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30. Prozesstag: 25. Oktober 2001

Den Kronzeugen sehen wir nicht wieder (in diesem Jahr)

Gut dreißig ZuschauerInnen erlebten die heutigen "Kammerspiele" des 1. Strafsenats in Moabit und begleiteten das Gericht auf seinem oft unergründlich erscheinenden Weg der Wahrheitsfindung. Vier Zeugenbefragungen, zwei Anträge der Verteidigung und eine Beschlussverkündung füllten die Verhandlung. Zu den noch ausstehenden Prozessterminen in diesem Jahr werden voraussichtlich nur noch diverse ZeugInnen bzw. Sachverständige geladen, während die entscheidende Vernehmung des Kronzeugen erst im Jahr 2002 fortgesetzt werden soll.

Weitere Ermittlungsunterlagen vorenthalten?

Rechtsanwältin Studzinsky eröffnete den Verhandlungstag mit der Feststellung, dass nach wie vor der Verteidigung verfahrensrelevante Unterlagen nicht zur Verfügung stünden. Ein Sachstandsbericht des Bundeskriminalamtes (BKA) vom September 1999 läge nur verkürzt vor. Es fehle gerade der Teil, aus dem die Fortsetzung der Telefonüberwachung (TÜ) des Kronzeugen zu entnehmen ist. Da ein Gerichtsbeschluss die Fortführung der TÜ über den Mai 1999 angeordnet hat, vermutet die Rechtsanwältin die Existenz weiterer Tonbandaufzeichnungen auch aus dieser Zeit. Letztlich würden Berichte über aktenkundig durchgeführte Observationen von Tarek Mousli fehlen und Aktenbestandteile, die die Begründung bzw. Anregung des BKA zur Fortsetzung der TÜ enthalten. Sie beantragte die Beiziehung und die Einsichtnahme der fehlenden Unterlagen.

Kriminalbeamte trägt Inhalte von Vernehmungsprotokollen vor

Wie gewohnt völlig unberührt von diesem Antrag rief die Vorsitzende Richterin nunmehr den Kriminalbeamten Rainer G. (56) in den Zeugenstand. Er sollte Einzelheiten aus der Vernehmung des ehemaligen Leiters der Ausländerbehörde Hollenberg bekunden. Diese hätte am 5.11.86 im Klinikum Steglitz stattgefunden, eine Woche nach dem Anschlag auf Hollenberg. Der Zeuge räumte bereitwillig ein, dass sein gesamter Vortrag ausschließlich aus dem vorangehenden Aktenstudium hervorgeht, ihm aus eigener Erinnerung keinerlei Details mehr bekannt sind. Im druckreifen Kriminaldeutsch referierte er dann das damals angeblich gefertigte Vernehmungsprotokoll: Hollenberg hätte an diesen Morgen, wie gewöhnlich, sein Haus in der Berlepschstraße (Berlin-Zehlendorf) verlassen. Dabei hätten sich ihm eine männlich und eine weibliche Person, ein Fahrrad schiebend, genähert. Nachdem er seinen Wagen aus der Garage gefahren hätte, beim Verschließen des Gartentores, wären die beiden Menschen dicht hinter ihn herangetreten. Die näher bei ihm stehende Frau hätte dann Schüsse auf seine Wade abgegeben, während er den Mann mit einer Waffe in der Hand etwas entfernter wahrgenommen habe. Er hätte dann Schutz hinter seinem Pkw gesucht und will von dort die Flucht der AngreiferInnen beobachtet haben. Die Vorlage von Bildmappen mit Fotos von angeblichen Terroristen und Personen aus dem vermuteten Umfeld hätte zu keiner Identifizierung geführt. Auch die sich anschließende Inaugenscheinnahme einer Tatortsskizze und einer Waffenabbildung, sowie wiederholte Aktenvorhalte konnten das Gedächtnis des Zeugen nicht erhellen.

Im Jahr 1987 war er auch mit Ermittlungsaufgaben zum Anschlag auf den Richter Korbmacher gleichen Jahr betraut. Dabei veranlasste er die Untersuchung eines angeblich dabei benutzten Motorrades der Marke Yamaha durch die Polizeitechnische Untersuchungsanstalt (PTU). Im Folgenden trug er die damals festgestellten Ergebnisse vor, u.a. unzutreffende Kennzeichen, veränderte TÜV- und Polizeiplaketten, aufgebrochene und ausgewechselte Schlösser und eine Neulackierung.

