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Erklärungen BGH/GBA

VG 34 A 41.03

VERWALTUNGSGERICHT BERLIN

BESCHLUSS

In der Verwaltungsstreitsache

des Herrn Harald Glöde, [...] Berlin,
Antragsteller,

Verfahrensbevollmächtigte:
Rechtsanwältinnen Undine Weyers, Sonja Schlecht, Silke Studzinsky, Christina Clemm, Barbara Wessel, Anja Weidner und Regina Götz.
Kottbusser Damm 72, 10967 Berlin,

gegen

die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch das
Bundesministerium des Innern, Alt- Moabit 101 D, 10559 Berlin,
Antragsgegnerin,

hat die 34. Kammer des Verwaltungsgerichts Berlin durch den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgericht Gau, den Richter am Verwaltungsgericht Marticke und die Richterin am Verwaltungsgericht Sanchez de la Cerda am 17. März 2003 beschlossen:

Es wird festgestellt, dass die Klage gegen die Sperrerklärung der Antragsgegnerin vom 2. Juli 2002 in der Fassung der Ergänzung vom 19. Dezember 2002 Aussicht auf Erfolg hat.

Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.

Die Kosten des Verfahrens tragen die Beteiligten je zur Hälfte.

Der Wert des Verfahrensgegenstandes wird auf 4.000,- - Euro festgesetzt.

In dem Umfang, in dem die Antragsgegnerin die Kosten des Verfahrens zu tragen hat, wird dem Antragsteller Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung unter Beiordnung von Rechtsanwältin Silke Studzinksy bewilligt.

Gründe

I.

Der Antragsteller ist einer der Angeklagten in dem Strafverfahren (1) 2 StE 11/00 (4/00) vor dem Kammergericht Berlin. Ihm wird die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung gemäß § 129a StGB vorgeworfen. Der Antragsteller soll als Mitglied der Revolutionären Zellen (RZ) unter anderem an Sprengstoffanschlägen auf die Zentrale Sozialhilfestelle für Asylbewerber am 5./6. Februar 1987 und auf die Siegessäule am 14./15. Januar 1991 beteiligt gewesen sein. Hauptbelastungszeuge ist das frühere Mitglied der Revolutionären Zellen Tarek Mousli. Der Zeuge Mousli hat den Ermitttungsbehörden gegenüber umfassend zur Sache ausgesagt. Daneben hat auch das Bundesamt für Verfassungsschutz mehrere Gespräche mit dem Zeugen Mousli geführt. Mit Schreiben vom 11. Januar 2002 hat das Bundesamt für Verfassungsschutz dem Strafsenat 197 Blatt Gesprächs- Protokolle unter Schwärzung weiter Teile der Fragen und Antworten vorgelegt. Eine Gegenvorstellung der Vorsitzenden des Strafsenats vom 13, März 2002 blieb erfolglos. Mit Schreiben vom 28. März 2002 lehnte das Bundesamt für Verfassungsschutz die Vorlage ungeschwärzter Protokoll- Abschriften endgültig und unter Bezugnahme auf eine durch das Bundesministerium des Innern vorzulegende Sperrerklärung nach § 96 StPO ab. Unter dem 2. Juli 2002 gab das Bundesministerium des Innern folgende Erklärung ab:

In der o.g. Strafsache erkläre ich aufgrund meiner persönlich gewonnenen Erkenntnis und Überzeugung, dass das Bekanntwerden der geschwärzten Teile der Niederschriften über die mit Tarek Mousli geführten Gespräche des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BN) dem Wohl des Bundes Nachteile im Sinne des § 96 StPO bereiten würde.

Dagegen richtet sich die sm 27. November 2002 erhobene Klage des Antragstellers (VG 34 A 42.03), mit der er beantragt, die Beklagte zu verpflichten, die mit Bescheid vom 2. Juli 2002 - Geschäftszeichen 1S 4- 614300- R/24 - erteilte Sperrerklärung aufzuheben und die Niederschriften über sämtliche, jedoch mindestens sechs mit Tarek Mousli zwischen dem 17. April 2000 und dem 7. September 2000 geführten Gespräche des Bundesamtes für Verfassungsschutz ungeschwärzt an den 1. Senat des Kammergerichts herauszugeben.

