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133. Prozesstag: 27. Juni 2003
Amnesie und Aphasie - in Sachen Sprengstoff
Das ärztliche Attest über den Gesundheitszustand eines
ehemaligen Richterkollegen des 2. Strafsenats des Kammergerichts
Berlin, das am 132. Verhandlungstag zur Verlesung kam, hätte
durchaus als zusammenfassendes Motto dieses Hauptverhandlungstermins,
wie überhaupt des ganzen Verfahrens dienen können. In
diesem Fall kam es einmal quasi amtlich: Der Richter, der zu den
Aussagen des Kronzeugen Mousli in dessen Prozess im Dezember 2000
hätte befragt werden sollen, kann zur Wahrheitsfindung nichts
mehr beitragen, da er an Altersamnesie (Gedächtnisschwund)
und Aphasie (Verlust des Sprachvermögens bzw. -verständnisses)
leide. Amnesie und Aphasie herrschen - so zumindest der Eindruck
nach über zwei Jahren Prozessdauer - nicht nur bei diesem Richter
a.D., sondern auch bei vielen Vertretern und Vertreterinnen der
Ermittlungsbehörden - vor allem, aber nicht nur, in allen Dingen,
die mit Sprengstoff in Verbindung stehen.
Konkretes Anschauungsmaterial für den Erkenntnisgewinn
Und genau diese Vorgänge standen dann auch im Zentrum von
fünf Beweisanträgen, die von der Verteidigung der Angeklagten
Matthias B. und Harald G. gestellt wurden. In vier der fünf
Anträge ging es um den Sprengstoff der Marke Gelamon 40, der
laut Anklage 1987 aus einem Steinbruch in Salzhemmendorf entwendet
wurde und danach bei zahlreichen Anschlägen der RZ zur Verwendung
kam. Teile des Diebesguts sollen dann 1995 aus dem Keller des Kronzeugen
Tarek Mousli in Berlin- Prenzlauer Berg gestohlen worden sein und
wurden kurz darauf bei dem Berliner Kleinkriminellen Daniel S. sichergestellt.
Erst 1997 will man dann im Bundeskriminalamt (BKA) festgestellt
haben, dass der bei Daniel S. gefundene Sprengstoff "RZ-Relevanz"
habe, woraufhin Ermittlungen begannen, die später zu Mousli
führten. Der wiederum will bereits im Frühjahr 1995 Reste
des Sprengstoffs in einem Seegraben im Norden Berlin entsorgt haben,
die dann - nach mehrmaliger erfolgloser Suche, etwa 70 Meter von
der angeblichen Einwurfstelle entfernt, entgegensetzt der Fliesrichtung
des Gewässers, hinter einem Wehr - kurz nach seiner Haftentlassung
im Juli 1999 dort gefunden wurden.
Mousli behauptet, das Paket sei sofort untergegangen. Danach will
er bei mehreren Besuchen den in einem blauen Müllsäcke
wasserdicht verpackten Sprengstoff am Grund liegen gesehen haben.
Das Auftriebsvolumen dieses Pakets aus 24 Stangen Gelamon 40 mit
einem Gewicht von rund fünf Kilogramm war bereits mehrere Male
Gegenstand in diesem Verfahren; bislang konnte sich das Gericht
allerdings nicht der Auffassung anschließen, dass dieses Paket
in unbeschädigtem Zustand nicht gleich gesunken sein kann.
Deshalb beantragte
die Verteidigung von Matthias B. nun, dass der BKA- Gutachter Dr.
Kolla, der bereits mit mehren Gutachten in dieser Sache in Erscheinung
getreten ist, mit dem Nachbau dieses Sprengstoffpaket beauftragt
werden soll, um zu überprüfen, ob und wann es sinkt. Nach
Auffassung der Verteidigung werde sich dabei herausstellen, dass
das "Paket, wenn es nicht eingerissen ist, mindestens mehrere
Wochen an der Oberfläche schwimmt". Vor dem Hintergrund
anderer Gutachten, die im Lauf des Verfahrens eingebracht wurden,
wäre damit allerdings bewiesen, dass Mousli das Paket erst
unmittelbar nach seiner Haftentlassung im Juli 1999 im Seegraben
versenkt haben kann - und nicht, wie von ihm behauptet, bereits
1995. Der Zustand des geborgenen Sprengstoffs ("nass, aber
weitgehend erhalten"; Nachweis von chemischen Inhaltsstoffen,
die laut Gutachten innerhalb eines Zeitraums von ca. 25-47 Tagen
durch das eindringende Wasser aufgelöst wären ...) passt
nämlich unter diesen Umständen auf keinen Fall zu einer
Liegezeit von mehr als vier Jahren oder in den Worten der Verteidigung:
"ist mit dem bisherigen Beweisergebnis allein der Sachverhalt
vereinbar, dass der Zeuge Mousli das Sprengstoffpaket relativ kurze
Zeit vor dem 24.8.1999 unter Aufreißen der Verpackung im Seegraben
versenkt hat."
Was wusste das Bundesamt für den Verfassungsschutz?
