Übersicht
Aktuelle Meldung
Meldungen
Berichte
Vorschau
Hintergrund
Mailingliste
Mail
Suche
Übersicht:
Erklärungen BGH/GBA
|
VG 34 A 41.03
VERWALTUNGSGERICHT BERLIN
BESCHLUSS
In der Verwaltungsstreitsache
des Herrn Harald Glöde, [...] Berlin,
Antragsteller,
Verfahrensbevollmächtigte:
Rechtsanwältinnen Undine Weyers, Sonja Schlecht, Silke Studzinsky,
Christina Clemm, Barbara Wessel, Anja Weidner und Regina Götz.
Kottbusser Damm 72, 10967 Berlin,
gegen
die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch das
Bundesministerium des Innern, Alt- Moabit 101 D, 10559 Berlin,
Antragsgegnerin,
hat die 34. Kammer des Verwaltungsgerichts Berlin durch den Vorsitzenden
Richter am Verwaltungsgericht Gau, den Richter am Verwaltungsgericht
Marticke und die Richterin am Verwaltungsgericht Sanchez de la Cerda
am 17. März 2003 beschlossen:
Es wird festgestellt, dass die Klage
gegen die Sperrerklärung der Antragsgegnerin vom 2. Juli 2002
in der Fassung der Ergänzung vom 19. Dezember 2002 Aussicht
auf Erfolg hat.
Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
Die Kosten des Verfahrens tragen die Beteiligten je zur Hälfte.
Der Wert des Verfahrensgegenstandes wird auf 4.000,- - Euro festgesetzt.
In dem Umfang, in dem die Antragsgegnerin die Kosten des Verfahrens
zu tragen hat, wird dem Antragsteller Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung
unter Beiordnung von Rechtsanwältin Silke Studzinksy bewilligt.
Gründe
I.
Der Antragsteller ist einer der Angeklagten in dem Strafverfahren
(1) 2 StE 11/00 (4/00) vor dem Kammergericht Berlin. Ihm wird die
Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung gemäß
§ 129a StGB vorgeworfen. Der Antragsteller soll als Mitglied der
Revolutionären Zellen (RZ) unter anderem an Sprengstoffanschlägen
auf die Zentrale Sozialhilfestelle für Asylbewerber am 5./6.
Februar 1987 und auf die Siegessäule am 14./15. Januar 1991
beteiligt gewesen sein. Hauptbelastungszeuge ist das frühere
Mitglied der Revolutionären Zellen Tarek Mousli. Der Zeuge
Mousli hat den Ermitttungsbehörden gegenüber umfassend
zur Sache ausgesagt. Daneben hat auch das Bundesamt für Verfassungsschutz
mehrere Gespräche mit dem Zeugen Mousli geführt. Mit Schreiben
vom 11. Januar 2002 hat das Bundesamt für Verfassungsschutz
dem Strafsenat 197 Blatt Gesprächs- Protokolle unter Schwärzung
weiter Teile der Fragen und Antworten vorgelegt. Eine Gegenvorstellung
der Vorsitzenden des Strafsenats vom 13, März 2002 blieb erfolglos.
Mit Schreiben vom 28. März 2002 lehnte das Bundesamt für
Verfassungsschutz die Vorlage ungeschwärzter Protokoll- Abschriften
endgültig und unter Bezugnahme auf eine durch das Bundesministerium
des Innern vorzulegende Sperrerklärung nach § 96 StPO ab. Unter
dem 2. Juli 2002 gab das Bundesministerium des Innern folgende Erklärung
ab:
In der o.g. Strafsache erkläre ich aufgrund meiner persönlich
gewonnenen Erkenntnis und Überzeugung, dass das Bekanntwerden
der geschwärzten Teile der Niederschriften über die mit
Tarek Mousli geführten Gespräche des Bundesamtes für
Verfassungsschutz (BN) dem Wohl des Bundes Nachteile im Sinne des
§ 96 StPO bereiten würde.