 

Mit Schreiben vom 19. Dezember 2002 hat das Bundesministerium des Innern unter Bezugnahme auf eine weitere Gegenvorstellung der Vorsitzenden des Strafsenats vom 13. Dezember 2002 eine Ergänzung der Erklärung vom 2. Juli 2002 vorgenommen. Dem Strafsenat wurde mitgeteilt, dass eine nochmalige Oberprüfung der Protokoll- Schwärzungen vorgenommen worden sei. Dies habe zu mehreren Einschätzungsänderungen geführt, Es wurden dem Senat sechs Blatt Protokoll- Abschriften mit vormals geschwärzten, nunmehr aber offengelegten Gesprächspassagen vorgelegt.

Der Antragsteller ist der Auffassung, dass die Begründung der Sperrerklärung den in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts entwickelten Anforderungen an Sperrerklärungen i.S.d. § 96 StPO nicht gerecht wird.

Der Antragsteller beantragt,

die Antragsgegnerin im Wege einstweiliger Anordnung zu verpflichten, die mit Bescheid vom 2. Juli 2002 - Geschäftszeichen 1S 4- 614300- R/24 - erteilte Sperrerklärung aufzuheben und die Niederschriften Ober sämtliche. jedoch mindestens sechs mit Tarek Mousli zwischen dem 17. April 2000 und dem 7 September 2000 geführten Gespräche des Bundesamtes für Verfassungsschutz ungeschwärzt an den 1. Senat des Kammergerichts herauszugeben.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag abzulehnen

und verteidigt die angefochtene Erklärung.

II

Der Antrag ist zulässig und hat in der Sache teilweise Erfolg.

Der Verwaltungsrechtsweg ist gegeben, denn die vorliegende Sperrerklärung des Bundesministeriums des Innern nach § 96 StPO ist keine - vor den ordentlichen Gerichten anzugreifende - Anordnung. Verfügung oder sonstige Maßnahme auf dem Gebiet der Strafrechtspflege i.S.v. § 23 Abs. 1 Satz 1 EGGVG. Dass gegen Sperrerklärungen i.S.d. 96 StPO nur auf dem Verwaltungsrechtsweg vorgegangen werden kann, ist jedenfalls für die Fälle geklärt, in denen es nicht um Sperrerklärungen eines Bundes- oder Landesjustizministers geht (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. April 1984 - 1 C 10.87 - , BVerwGE 69,192; NaCK, KK- StPO, § 96 Rn. 35 m.w.N.).

Der Antrag nach § 123 VwGO ist hier auch die statthafte Antragsart. Vorläufiger Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO kommt - unabhängig von der Frage der zutreffenden Klageart in der Hauptsache - nicht in Betracht. da es dem Antragsteller in der Sache um die Erweiterung seiner Rechtsstellung und nicht um die Abwehr eines Eingriffs in eine bereits bestehende rechtlich geschützte Position geht (vgl. Kopp, VwGO, § 80 Rn. 40 m.w.N.).

Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn diese Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Erforderlich sind danach zum einen das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d. h. die Notwendigkeit einer Eilentscheidung, und zum anderen das Bestehen eines Anordnungsanspruchs, d. h. eines Anspruchs auf die begehrte Maßnahme.

Dem Wesen und Zweck der einstweiligen Anordnung entsprechend kann das Gericht grundsätzlich nur vorläufige Regelungen treffen und dem Antragsteller nicht schon in vollem Umfang, wenn auch nur auf beschränkte Zeit und unter Vorbehalt einer Entscheidung in der Hauptsache, das gewähren, was er nur in einem Hauptsacheprozess erreichen könnte. Im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG gilt das grundsätzliche Verbot einer Vorwegnahme der Hauptsacheentscheidung jedoch nicht, wenn eine bestimmte Regelung zur Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes schlechterdings notwendig ist, d. h. wenn die sonst zu erwartenden Nachteile für den Antragsteller unzumutbar und im Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären und wenn ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg auch in der Hauptsache spricht (BVerwG. Beschluss vom 13. August 1999 - 2 VR 1/99 - NJW 2000, 160).