Von der Zeugenladung
des Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz
(BfV) erwarten sich die AnwältInnen von Matthias B. darüber
hinaus Aufklärung, wie es dazu gekommen ist, dass das 1995
bei Daniel S. gefundene Gelamon 40 erst im Herbst 1997 als Sprengstoff
eingeordnet wurde, der im Zusammenhang mit den RZ steht. Angeblich
hat es 1995 einen Abgleich mit entsprechenden BKA-Erkenntnissen
gegeben, die aber keine Auskunft darüber gaben, dass Gelamon
40 immer wieder bei Anschlägen benutzt und in Depots der RZ
gefunden worden war. Erst in Vorbereitung auf den Prozess gegen
die angebliche RZ-Militante Corinna Krawaters sei dieser Zusammenhang
bekannt geworden. Die Verteidigung erwartet von BfV-Chef Auskunft
darüber, dass 1994/95 von seinem Dienst Anstrengungen unternommen
wurde, mit Haftbefehl gesuchten angebliche RZ-Militante Rückkehrangebote
zu unterbreiten. In Zusammenhang mit diesen Rückkehrangeboten
sei auch Mousli in operative Maßnahmen des BfV eingebunden
gewesen. Um diese Maßnahmen nicht zu gefährden habe der
BfV Einfluss auf die polizeilichen Ermittlungen nach dem Sprengstofffund
bei Daniel S. genommen, mit dem Ergebnis, dass die Ermittlungen
erst nach Abschluss dieser operativen Maßnahmen wieder aufgenommen
werden konnten.
Auskunft erwartet die Verteidigung von dem Zeugen auch über
einen Informanten des Verfassungsschutzes, der mindestens in der
Zeit von 1983 und 1995 Informationen über die RZ gesammelt
und an den Geheimdienst weitergeleitet hat. Die Verteidigung geht
davon aus, dass es sich bei diesem Spitzel um den Mann handelt,
der laut "The
Times" vom 8.1.2001 als "Officer of the German Intelligence
Service, The Bundesamt für Verfassungsschutz" zwischen
1994 und 1996 in die nordirische Guerilla "Irish National Liberation
Army" (INLA) eingeschleust worden war. Über diesen Informanten
sei, so die Verteidigung, der BfV in Kenntnis gesetzt worden, dass
Gerd Albartus zu keiner Zeit Mitglied der Berliner RZ gewesen sei,
dass Barbara W. die Schüsse auf die Beine von Harald Hollenberg
abgegeben habe und dass Mousli selbst das Motorrad beim Knieschussanschlag
auf Günther Korbmacher gefahren habe. Insofern würde der
Zeuge bestätigen, dass Mouslis "nach den Erkenntnissen
des BfV weder gegenüber den Ermittlungsbehörden noch gegenüber
den Diensten umfassend und wahrheitsgemäß ausgesagt hat".
Woher kam und wo überall war Gelamon 40?
In ihrem dritten Antrag
verlangte die Verteidigung von Matthias B. die Ladung eines ehemaligen
Polizisten, der 1995 im Zusammenhang mit den Ermittlungen gegen
Daniel S. Erkundigungen zu dem bei ihm gefunden Sprengstoff bei
der Herstellerfirma des Gelamon 40 anstellte, und zweier Mitarbeiter
dieser Firma. Durch die Befragung dieser Zeugen wird sich nach Auffassung
der Verteidigung ergeben, dass der bei Daniel S. sichergestellte
Sprengstoff nie nach Salzhemmendorf geliefert wurde, wo 1987 Sprengstoff
der Marke Gelamon 40 entwendet worden war, sondern an so genannte
Sonderbedarfsträger (Nationale Volksarmee der DDR bzw. Ministerium
für Staatsicherheit) gegangen ist, "demnach plausibel
ist, dass der Zeuge Mousli Kontakte zu solcher Art Dienste hatte",
die von ihm bislang bestritten wurden.
Um Gelamon 40 ging es auch bei den zwei Anträgen der Verteidigung
von Harald G., die erneut einem akuten Fall von Amnesie und Aphasie
bei den leitenden Ermittlungsbeamten des BKA in Sachen RZ auf die
Spur gekommen war. In VS-Unterlagen hatten die Anwältinnen
den Hinweis auf einen Gelamon-40-Fund entdeckt, der den Prozessbeteiligten
bislang vorenthalten wurde. In den Akten, aber auch in der Hauptverhandlung
wusste das BKA über Gelamon 40, das den RZ zugeordnet wurde,
bislang immer nur in Verbindung mit dem Diebstahl in Salzhemmendorf
(1987), mit Anschlägen in Braunschweig (1988), Düsseldorf
(1991), Berlin (1991) und den Depots in Bielefeld (1988), Duisburg
(1992) zu berichten. Laut VS allerdings gab es noch einen weiteren
Sprengstofffund in Kempen (NRW) 1998: Quelle BKA, ST 13 - also die
Abteilung, in der die bereits mehrfach vernommenen BKA-Beamten Schulzke
und Trede arbeiten. Das alles war für die Verteidigung Anlass
genug, die erneute Zeugenladung
der beiden BKA-Beamten und die Beiordnung aller BKA-Unterlagen sowie
der ungeschwärzter
Akten der Verfassungsschutzämter, die Erkenntnisse zu Mousli
beinhalten, zu verlangen.
Unerheblich und bereits bewiesen
Während die Verteidigung wie gewohnt alles versucht, um Licht
ins Dunkle zu bringen, gab der Senat erneut beredetes Beispiel,
was er davon hält. Als "völlig ungeeignetes Beweismittel",
da aus "sicherer Lebenserfahrung sich der Beweis nicht erbringen"
ließe oder weil "die in das Wissen der Zeugen gestellten
Tatsachen bereits beweisen" seien, wurde eine Beweisantrag
im Zusammenhang mit der angeblichen konspirativen Wohnung in der
Oranienstraße 7 oder 9 abgewiesen. Zudem gab sich der Senat
sicher: Mousli "ist einer Verwechslung unterlegen". Der
langjährige Bewohner der Oranienstraße 45 habe einfach,
so das Gericht, eine Wohnung am Oranienplatz mit den Objekten am
südöstlichen Ende der Oranienstraße verwechselt.
Auch hier ein Fall von Amnesie? Fragt sich nur bei wem.
Der vorletzte Verhandlungstag vor der Sommerpause findet am Freitag,
4. Juli zur gewohnten Zeit - 9.15 Uhr - statt.
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