Anschlagopfer war Bundesrichter in Asylverfahren

Der Richter Dr. Günter Korbmacher, selbst Opfer eines Anschlages am 1.9.1987, berichtete nun von den Geschehnissen an jenem Tag. Der 75-Jährige war zehn Jahre lang Vorsitzender Richter am Bundesverwaltungsgericht und stand dort einem Senat vor, der überwiegend Asylverfahren zu führen und entscheiden hatte. Seine Entscheidungen wären in der Öffentlichkeit damals als zu hart kritisiert worden, z.B. von der Tageszeitung taz.

Am Tage der Tat hätte er gegen 9:00 Uhr sein Haus in der Murtenerstraße in Berlin-Lichterfelde verlassen, um zum Gericht zu fahren. Auf dem Weg zu seiner Garage hätte ihn ein relativ großes Motorrad auf der Straße überholt, dass im Kreuzungsbereich zur Baselerstraße gewendet habe, zurückkehrte und auf ihn zu fuhr. Auf dem Fahrzeug hätten zwei "Figuren" gesessen, vermutlich Männer, von denen der Beifahrer dann mit einer Waffe auf ihn geschossen hätte. Zweimal jeweils ca. drei Schüsse wären auf ihn abgegeben worden, wobei er von der zweite Salve zweimal in die Wade getroffen worden wäre. Nach seinem Eindruck wären die Schüsse auf die Beine oder nur einzelne Körperteile gezielt abgegeben worden, eine lebensbedrohliche Verletzung hingegen wäre offensichtlich von den Angreifer nicht beabsichtigt gewesen. Er sei dann mit Hilfe eines herbeieilenden Kollegen (Richter Dr. Horst S.) humpelnd in sein Haus zurückgekehrt. Auf den ihm vorgelegten Fotomappen konnte er keinen der Angreifer identifizieren, u.a. weil sie Helme getragen hätten. An weitere Einzelheiten konnte sich Dr. Günter Korbmacher nicht erinnern. Auch viele Aktenvorhalte der Richterin aus den polizeilichen Vernehmungen und die intensive Inaugenscheinnahme einer Tatortskizze und mehrerer Fotos halfen nichts, der Betroffene konnte mehr Details nicht benennen.

Eine ausgelassene Mitfahrgelegenheit mit Folgen

Nach der ausgedehnten Unterbrechung der Sitzung zur Mittagszeit wurde die Verhandlung mit der Einvernahme des Zeugen Dr. Horst S. fortgesetzt. Dr. Horst S. (59), Vorsitzender Richter eines Revisionssenats am Bundesverwaltungsgericht für Asylverfahren, war damals Kollege von Dr. Günter Korbmacher und als unmittelbarer Nachbar Bewohner des angrenzenden Nachbarhauses, allerdings mit Eingang in der Bernerstraße. Auch er hätte am besagten 1.9.1987 zur gleichen Zeit wie Dr. Korbmacher sein Haus verlassen, um seine Arbeit in demselben Gericht aufzunehmen, er allerdings mit Hilfe öffentlicher Verkehrsmittel. Auf dem Weg zur Bushaltestelle sei er auf den torkelnden und sich am Geländer festhaltenden Kollegen aufmerksam geworden. Mit seiner Hilfe hätte Dr. Korbmacher zurück in sein Wohnhaus gebracht werden können, wo er anschließend von seiner Frau versorgt worden wäre. Einen später von ihm auf dem gegenüberliegenden Grundstück wahrgenommenen Arbeiter hätte er nach dem Ablauf der Vorfälle befragt. Dieser hätte ihm gegenüber jedoch keine Angaben gemacht. Im Laufe der Vernehmung ergaben sich deutliche Unterschiede zwischen seinen damaligen Aussagen bei der Polizei und seiner heutigen Erinnerung im Gerichtssaal. Ob er durch einen Pfiff oder durch Schüsse auf das Geschehen aufmerksam wurde, ob der befragte Arbeiter doch das Hören von Schüssen ihm gegenüber zugab oder ob es sich um einen Teer- oder einen Gartenarbeiter gehandelt habe, viele Angaben blieben durch die verblassende Erinnerung ungenau und widersprüchlich. Abschließend erfolgte auch hier das Ritual der gemeinsamen Inaugenscheinnahme von Skizzen und Fotos mit dem unveränderten Ausbleiben von weitergehenden Aussagen.