Dagegen richtet sich die sm 27. November 2002 erhobene Klage des
Antragstellers (VG 34 A 42.03), mit der er beantragt, die Beklagte
zu verpflichten, die mit Bescheid vom 2. Juli 2002 - Geschäftszeichen
1S 4- 614300- R/24 - erteilte Sperrerklärung aufzuheben und
die Niederschriften über sämtliche, jedoch mindestens
sechs mit Tarek Mousli zwischen dem 17. April 2000 und dem 7. September
2000 geführten Gespräche des Bundesamtes für Verfassungsschutz
ungeschwärzt an den 1. Senat des Kammergerichts herauszugeben.
Mit Schreiben vom 19. Dezember 2002 hat das Bundesministerium des
Innern unter Bezugnahme auf eine weitere Gegenvorstellung der Vorsitzenden
des Strafsenats vom 13. Dezember 2002 eine Ergänzung der Erklärung
vom 2. Juli 2002 vorgenommen. Dem Strafsenat wurde mitgeteilt, dass
eine nochmalige Oberprüfung der Protokoll- Schwärzungen
vorgenommen worden sei. Dies habe zu mehreren Einschätzungsänderungen
geführt, Es wurden dem Senat sechs Blatt Protokoll- Abschriften
mit vormals geschwärzten, nunmehr aber offengelegten Gesprächspassagen
vorgelegt.
Der Antragsteller ist der Auffassung, dass die Begründung
der Sperrerklärung den in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
und des Bundesverwaltungsgerichts entwickelten Anforderungen an
Sperrerklärungen i.S.d. § 96 StPO nicht gerecht wird.
Der Antragsteller beantragt,
die Antragsgegnerin im Wege einstweiliger Anordnung zu verpflichten,
die mit Bescheid vom 2. Juli 2002 - Geschäftszeichen 1S 4-
614300- R/24 - erteilte Sperrerklärung aufzuheben und die Niederschriften
Ober sämtliche. jedoch mindestens sechs mit Tarek Mousli zwischen
dem 17. April 2000 und dem 7 September 2000 geführten Gespräche
des Bundesamtes für Verfassungsschutz ungeschwärzt an
den 1. Senat des Kammergerichts herauszugeben.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen
und verteidigt die angefochtene Erklärung.
II
Der Antrag ist zulässig und hat in der Sache teilweise Erfolg.
Der Verwaltungsrechtsweg ist gegeben, denn die vorliegende Sperrerklärung
des Bundesministeriums des Innern nach § 96 StPO ist keine - vor
den ordentlichen Gerichten anzugreifende - Anordnung. Verfügung
oder sonstige Maßnahme auf dem Gebiet der Strafrechtspflege
i.S.v. § 23 Abs. 1 Satz 1 EGGVG. Dass gegen Sperrerklärungen
i.S.d. 96 StPO nur auf dem Verwaltungsrechtsweg vorgegangen werden
kann, ist jedenfalls für die Fälle geklärt, in denen
es nicht um Sperrerklärungen eines Bundes- oder Landesjustizministers
geht (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. April 1984 - 1 C 10.87 - , BVerwGE
69,192; NaCK, KK- StPO, § 96 Rn. 35 m.w.N.).
Der Antrag nach § 123 VwGO ist hier auch die statthafte Antragsart.
Vorläufiger Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO kommt - unabhängig
von der Frage der zutreffenden Klageart in der Hauptsache - nicht
in Betracht. da es dem Antragsteller in der Sache um die Erweiterung
seiner Rechtsstellung und nicht um die Abwehr eines Eingriffs in
eine bereits bestehende rechtlich geschützte Position geht
(vgl. Kopp, VwGO, § 80 Rn. 40 m.w.N.).
Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht eine einstweilige
Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug
auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn diese Regelung
zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Erforderlich
sind danach zum einen das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d.
h. die Notwendigkeit einer Eilentscheidung, und zum anderen das
Bestehen eines Anordnungsanspruchs, d. h. eines Anspruchs auf die
begehrte Maßnahme.
Dem Wesen und Zweck der einstweiligen Anordnung entsprechend kann
das Gericht grundsätzlich nur vorläufige Regelungen treffen
und dem Antragsteller nicht schon in vollem Umfang, wenn auch nur
auf beschränkte Zeit und unter Vorbehalt einer Entscheidung
in der Hauptsache, das gewähren, was er nur in einem Hauptsacheprozess
erreichen könnte. Im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG gilt das
grundsätzliche Verbot einer Vorwegnahme der Hauptsacheentscheidung
jedoch nicht, wenn eine bestimmte Regelung zur Gewährung eines
effektiven Rechtsschutzes schlechterdings notwendig ist, d. h. wenn
die sonst zu erwartenden Nachteile für den Antragsteller unzumutbar
und im Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären und
wenn ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg
auch in der Hauptsache spricht (BVerwG. Beschluss vom 13. August
1999 - 2 VR 1/99 - NJW 2000, 160).
