Beschluss des Kammergericht zum Antrag auf Einholung eines mikrobiologischen
Gutachtens:
(1) 2 StE 11/00 (4/00)
b[eschlossen].u[nd].v.[erkündet]
Der Antrag der Verteidigung des Angeklagten Schindler vom 27. Juni
2002 auf Einholung eines Gutachtens durch einen Sachverständigen
auf dem Gebiet der Mikrobiologie, der über besondere Kenntnisse
auf dem Gebiet der Erforschung von Umwelteinflüssen auf Kautschuk
verfügt, wird zurückgewiesen.
Gründe
Durch die beantragte Einholung eines mikrobiologischen Gutachtens
soll geklärt werden, wie lange das Klebeband, mit dem das am
24. August 1999 im Seegraben in Berlin-Buch aufgefundene Sprengstoffpaket
umwickelt war, im Seegraben gelagert hat. Die Beweiserhebung ergeben,
dass das Klebeband dort maximal acht Wochen gelagert habe und nicht,
wie der Zeuge Mousli bekundet hat, seit 1995.
Der Beweisantrag ist abzulehnen, weil das Beweismittel völlig
ungeeignet ist (§ 244 Abs. 3 Satz 2 StPO)
I.
Der Senat hat zunächst freibeweislich durch Anhörung
des von der Verteidigung der Angeklagten Glöde und Schindler
als Sachverständigen vorgeschlagenen Mikrobiologen Dr. Jandrossek
geprüft,
- ob dieser die Lagerzeit des Klebebandes zuverlässig feststellen
kann, oder aber, wenn dies nicht der Fall ist, ob seine Folgerungen
die unter Beweis gestellte Behauptung als mehr oder weniger wahrscheinlich
erscheinen lassen und deshalb unter Berücksichtigung des sonstigen
Beweisergebnisses Einfluss auf die Überzeugungsbildung des
Gericht erlangen können,
- ob das vorhandene Material genügend Anknüpfungstatsachen
wenigstens für ein Möglichkeits- oder Wahrscheinlichkeitsurteil
bietet.
II.
Die Prüfung hat ergeben, dass die Lagerzeit des Klebebandes
(im folgenden: Asservat) nicht - auch nicht mit einem geringen Wahrscheinlichkeit
- durch das beantragte mikrobiologische Gutachten bestimmt werden
kann.
1. Bisher gibt es, wie Dr. Jandrossek und zuvor bereits der Sachverständige
Dr. Hartwig vom Fraunhofer Institut Fertigungstechnik Materialforschung,
Bereich Klebetechnik und Oberflächen, bestätigt haben,
keine wissenschaftlichen Untersuchungen zum unter Wasser erfolgenden
organischen Abbau von industriell hergestellten Klebemassen mit
einem Naturkautschukanteil. Der Sachverständige Galle von der
tesa AG hat ergänzend angegeben, dass sein Unternehmen keine
Untersuchungen über die Haltbarkeit von Klebebändern im
Wasser durchführt.
Die Untersuchung, die in dem Aufsatz von Jandrossek/Tomasi/Kroppenstedt
in FEMS Microbiology Letters 150 (1997) 179-188 beschreiben werden,
belegen lediglich die weite Verbreitung Kautschuk zersetzender Bakterien
und das Verhalten dieser Mikroorganismen in einem Laborversuch,
d.h., wie die Verteidigung des Angeklagten Glöde zutreffend
ausgeführt hat, in einem abgeschlossenen künstlichen System,
bei dem verschiedene Bakteriengruppen reiner Naturkautschuk in reiner
Form zum Verzehr angeboten wurden. Übertragbar sind die Ergebnisse
dieser Untersuchung auf die hier fragliche Zersetzung einer industriell
hergestellten Klebemasse mit diversen chemischen Zusätzen,
wie z.B. Alterungsschutzmittel, in einem fließenden Gewässer
nicht.
Daher müssten völlig neue Untersuchungsanordnungen entwickelt,
Testreihen durchgeführt und deren Ergebnisse und Methodik zunächst
abgesichert werden, damit man von einer brauchbaren Vergleichsmethode
sprechen könnte, die auch nur einigermaßen verlässliche
Ergebnisse hervorbringt. Da eine solche abgesicherte wissenschaftliche
Untersuchungsmethode derzeit nicht vorliegt, war der Beweisantrag
schon aus diesem Grunde wegen völliger Ungeeignetheit des Beweismittels
abzulehnen.
Der Senat ist nicht angehalten, sich auf die Erschließung
eines neuen Forschungsbereichs einzulassen.