Nach diesen Maßstäben kommt im vorliegenden Verfahren nach § 123 VwGO eine Aufhebung der angegriffenen Sperrerklärung und eine Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Vorlage ungeschwärzter Protokoll- Abschriften nicht in Betracht:

Hinsichtlich der Aufhebung der Sperrerklärung fehlt es an einem Anordnungsgrund. Die Vorwegnahme der Hauptsache durch Aufhebung der Sperrerklärung ist zur Wahrung der Rechte des Antragstellers nicht erforderlich. Um seinem Anspruch auf ein rechtsstaatliches. faires Strafverfahren gerecht zu werden, ist es ausreichend, aber auch erforderlich, die Feststellung zu treffen, dass die auf Aufhebung der Sperrerklärung gerichtete Hauptsacheklage des Antragstellers Aussicht auf Erfolg hat. Der Antragsteller wird damit in die Lage versetzt, eine Beendigung des Strafprozesses vor einer Entscheidung über seinen eventuellen Anspruch auf Herausgabe ungeschwärzter Protokoll- Abschriften abzuwenden. Denn bei Erfolgsaussichten seiner gegen eine Sperrerklärung geführten Klage vor dem Verwaltungsgericht hat der Angeklagte einen Anspruch auf Aussetzung der Hauptverhandlung vor dem Strafgericht (vgl. BGH, Urteil vom 3. Mai 1985 - 2 StR 824/84 - , NStZ 1985,466; SK- StPO- Rudolphi § 96 Rn. 16; HK- StPO - Lemke § 96 Rn. 17).

Aus vorgenannten Gründen besteht ebenso kein Anordnungsgrund hinsichtlich des geltend gemachten Herausgabeanspruchs. Insoweit dürfte es aber auch an einem Anordnungsanspruch fehlen. Da aktenführende Stelle hinsichtlich der teilgeschwärzten Vernehmungs- Protokolle das Bundesamt für Verfassungsschutz und nicht das Bundesministerium des Innern ist, spricht vieles dafür, dass das Bundesministerium schon deswegen nicht zur Aktenvorlage an das Strafgericht verpflichtet ist und dass insoweit die Hauptsacheklage ohne Erfolg bleiben wird (vgl. zur Unterscheidung zwischen prozessführender und aktenführender Stelle: OVG Nordrhein- Westfalen, Beschluss vom 25. November 1999 - 13 B 1812/99 - , NVwZ 2000, 449).

Die Feststellung, dass die Klage gegen die Sperrerklärung Aussicht auf Erfolg hat, ist unabhängig von der in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts bislang ungeklärt gebliebenen Frage zu treffen, ob die Klage als Anfechtungs- , Verpflichtungs- oder Leistungsklage zu behandeln ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 19. August 1986 - 1 C 7.85 - , BVerwGE 75, 1 = NJW 1987,202 = StV 1986,524). Für den Erlass der einstweiligen Anordnung ist die Feststellung ausreichend, dass die Sperrerklärung rechtswidrig ist und den Antragsteller in seinen Rechten verletzt und deswegen im Hauptsacheverfahren keinen Bestand haben kann.

Vorstehende Bewertung folgt allerdings noch nicht aus dem Umstand, dass die Antragsgegnerin die Sperrerklärung vom 2. Juli 2002 im Laufe des Verfahrens durch die Erklärung vom 19. Dezember 2002 nachgebessert hat. Zwar ist in der Rechtsprechung des Bundesvewaltungsgerichts geklärt, dass Weigerungsgründe im Verwaltungsprozess nicht nachgeschoben werden können (vgl. Urteil vom 19. August 1986 a.a.O.). Diese Rechtsprechung ist hier jedoch nicht einschlägig, weil es sich nicht lediglich um ein Nachschieben von Gründen auf der Verwaltungsprozessebene handelt. Die Nachbesserung ist vielmehr gegenüber dem zuständigen Strafsenat und damit außerhalb des Verwaltungsprozesses gegenüber dem Adressaten der ursprünglichen Sperrerklärung erfolgt.