Nach diesen Maßstäben kommt im vorliegenden Verfahren
nach § 123 VwGO eine Aufhebung der angegriffenen Sperrerklärung
und eine Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Vorlage ungeschwärzter
Protokoll- Abschriften nicht in Betracht:
Hinsichtlich der Aufhebung der Sperrerklärung fehlt es an
einem Anordnungsgrund. Die Vorwegnahme der Hauptsache durch Aufhebung
der Sperrerklärung ist zur Wahrung der Rechte des Antragstellers
nicht erforderlich. Um seinem Anspruch auf ein rechtsstaatliches.
faires Strafverfahren gerecht zu werden, ist es ausreichend, aber
auch erforderlich, die Feststellung zu treffen, dass die auf Aufhebung
der Sperrerklärung gerichtete Hauptsacheklage des Antragstellers
Aussicht auf Erfolg hat. Der Antragsteller wird damit in die Lage
versetzt, eine Beendigung des Strafprozesses vor einer Entscheidung
über seinen eventuellen Anspruch auf Herausgabe ungeschwärzter
Protokoll- Abschriften abzuwenden. Denn bei Erfolgsaussichten seiner
gegen eine Sperrerklärung geführten Klage vor dem Verwaltungsgericht
hat der Angeklagte einen Anspruch auf Aussetzung der Hauptverhandlung
vor dem Strafgericht (vgl. BGH, Urteil vom 3. Mai 1985 - 2 StR 824/84
- , NStZ 1985,466; SK- StPO- Rudolphi § 96 Rn. 16; HK- StPO - Lemke
§ 96 Rn. 17).
Aus vorgenannten Gründen besteht ebenso kein Anordnungsgrund
hinsichtlich des geltend gemachten Herausgabeanspruchs. Insoweit
dürfte es aber auch an einem Anordnungsanspruch fehlen. Da
aktenführende Stelle hinsichtlich der teilgeschwärzten
Vernehmungs- Protokolle das Bundesamt für Verfassungsschutz
und nicht das Bundesministerium des Innern ist, spricht vieles dafür,
dass das Bundesministerium schon deswegen nicht zur Aktenvorlage
an das Strafgericht verpflichtet ist und dass insoweit die Hauptsacheklage
ohne Erfolg bleiben wird (vgl. zur Unterscheidung zwischen prozessführender
und aktenführender Stelle: OVG Nordrhein- Westfalen, Beschluss
vom 25. November 1999 - 13 B 1812/99 - , NVwZ 2000, 449).
Die Feststellung, dass die Klage gegen die Sperrerklärung
Aussicht auf Erfolg hat, ist unabhängig von der in der Rechtsprechung
des Bundesverwaltungsgerichts bislang ungeklärt gebliebenen
Frage zu treffen, ob die Klage als Anfechtungs- , Verpflichtungs-
oder Leistungsklage zu behandeln ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 19.
August 1986 - 1 C 7.85 - , BVerwGE 75, 1 = NJW 1987,202 = StV 1986,524).
Für den Erlass der einstweiligen Anordnung ist die Feststellung
ausreichend, dass die Sperrerklärung rechtswidrig ist und den
Antragsteller in seinen Rechten verletzt und deswegen im Hauptsacheverfahren
keinen Bestand haben kann.
Vorstehende Bewertung folgt allerdings noch nicht aus dem Umstand,
dass die Antragsgegnerin die Sperrerklärung vom 2. Juli 2002
im Laufe des Verfahrens durch die Erklärung vom 19. Dezember
2002 nachgebessert hat. Zwar ist in der Rechtsprechung des Bundesvewaltungsgerichts
geklärt, dass Weigerungsgründe im Verwaltungsprozess nicht
nachgeschoben werden können (vgl. Urteil vom 19. August 1986
a.a.O.). Diese Rechtsprechung ist hier jedoch nicht einschlägig,
weil es sich nicht lediglich um ein Nachschieben von Gründen
auf der Verwaltungsprozessebene handelt. Die Nachbesserung ist vielmehr
gegenüber dem zuständigen Strafsenat und damit außerhalb
des Verwaltungsprozesses gegenüber dem Adressaten der ursprünglichen
Sperrerklärung erfolgt.