2. Das Fehlen einer abgesicherten wissenschaftlichen Methode kann
nicht durch die Durchführung des von Dr. Jandrossek in seiner
Anhörung vorgeschlagenen Laborexperiments kompensiert werden,
dessen möglichen Erkenntniswert bezüglich der Lagerdauer
des Asservats er selbst "zwischen 0 und 100%" eingeschätzt
hat.
a) Dr. Jandrossek hat dieses Laborexperiment wie folgt beschrieben:
Ein mit Kautschukklebemasse beschichtetes Vergleichsklebeband werde
auf Glasträger aufgeklebt; diese Glasträger würden
in ein Gefäß mit aus dem Seegraben entnommenen Wasser
und Schlick gelegt, das tagsüber in einem Fenster bei einer
Wassertemperatur von 20-22 Grad Celsius, nachts in einem dunklen
Raum bei einer Wassertemperatur von 15 Grad Celsius stünde;
Verdunstungsverluste würden durch Zufügen von destilliertem
Wasser ausgeglichen; in regelmäßigen Abständen würde
der mögliche Abbau der Klebemasse durch Kautschuk zersetzende
Mikroorganismen beobachtet und registriert; sodann wären die
verschiedenen Stufen des Abbaus mit dem Zustand des Asservats zu
vergleichen. Ergänzend sollte das sog. Gel-Filtrations-Verfahren
herangezogen werden, bei dem durch Messung der molekularen Gewichtsverteilung
festgestellt werden könne, wie stark das polymere, d.h. aus
langen Molekülketten bestehende Material Kautschuk auf dem
Vergleichsklebeband während der Versuchsdauer infolge des Abbaus
durch Mikroorganismen in kleinere Einheiten "zerschnitten" werde;
auch diese Ergebnisse (Abbaustufen bei dem Vergleichsklebeband)
wären sodann mit dem Zustand des Asservats zu vergleichen.
Die Versuchsdauer solle drei, maximal vier Monate nicht überschreiten.
Dr. Jandrossek hat im Rahmen eines von der Verteidigung Glöde
erteilten privaten Gutachtenauftrags im Juli 2002 den Seegraben
besichtigt, Wasser- und Schlickproben entnommen, festgestellt, dass
darin Kautschuk zersetzende Mikroorganismen enthalten seien und
bereits mit dem vorstehend beschriebenen Experiment begonnen; als
Vergleichsband hat er das Produkt "tesa 4100" verwendet.
b) Das Experiment mag Erkenntnisse darüber ermöglichen,
ob und ggf. welche Veränderungen durch mikrobiologischen Abbau
der Klebemasse eines bestimmten Klebebandes - hier "tesa 4100" -
unter den spezifischen Laborbedingungen festzustellen sind. Diese
Erkenntnisse sind für das Beweisthema jedoch wertlos, weil
die - von Dr. Jandrossek selbst als "problematisch" eingeschätzte
- Vergleichbarkeit mit dem Zustand des Asservats nicht gewährleistet
ist. Die Vergleichbarkeit wäre nur dann gegeben, wenn die Einflüsse,
denen das Asservat während seiner Lagerung im Seegraben ausgesetzt
war, rekonstruiert werden könnten. Das ist aber nicht möglich.
Bis zum heutigen Zeitpunkt konnte nicht einmal festgestellt werden,
um welches Produkt es sich bei dem Asservat handelt. Entgegen der
vom Sachverständigen Dr. Hartwig geäußerten Vermutung
handelt es sich nach dem Gutachten des Sachverständigen Galle
jedenfalls nicht um "tesa 4100". Nach den Ausführungen des
Sachverständigen Galle deutet die Prägung der PVC-Trägerfolie
des Asservats darauf hin, dass es sich wahrscheinlich um das bis
1996/97 produzierte "NOPI 4065" handelt. Sicher ist das allerdings
nicht.
Eine Analyse der dem Kautschuk beigemengten Zusatzstoffe auf dem
Asservat - wenn eine Analyse denn überhaupt möglich wäre,
was der Sachverständige Dr. Hartwig bezweifelt - wäre
für sich allein genommen ungenügend. Denn allein die Kenntnis
der Zusatzstoffe ließe eine Aussage über die Abbaugeschwindigkeit
nicht zu. Dr. Jandrossek hat erklärt, er wisse nichts darüber,
ob etwa der Klebemasse zugefügte Harze oder Antioxydantien
eine Hemmung des Abbauprozesses bewirkten. Vor Durchführung
des von ihm beschriebenen Experiments wäre folglich zunächst
eine vergleichbare Versuchsreihe erforderlich, um festzustellen,
ob und gegebenenfalls welchen Einfluss die chemischen Zusatzstoffe
auf den Kautschukabbau haben. Abgesehen davon, dass weitere Klebebänder
nicht bekannt sind, die als identisch mit dem Asservat in Betracht
zu ziehen wären, wäre eine solche Untersuchung schon deshalb
nicht möglich, weil das am ehesten in Betracht kommende Produkt
"NOPI 4065" nicht mehr zu beschaffen ist.