Die Klage gegen die Sperrerklärung vom 2. Juli 2002 hat jedoch deswegen Aussicht auf Erfolg, weil sie trotz der Nachbesserung vom 19. Dezember 2002 den in der Rechtsprechung entwickelten Anforderungen an eine das Strafgericht bindende und das Recht des Angeklagten auf ein rechtsstaatliches, faires Verfahren nicht verletzende Erklärung nach § 96 StPO nicht gerecht wird.

Allerdings kann eine Sperrerklärung der obersten Dienstbehörde nach § 96 StPO durch die Verwaltungsgerichte nur beschränkt überprüft werden, weil der Inhalt der von der Erklärung betroffenen Akten unbekannt ist und deshalb nicht anhand dieser Akten festgestellt werden kann, ob die von der Behörde geltend gemachten Gründe die Zurückhaltung der Akten rechtfertigen. Überprüft werden kann nur, ob die Sperrerklärung formell ordnungsgemäß zustande gekommen ist, ob die oberste Dienstbehörde ihrer Entscheidung einen zutreffenden rechtlichen Maßstab zugrunde gelegt und alle nach diesem Maßstab erkennbar erheblichen Umstände bei ihrer Entscheidung berücksichtigt hat, und ob die Sperrerklärung auch im Übrigen angesichts der bekannten Umstände des Einzelfalls nach ihrem Inhalt und ihrem Erklärungswert den Anforderungen des § 96 StPO genügt (vgl. BVerwG, Urteil vom 19. August 1986 a.a.O.). Ob eine Sperrerklärung rechtswidrig ist und den Beschuldigten bzw. Angeklagten in seinem Recht auf ein rechtsstaatliches faires Verfahren verletzt, ist dabei nach den Umständen des Einzerfalles unter sorgfältiger Abwägung der im Spannungsfeld stehenden Rechtsgüter und entsprechender Würdigung des gesamten Sachverhalts - insbesondere der Schwere der Straftat, des Ausmaßes der dem Beschuldigten drohenden Nachteile, des Stellenwerts des Beweismittels im Rahmen der Beweislage und des Gewichts der einer Aktenvorlage entgegenstehenden Umstände - zu entscheiden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 26. Mai 1981 - 2 BvR 215/81 - , BVerfGE 57, 250, 285). Hierbei kommt es darauf an, ob Gründe geltend gemacht und im Rahmen des Möglichen belegt sind, die die Feststellung zulassen, dass die Verweigerung der Aktenvorlage aus einem in § 96 StPO aufgeführten Hinderungsgrund unumgänglich ist. In dieser Hinsicht ist erforderlich und ausreichend, dass die oberste Dienstbehörde ihre Wertung der Tatsachen als geheimhaltungspflichtig so einleuchtend darlegt, dass das Gericht diese Wertung unter Berücksichtigung rechtsstaatlicher Belange noch als triftig anerkennen kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 19. August 1986 a.a,O.).,

Gegen das formell ordnungsgemäße Zustandekommen der Sperrerklärung bestehen keine Bedenken. Im Bereich des Bundesamtes für Verfassungsschutz ist zuständige oberste Dienstbehörde das Bundesministerium des Innern. Inhaltlich ist die Sperrerklärung demgegenüber nicht frei von Mängeln. Ihr liegt bereits kein zutreffender rechtlicher Maßstab zugrunde:

Die im Spannungsfeld stehenden Rechtsgüter sind nicht allein das Interesse des Staates. solche Vorgänge geheim zu halten, deren Bekanntwerden es ihm erschweren würde. seine Aufgaben zu erfüllen, auf der einen Seite und die Individualinteressen des Betroffenen, zu denen insbesondere sein Freiheitsanspruch zählt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 26. Mai 1981 a.a.O.), auf der anderen Seite. Das dem behördlichen Geheimhaltungsinteresse gegen Oberstehende Rechtsgut ist vielmehr das Prinzip geordneter Strafrechtspflege insgesamt. das grundsätzlich verlangt, den Strafermittlungsbehörden alle Beweismittel zur Verfügung zu stellen, und das insbesondere auch den staatlichen Strafanspruch sowie die Interessen gegebenenfalls vorhandener Nebenkläger umfasst (vgl. BVerfG, Beschluss vom 26. Mai 1981 a.a.O., Seite 284; Nack, KK- StPO. § 96 Rn. 18). Eine Auseinandersetzung mit letztgenannten Aspekten findet in der vorliegenden Sperrerklärung jedoch nicht statt. Die in der Sperrerklärung getroffene Abwägung beschränkt sich vielmehr auf das Geheimhaltungsinteresse des Bundesamtes für Verfassungsschutz auf der einen Seite und das Interesse des Antragstellers, zur sachgerechten Verfolgung seiner Rechte Kenntnis vom Inhalt der Gesprächsniederschriften zu erhalten, auf der anderen Seite. Dass der Sperrerklärung diese verengte Sichtweise zugrundeliegt, wird insbesondere durch die dortigen Ausführungen deutlich, nach denen das Gericht verbleibende Zweifel bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit eines Zeugen durch Zugrundelegung eines minderen Beweiswerts der Zeugenaussage berücksichtigen könne. Eine solche Verfahrensweise trägt allenfalls den vorgenannten Individualinteressen, nicht aber dem staatlichen Strafanspruch Rechnung.

Die Sperrerklärung weist daneben Defizite hinsichtlich der für die Interessenabwägung relevanten Umstände und Belange auf. Dies betrifft insbesondere die Art der Straftat und das Maß der dem Antragsteller drohenden Strafe. Dass dem Antragsteller und den anderen Mitangeklagten im Vergleich zu sonstiger Alltagskriminalität eine ganz außergewöhnliche Straftat bzw. Straftatenserie vorgeworfen wird, die in der Stadt Berlin über viele Jahre als außerordentliche Bedrohung wahrgenommen worden ist und an der ein erhebliches öffentliches Aufklärungsinteresse besteht. bleibt in der Sperrerklärung gänzlich unberücksichtigt. Dass dem Antragsteller die Verurteilung zu einer erheblichen Freiheitsstrafe droht, wird in dem Einleitungsabsatz der Sperrerklärung zwar angesprochen, in der Begründung aber nicht wieder aufgegriffen und gewürdigt. Damit setzt sich die Sperrerklärung mit zwei von vier in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Mai 1981 als in jedem Falle relevant benannten Belangen gar nicht auseinander.