Die Klage gegen die Sperrerklärung vom 2. Juli 2002 hat jedoch
deswegen Aussicht auf Erfolg, weil sie trotz der Nachbesserung vom
19. Dezember 2002 den in der Rechtsprechung entwickelten Anforderungen
an eine das Strafgericht bindende und das Recht des Angeklagten
auf ein rechtsstaatliches, faires Verfahren nicht verletzende Erklärung
nach § 96 StPO nicht gerecht wird.
Allerdings kann eine Sperrerklärung der obersten Dienstbehörde
nach § 96 StPO durch die Verwaltungsgerichte nur beschränkt
überprüft werden, weil der Inhalt der von der Erklärung
betroffenen Akten unbekannt ist und deshalb nicht anhand dieser
Akten festgestellt werden kann, ob die von der Behörde geltend
gemachten Gründe die Zurückhaltung der Akten rechtfertigen.
Überprüft werden kann nur, ob die Sperrerklärung
formell ordnungsgemäß zustande gekommen ist, ob die oberste
Dienstbehörde ihrer Entscheidung einen zutreffenden rechtlichen
Maßstab zugrunde gelegt und alle nach diesem Maßstab
erkennbar erheblichen Umstände bei ihrer Entscheidung berücksichtigt
hat, und ob die Sperrerklärung auch im Übrigen angesichts
der bekannten Umstände des Einzelfalls nach ihrem Inhalt und
ihrem Erklärungswert den Anforderungen des § 96 StPO genügt
(vgl. BVerwG, Urteil vom 19. August 1986 a.a.O.). Ob eine Sperrerklärung
rechtswidrig ist und den Beschuldigten bzw. Angeklagten in seinem
Recht auf ein rechtsstaatliches faires Verfahren verletzt, ist dabei
nach den Umständen des Einzerfalles unter sorgfältiger
Abwägung der im Spannungsfeld stehenden Rechtsgüter und
entsprechender Würdigung des gesamten Sachverhalts - insbesondere
der Schwere der Straftat, des Ausmaßes der dem Beschuldigten
drohenden Nachteile, des Stellenwerts des Beweismittels im Rahmen
der Beweislage und des Gewichts der einer Aktenvorlage entgegenstehenden
Umstände - zu entscheiden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 26. Mai
1981 - 2 BvR 215/81 - , BVerfGE 57, 250, 285). Hierbei kommt es
darauf an, ob Gründe geltend gemacht und im Rahmen des Möglichen
belegt sind, die die Feststellung zulassen, dass die Verweigerung
der Aktenvorlage aus einem in § 96 StPO aufgeführten Hinderungsgrund
unumgänglich ist. In dieser Hinsicht ist erforderlich und ausreichend,
dass die oberste Dienstbehörde ihre Wertung der Tatsachen als
geheimhaltungspflichtig so einleuchtend darlegt, dass das Gericht
diese Wertung unter Berücksichtigung rechtsstaatlicher Belange
noch als triftig anerkennen kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 19. August
1986 a.a,O.).,
Gegen das formell ordnungsgemäße Zustandekommen der
Sperrerklärung bestehen keine Bedenken. Im Bereich des Bundesamtes
für Verfassungsschutz ist zuständige oberste Dienstbehörde
das Bundesministerium des Innern. Inhaltlich ist die Sperrerklärung
demgegenüber nicht frei von Mängeln. Ihr liegt bereits
kein zutreffender rechtlicher Maßstab zugrunde:
Die im Spannungsfeld stehenden Rechtsgüter sind nicht allein
das Interesse des Staates. solche Vorgänge geheim zu halten,
deren Bekanntwerden es ihm erschweren würde. seine Aufgaben
zu erfüllen, auf der einen Seite und die Individualinteressen
des Betroffenen, zu denen insbesondere sein Freiheitsanspruch zählt
(vgl. BVerfG, Beschluss vom 26. Mai 1981 a.a.O.), auf der anderen
Seite. Das dem behördlichen Geheimhaltungsinteresse gegen Oberstehende
Rechtsgut ist vielmehr das Prinzip geordneter Strafrechtspflege