Welchen Einfluss das Asservat während seiner Lagerung im Seegraben
tatsächlich ausgesetzt war, hängt zudem von vielfältigen
Umweltfaktoren ab, etwa davon, welche Mikroorganismen in den Jahren
1995 bis 1999 bzw. im Jahre 1999 sich dort befunden haben, welche
Nahrungsquellen in welchem Umfang ihnen in dieser Zeit zur Verfügung
standen, und zahlreichen anderen Parametern. Diese sind nicht bekannt.
Nach der Aussage des Zeugen Krüger sind jedenfalls seit 1995
keine Wasseruntersuchungen vorgenommen worden. Dr. Jandrossek liegen
auch, wie er erklärt hat, keine Schlickproben aus vergangenen
Jahren vor. Seine Annahme, es sei davon auszugehen, dass sich die
Wasserqualität seit Jahren nicht oder jedenfalls nicht wesentlich
verändert habe, erscheint ohne vorhandene objektive Untersuchungen
zumindest fraglich, zumal Dr. Jandrossek auch erklärt hat,
dass beispielsweise das mikrobiologische "Umkippen" einesGewässers
nicht immer mit bloßem Auge zu erkennen sei. Die von ihm genannten
"Indizien" für gleich gebliebene mikrobiologische Bedingungen"
nämlich Erlen- und Brennnesselwuchs in dem Biotop, belegen
nur, dass das Gebiet feucht ist.
Sehr zweifelhaft erscheint auch, ob - wenn schon nicht die Lebensformen
und -bedingungen des Seegrabens in den vergangenen Jahren rekonstruiert
werden können - durch das beschriebene Laborexperiment wenigstens
die aktuellen Umweltbedingungen aus dem Jahr 2002 simuliert und
für die Versuchsdauer von drei, maximal vier Monaten aufrechterhalten
werden können. Befragt nach den Gefahren einer (nahe liegenden)
Fäulnisbildung in dem für das Experiment entnommenen Wasser
und Schlick hat Dr. Jandrossek in seiner Anhörung erklärt,
gegen eine Versuchsdauer von über vier Monaten hätte er
Bedenken, weil insoweit dann "immer größere Fragezeichen"
aufträten, die Gefahren seien jedoch für drei Monate "vernachlässigbar".
Immerhin hatte die Verteidigung des Angeklagten Glöde nach
Rücksprache mit Dr. Jandrossek und vor dessen Anhörung
vorgetragen, dass bei einer Versuchsdauer von einigen Wochen
keine Gefährdung durch Fäulnis auftrete. Nach den Ausführungen
des Sachverständigen Dr. Hartwig ist es kaum möglich,
das komplexe biologische System, wie es im Seegraben vorliegt, über
einen längeren Zeitraum als acht Wochen stabil zu halten.
3. Dr. Jandrossek hat bei seiner Anhörung mehrfach betont,
dass es sehr wichtig und maßgeblich sei zu wissen, wie das
Sprengstoffpaket im Schlick gelegen habe. Die von dem Sprengstoffpaket
nach seiner Bergung aufgenommenen Lichtbilder deuteten darauf hin,
dass das Paket "richtig" im Schlick gelegen habe; dies decke sich
mit seinen Beobachtungen vor Ort am Seegraben, er sei mit den Füssen
im Schlick eingesunken und gehe davon aus, dass auch das 4 bis 5
kg schwere Paket in den Schlick eingesunken sei. Ein Abbau von Kautschuk
durch Mikroorganismen finde in der Regel nur unter oxydativen Bedingungen
statt. Nur wenige Zentimeter unter der Schlickoberfläche sei
kein Sauerstoff mehr vorhanden. Unter diesen Bedingungen wäre
ein Abbau zwar nicht völlig auszuschließen, er wäre
jedoch "drastisch" verlangsamt, mindestens um das 10-fache. Es sei
möglich, dass die Klebemasse im Schlick "konserviert" worden
sei; dazu habe er keine Informationen. Neueste Untersuchungen hätten
ergeben, dass es Mikroorganismen gebe, die ohne Sauerstoff Hexan
abbauen könnten.
Das Sprengstoffpaket wurde unter den Dünnschlickschicht mittig
im Seegraben gefunden. Der Zeitpunkt, wann es durch Einsinken, Aufspülung
oder andere Umstände mit dem Dünnschlick bedeckt wurde,
ist nicht bekannt. Damit fehlt auch insoweit eine wesentliche Anknüpfungstatsache.
Denn - abgesehen von den genannten anderen Einwänden gegen
die Eignung des Gutachtens - ist eine Bestimmung der Lagerzeit insgesamt
nicht möglich, wenn die Zeitspanne, in der ein Abbau durch
Mikroorganismen ausgeschlossen oder jedenfalls drastisch verlangsamt
war, nicht bekannt ist.
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