Die Sperrerklärung ist aber auch hinsichtlich der dort getroffenen Interessenabwägung nicht frei von Mängeln. Dabei ist zunächst festzustellen, dass die ansonsten durchaus ausführlich begründete Sperrerklärung dem Hauptanliegen der Verteidigung bzw. hier des Antragstellers, nämlich eine bestimmte "Entwicklung" des Aussageverhaltens des Kronzeugen Mousli belegen zu wollen, nur einen kurzen Absatz widmet. Dort heißt es, die Protokolle der einzelnen Vernehmungen seien auf Anhaltspunkte für eine Beeinflussung des Aussageverhaltens des Zeugen überprüft worden. Diese habe aber nicht stattgefunden; insoweit falle die Interessenabwägung daher zu Lasten des Antragstellers aus. Mit dieser Begründung ist die Sperrerklärung jedoch schon deswegen nicht tragfähig, weil sie bereits durch den Inhalt der nicht geschwärzten Protokollteile widerlegt wird. Diesen ist zu entnehmen, dass eine bestimmte Vernehmungsweise quasi Geschäftsgrundlage war, die naturgemäß zu einer Veränderung der Aussageinhalte geführt haben muss- Denn dem Erinnerungsvermögen des Zeugen Mousli wurde insofern unterstützende Hilfe zuteil, als ihm unter anderem Namen und Fotos seitens der Vernehmenden vorgehalten wurden (vgl, unter anderem Protokoll Blatt 58: "Vertrauen Sie nicht auf mein Gedächtnis, das ist katastrophal. Aber wenn ich Bilder sehe oder wenn Sie Namen sagen, dann kommt es wieder." Blatt 14: "VERA. Ja. Ist mir dann irgendwie wiedergekommen, der wurde mir vorgehalten und ich, denk' Mensch, dass ist doch der alte von JUDITH, weil ich hab' JON und JUDITH anders kennengelernt." Blatt 12: "Da war was. Ich erinnere mich. Da müssen Sie mir weiterhelfen." Blatt 15: "Und plus 'ne Frau, wenn Sie mir den vorhalten, erinnere ich mich wieder daran- Aus eigener Erinnerung komm' ich nicht drauf."). Unabhängig davon, ob der Sachverhalt mit diesem Begriff zutreffend beschrieben wird und unabhängig davon, ob insoweit - wie von der Verteidigung für möglich gehalten wird - ein "Soufflieren" der Vernehmungsbeamten oder schlicht ein Wiedererlangen zwischenzeitlich in Vergessenheit geratener Kenntnisse vorlag, kann somit nicht ernstlich bezweifelt werden, dass der dem Zeugen für seine Aussagen zur Verfügung stehende Kenntnisstand einer bestimmten "Entwicklung" unterworfen war. Insofern stellt sich nicht die Frage, ob es eine solche "Entwicklung" gegeben hat, sondern die - in der Sperrerklärung aber unberücksichtigt gebliebene - Frage, in welchem Umfang und welche Thembetreffend die "Entwicklung" stattgefunden hat.

Die in der Sperrerklärung getroffene Interessenabwägung entspricht daneben aber auch deswegen nicht dem Erfordernis einer einleuchtenden und überzeugenden Darlegung der Unumgänglichkeit der Herausgabeverweigerung weil es an einer hinreichend konkreten Zuordnung der verschiedenen Verweigerungsgründe zu den verschiedenen Vernehmungen und Vernehmungskomplexen fehlt. Für das vorliegende Verfahren sind beispielsweise die Seite der Vernehmungsprotokolle von besonderem Interesse, auf denen der Deckname SIGI, der nach dem Inhalt der Anklageschrift dem Antragsteller zuzuordnen sein soll, ausdrücklich erwähnt wird. Dies sind - soweit erkennbar - nur zehn der 197 Protokollseiten. Welche Verweigerungsgründe für die Schwärzungen auf diesen Seiten gelten, ist nach dem Inhalt der Sperrerklärung aber nicht nachvollziehbar, wenn es in den verschiedenen Absätzen der Begründung einleitend lediglich heißt, dass das eine Begründungselement den überwiegenden Teil der geschwärzten Passagen, ein anderes aber lediglich einen geringen Teil der Schwärzungen betreffe. Mit derartig allgemein gehaltenen Ausführungen wird die Sperrerlärung den im Rahmen des §96 StPO maßgebenden Begründungsanforderungen, die von einer konkreten - wenn auch aus Geheimhaltungsgründen abstrakten - Darlegung der Gründe der Herausgabeverweigerung ausgehen, nicht gerecht (vgl. VG Weimar, teil vom 24. Oktober 2001 - GK - 386/01 -, NVwZ-RR 2002, 394, 400).

Die Kostenentscheidung beruht auf §155 Abs. 1 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf den §§ 20 Abs. 3, 13 Abs. 1 GKG. Auch im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes ist der volle Regelstreitwert festzusetzen, wenn der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung auf eine Vorwegnahme der Hauptsache gerichtet ist.

Soweit Erfolgsaussichten des Sachantrags nicht gegeben sind, war auch der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe abzulehnen (§166 VwGO i.V.m. §114 ZPO).

[Rechtsmittelbelehrung ...]

Gau
Marticke
Sanchez de la Cerda

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