insgesamt. das grundsätzlich verlangt, den Strafermittlungsbehörden
alle Beweismittel zur Verfügung zu stellen, und das insbesondere
auch den staatlichen Strafanspruch sowie die Interessen gegebenenfalls
vorhandener Nebenkläger umfasst (vgl. BVerfG, Beschluss vom
26. Mai 1981 a.a.O., Seite 284; Nack, KK- StPO. § 96 Rn. 18). Eine
Auseinandersetzung mit letztgenannten Aspekten findet in der vorliegenden
Sperrerklärung jedoch nicht statt. Die in der Sperrerklärung
getroffene Abwägung beschränkt sich vielmehr auf das Geheimhaltungsinteresse
des Bundesamtes für Verfassungsschutz auf der einen Seite und
das Interesse des Antragstellers, zur sachgerechten Verfolgung seiner
Rechte Kenntnis vom Inhalt der Gesprächsniederschriften zu
erhalten, auf der anderen Seite. Dass der Sperrerklärung diese
verengte Sichtweise zugrundeliegt, wird insbesondere durch die dortigen
Ausführungen deutlich, nach denen das Gericht verbleibende
Zweifel bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit eines Zeugen
durch Zugrundelegung eines minderen Beweiswerts der Zeugenaussage
berücksichtigen könne. Eine solche Verfahrensweise trägt
allenfalls den vorgenannten Individualinteressen, nicht aber dem
staatlichen Strafanspruch Rechnung.
Die Sperrerklärung weist daneben Defizite hinsichtlich der
für die Interessenabwägung relevanten Umstände und
Belange auf. Dies betrifft insbesondere die Art der Straftat und
das Maß der dem Antragsteller drohenden Strafe. Dass dem Antragsteller
und den anderen Mitangeklagten im Vergleich zu sonstiger Alltagskriminalität
eine ganz außergewöhnliche Straftat bzw. Straftatenserie
vorgeworfen wird, die in der Stadt Berlin über viele Jahre
als außerordentliche Bedrohung wahrgenommen worden ist und
an der ein erhebliches öffentliches Aufklärungsinteresse
besteht. bleibt in der Sperrerklärung gänzlich unberücksichtigt.
Dass dem Antragsteller die Verurteilung zu einer erheblichen Freiheitsstrafe
droht, wird in dem Einleitungsabsatz der Sperrerklärung zwar
angesprochen, in der Begründung aber nicht wieder aufgegriffen
und gewürdigt. Damit setzt sich die Sperrerklärung mit
zwei von vier in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
vom 26. Mai 1981 als in jedem Falle relevant benannten Belangen
gar nicht auseinander.
Die Sperrerklärung ist aber auch hinsichtlich der dort getroffenen
Interessenabwägung nicht frei von Mängeln. Dabei ist zunächst
festzustellen, dass die ansonsten durchaus ausführlich begründete
Sperrerklärung dem Hauptanliegen der Verteidigung bzw. hier
des Antragstellers, nämlich eine bestimmte "Entwicklung" des
Aussageverhaltens des Kronzeugen Mousli belegen zu wollen, nur einen
kurzen Absatz widmet. Dort heißt es, die Protokolle der einzelnen
Vernehmungen seien auf Anhaltspunkte für eine Beeinflussung
des Aussageverhaltens des Zeugen überprüft worden. Diese
habe aber nicht stattgefunden; insoweit falle die Interessenabwägung
daher zu Lasten des Antragstellers aus. Mit dieser Begründung
ist die Sperrerklärung jedoch schon deswegen nicht tragfähig,
weil sie bereits durch den Inhalt der nicht geschwärzten Protokollteile
widerlegt wird. Diesen ist zu entnehmen, dass eine bestimmte Vernehmungsweise
quasi Geschäftsgrundlage war, die naturgemäß zu
einer Veränderung der Aussageinhalte geführt haben muss-
Denn dem Erinnerungsvermögen des Zeugen Mousli wurde insofern