Von links außen oben nach rechts innen unten

Den Abschluss bildeten die Aussagen des Rechts- und Umweltmediziners Klaus-Steffen S., (61) aus Göttingen. Er hatte unmittelbar nach dem Anschlag auf Hollenberg wie auch Korbmacher beide Verletzte untersucht und medizinische Gutachten erstellt. Über die Ergebnisse wurde er befragt. In beiden Fällen hätte es sich Schussverletzungen gehandelt, jeweils an den Unterschenkeln. Hätten den Dr. Korbmacher zwei Projektile ins linke Bein getroffen, so wären bei Hollenberg jeweils ein Schuss in jedes Bein zu diagnostizieren gewesen. Könne mensch bei der Verletzung des Erstgenannten von zwei Schüssen in unmittelbarer Folge ausgehen, so wären beim Zweitgenannten durch Lage und Winkel der Durchschuss- bzw. Steckschusskanäle eine ähnliche Aussage sehr viel ungewisser. Das stünde auch so in seinem Gutachten. Die nun inzwischen allseits geschätzte Übung der Inaugenscheinnahme führte diesmal alle Prozessbeteiligten über Röntgenbilder zusammen, die der Gutachter den ihn Umringenden geduldig und mit einfachen Worten zu erläutern versuchte. Über den Erfolg dieser medizinischen Unterweisung bei den versammelten VertreterInnen der Rechtswissenschaften blieb bei den gemeinen ProzessbeobachterInnen erhebliche Zweifel.

Am Rande seiner Vernehmung wurde der sonst sehr zähe und träge Verhandlungsablauf kurzzeitig lebendig. Bundesanwalt Bruns wollte beiläufig vom Gutachter wissen, ob denn ein Schuss ins Kniegelenk schlimmere gesundheitliche Folgen haben könne, als die hier festgestellten Verletzungen. An der Absicht seiner Frage ließ der Bundesanwalt von vorne herein keine Zweifel, denn er sei ohnehin davon überzeugt, dass ein Knieschuss eigentlich beabsichtigt war. Nachdem die Unzulässigkeit dieser Frage von den VerteidigerInnen gerügt worden war, ließ sie die Vorsitzende Richterin trotzdem zu. Erst nach Hinweisen auf die versuchte Beeinflussung des Gutachters durch die Art der Fragestellung und einer entsprechenden Fundstelle in einem relevanten juristischen Kommentar besann sich die Richterin und ließ die Frage nun doch nicht mehr zu.

Beschluss des Gerichtes, wie nicht anders zu erwarten

Der Antrag von RA Euler, den Prozess für vier Wochen zu unterbrechen, um den VerteidigerInnen Gelegenheit zu geben, die 955 TÜ-Tonbänder wenigstens ansatzweise auszuwerten, wurde abgelehnt. Eine Begründung gab die Vorsitzende Richterin dafür nicht, nur den Hinweis auf die Ablehnungsgründe in einem früheren Beschluss zum Aussetzungsantrag der RAinnen Würdinger und Studzinsky.

Daraufhin beantragte RA Becker die Gewährung einer zusätzlichen Kostenpauschale für die Verteidigung, um das Abhören der über 700 Stunden Tonbandaufzeichnungen zumindest teilweise an geeignete Personen (z.B. Referendare) delegieren und vor allem auch bezahlen zu können. RA Dr. König unterstützte diesen Antrag mit dem Hinweis auf eine entsprechende Kostenentscheidung des Oberlandesgerichts Brandenburg.

Und weiter geht's

Auf Nachfrage des Verteidigers v. Schlieffen teilte die Richterin Hennig mit, dass für dieses Jahr die Ladung von weiteren Zeugen und Sachverständigen zu den Komplexen "Korbmacher" und "Mehringhof", die Anschläge auf die Zentrale Sozialhilfestelle für Asylbewerber (ZSA) und die Siegessäule sowie dem Sprengstofffund am Seegraben vorgesehen ist. Ein Auftritt des Kronzeugen Mousli noch in diesem Jahr hielt sie für unwahrscheinlich. Der Prozess wird morgen, Freitag, den 26.10, mit weiteren Zeugenvernehmungen fortgesetzt. Danach wird eine kurze Herbstpause eingelegt.

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