sozialrevolutionäres Projekt im eigentlichen Sinne darstellte, sondern vielmehr eine klassische Verteidigungs- und Schutzlinie für verfolgte und bedrohte Menschen aufzubauen versuchte, die sich selbst nicht helfen konnten. Sie war eine Bemühung um praktische Solidarität und schützende Parteinahme. Deshalb hatten wir an der Flüchtlingskampagne mitarbeiten wollen. Mit ihrem Ende fielen für uns die Gründe für eine weitere Arbeit in der RZ weg."

Entschieden widersprach er der Darstellung Mouslis zu seiner Rolle in den RZ: "Ich war kein Gründungsmitglied der RZ und habe dies Tarek Mousli gegenüber niemals behauptet. Ich weiß bis heute nicht, wer die RZ gründete, denn die RZ war keine Schwatzbude, sondern wie Bundesanwalt Griesbaum hier in der Hauptverhandlung richtig feststellte, 'eine hochklandestine Vereinigung mit einem ausgefeilten Sicherheitskonzept', in der über biografische Daten, Tatbeteiligung und Tatausführung striktes Stillschweigen gewahrt wurde. Deshalb wussten RZ-Mitglieder selbst nach längerer Zugehörigkeit nichts voneinander, was über ihre unmittelbare Zusammenarbeit hinausging."

Was Schindler über die Struktur der RZ berichtete, deckt sich ebenso wenig mit den Behauptungen des Kronzeugen, wie seine Darstellung über die Rolle Mouslis in den RZ: "Die Angaben Tarek Mouslis zur Zusammensetzung der Gruppen und dem Modus ihrer Zusammenarbeit sind komplett falsch. Während die Absicht hinter den meisten seiner Lügen entschlüsselbar bleibt, ist mir ein Rätsel, warum er Leute als Mitglieder angibt, die keine waren, und andere dafür rauslässt." Mousli sei - entgegen seiner eigenen Version- beim Sprengstoffanschlag auf die Zentrale Sozialhilfestelle für Asylbewerber (ZSA) im Februar 1987 der Haupttäter gewesen: "Die ZSA war von Anfang an Tarek Mouslis Projekt." Auch die Durchführung der Knieschussattentate auf den damaligen Chef der Berliner Ausländerbehörde Harald Hollenberg 1986 und den Asylrichter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Günter Korbmacher 1987 stellte Schindler anders dar als Mousli. Entschieden widersprach er zudem der Selbstdarstellung Mouslis als angeblich unscheinbarem Mitläufer: "Tarek Mousli war alles andere als 'schwach' oder 'weich', weder in seinen politischen Ansichten noch in seiner Praxis."

Immer wieder kam Schindler in seiner Erklärung auf das Aussageverhalten des Kronzeugen zu sprechen. Auf die Behauptung Mouslis, der ihm eine führende Rolle in der RZ angedichtet hat, entgegnete er etwa: "Tarek Mousli war kein Rädelsführer, genauso wenig wie ich ein Rädelsführer war. Um den falschen Vorwurf loszuwerden, reichte er ihn mit seinen Aussagen wider besseren Wissens an mich weiter und versucht noch heute, mich mit allem und jedem in Verbindung zu bringen. Die Wahl wird wohl deshalb auf mich gefallen sein, weil er davon ausgehen konnte, dass ich als Illegaler ihn naturgemäß kaum mit Alibis widerlegen kann, und weil ich bis zum Zeitpunkt meiner Aussagen weder der falschen Beschuldigungen von Hans-Joachim Klein in Untersuchungshaft in dem Frankfurter OPEC-Verfahren war. Ich bin es allerdings langsam leid, als Passepartout für sogenannte Kronzeugen herhalten zu müssen."

Zudem stellte Schindler fest: "Auch bei dem von ihm selbst Erlebten sagt er in wesentlichen Punkten nicht die Wahrheit." Das Lügen des Kronzeugen "gehört meines Erachtens zu seinem Aussagesystem der falschen kleinen Eigenbelastungen, um dafür seine eigentlichen großen Tatbeteiligungen anderen anzulasten."

Nachdem die Einlassung verlesen war, beantragte Rechtsanwalt Euler die Außervollzugsetzung des Haftbefehls gegen seinen Mandanten. Im Anschluss daran erklärte Rechtsanwalt Eisenberg, dass seine Mandantin Sabine Eckle die sie betreffenden Angaben in der Einlassung ihres Ehemannes bestätige. Auch er beantragte die Aufhebung des Haftbefehls und bezog sich dabei auf die Absprache mit dem Senat, die vor Beginn der heutigen Hauptverhandlung getroffen worden sei.

Für die BAW erklärte Bundesanwalt Bruns, auch sie halte die Einlassung Schindlers für glaubwürdig. Er fügte hinzu, dass er die Einlassung als die Bereitschaft der Angeklagten bewerte, sich ihrer Vergangenheit zu stellen. Als hätte Schindler nicht vor wenigen Minuten an vielen Punkten die Behauptungen des Kronzeugen widerlegt bzw. zumindest schwer erschüttert, versteifte er sich dann aber noch zu folgender "Schlussfolgerung": "Es kann nicht wegdiskutiert werden, dass Schindler die Angaben des Kronzeugen bestätigte." Warum sich die BAW einerseits der Einlassung Schindler anschließen konnte, gleichzeitig aber erklärte, sie sähe dadurch ihren Kronzeugen nicht erschüttert, wird in den weiteren Prozesstagen zu klären sein.

"Die Einlassung reiht sich in das Bild der Beweisaufnahme ein", so Rechtsanwältin Lunnebach in einer kurzen Stellungnahme zu Schindlers Einlassung. "Aus unserer Sicht ist deutlich geworden, dass der Kronzeuge lügt." Die Angaben Schindlers seien ein erneuter Beleg, dass es keine Grundlage für die U-Haft der übrigen Angeklagten gibt.

Suche     Mail
http://www.freilassung.de/prozess/ticker/berichte/180102.htm