unterstützende Hilfe zuteil, als ihm unter anderem Namen und
Fotos seitens der Vernehmenden vorgehalten wurden (vgl, unter anderem
Protokoll Blatt 58: "Vertrauen Sie nicht auf mein Gedächtnis,
das ist katastrophal. Aber wenn ich Bilder sehe oder wenn Sie Namen
sagen, dann kommt es wieder." Blatt 14: "VERA. Ja. Ist mir dann
irgendwie wiedergekommen, der wurde mir vorgehalten und ich, denk'
Mensch, dass ist doch der alte von JUDITH, weil ich hab' JON und
JUDITH anders kennengelernt." Blatt 12: "Da war was. Ich erinnere
mich. Da müssen Sie mir weiterhelfen." Blatt 15: "Und plus
'ne Frau, wenn Sie mir den vorhalten, erinnere ich mich wieder daran-
Aus eigener Erinnerung komm' ich nicht drauf."). Unabhängig
davon, ob der Sachverhalt mit diesem Begriff zutreffend beschrieben
wird und unabhängig davon, ob insoweit - wie von der Verteidigung
für möglich gehalten wird - ein "Soufflieren" der Vernehmungsbeamten
oder schlicht ein Wiedererlangen zwischenzeitlich in Vergessenheit
geratener Kenntnisse vorlag, kann somit nicht ernstlich bezweifelt
werden, dass der dem Zeugen für seine Aussagen zur Verfügung
stehende Kenntnisstand einer bestimmten "Entwicklung"
unterworfen war. Insofern stellt sich nicht die Frage, ob es eine
solche "Entwicklung" gegeben hat, sondern die - in der
Sperrerklärung aber unberücksichtigt gebliebene - Frage,
in welchem Umfang und welche Thembetreffend die "Entwicklung"
stattgefunden hat.
Die in der Sperrerklärung getroffene Interessenabwägung
entspricht daneben aber auch deswegen nicht dem Erfordernis einer
einleuchtenden und überzeugenden Darlegung der Unumgänglichkeit
der Herausgabeverweigerung weil es an einer hinreichend konkreten
Zuordnung der verschiedenen Verweigerungsgründe zu den verschiedenen
Vernehmungen und Vernehmungskomplexen fehlt. Für das vorliegende
Verfahren sind beispielsweise die Seite der Vernehmungsprotokolle
von besonderem Interesse, auf denen der Deckname SIGI, der nach
dem Inhalt der Anklageschrift dem Antragsteller zuzuordnen sein
soll, ausdrücklich erwähnt wird. Dies sind - soweit erkennbar
- nur zehn der 197 Protokollseiten. Welche Verweigerungsgründe
für die Schwärzungen auf diesen Seiten gelten, ist nach
dem Inhalt der Sperrerklärung aber nicht nachvollziehbar, wenn
es in den verschiedenen Absätzen der Begründung einleitend
lediglich heißt, dass das eine Begründungselement den
überwiegenden Teil der geschwärzten Passagen, ein anderes
aber lediglich einen geringen Teil der Schwärzungen betreffe.
Mit derartig allgemein gehaltenen Ausführungen wird die Sperrerlärung
den im Rahmen des §96 StPO maßgebenden Begründungsanforderungen,
die von einer konkreten - wenn auch aus Geheimhaltungsgründen
abstrakten - Darlegung der Gründe der Herausgabeverweigerung
ausgehen, nicht gerecht (vgl. VG Weimar, teil vom 24. Oktober 2001
- GK - 386/01 -, NVwZ-RR 2002, 394, 400).
Die Kostenentscheidung beruht auf §155 Abs. 1 VwGO, die Streitwertfestsetzung
auf den §§ 20 Abs. 3, 13 Abs. 1 GKG. Auch im Verfahren
des vorläufigen Rechtsschutzes ist der volle Regelstreitwert
festzusetzen, wenn der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
auf eine Vorwegnahme der Hauptsache gerichtet ist.
Soweit Erfolgsaussichten des Sachantrags nicht gegeben sind, war
auch der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe abzulehnen
(§166 VwGO i.V.m. §114 ZPO).
[Rechtsmittelbelehrung ...]
Gau
Marticke
Sanchez de la Cerda
|