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Früchte des Zorns

TitelblattRevolutionärer Zorn Nr. 6 - Januar 1981


Denunziation und Ausgrenzung

Mit Denunziation und Ausgrenzung hatte die Linke - von wenigen Ausnahmen abgesehen - auf die ersten Aktionen der RAF reagiert, obwohl sich in ihnen wenigstens anfangs vor allem ihr eigenes Dilemma widerspiegelte: was sollte der Phase moralischen Protests folgen, dessen politische Kraft sich abgenutzt hatte? Daß Ulrike durch Verrat aus den Reihen der nunmehr verbeamteten Linken (Rodewald [15]) ans Messer geliefert werden konnte, ohne daß es zum Eklat kam, eindrucksvoller hätte sich der moralische Verfall nicht inszenieren lassen. Selbst die "Solidarität mit den Opfern", die erst den Tod von Holger Meins [16] brauchte, um von der Wirklichkeit der Isolationsfolter in BRD- Knästen überzeugt zu sein, stand auf tönernen Füßen; schon einen Tag später - in Berlin war der DrenkmannRichter Drenkmann erschossen worden - "erwies sich, was sie auch war, nämlich Instrument der Spaltung." Und als schließlich auch noch die radikale Frankfurter Spontiscene [18] nach dem Tod von Ulrike 1976 entsetzt vor dem zurückschrak, was ihre eigene Militanz zur Folge haben könnte, drehte sie den Spieß kurzerhand um und münzte ihre Niederlage in einen Generalaufwasch mit den bewaffneten Gruppen um: " Wir fordern sie von hier aus auf, Schluß zu machen mit dem Todestrip, runterzukommen von ihrer bewaffneten Selbstisolation, die Bomben wegzulegen und die Steine und einen Widerstand, der ein anderes Leben meint, wieder aufzunehmen." (Joschka Fischer [19] 1976). Wo die Fürsprecher eines so verstandenen Widerstandes mittlerweile geendet sind, ist bekannt. Mit Steinen, die zum Werfen gedacht waren, frieden sie heute ihr "anderes Leben" ein.

Vom "solidarisch" gemeinten Appell bis zur versuchten Erpressung war es nicht mehr weit. Im Herbst 1977 formierte sich, was bis dahin noch Tendenz war, zur gnadenlosen Offensive gegen den "Terrorismus". Es schien, als würde sich diese Linke unter dem Klima der Hemmungslosigkeit selbst die letzten Skrupel vom Halse schaffen. Die Ventile waren geöffnet, endlich konnte man sich ungezügelt Luft verschaffen. Da krochen einstige SPD'ler, die die Früchte des großen Runs auf die akademischen Planstellen nicht leichtfertig auf's Spiel setzen wollten, gleich scharenweise vor dem staatlichen Gewaltanspruch zu Kreuze und boten sich der Obrigkeit an, in die Bewegung zurückzukehren, um die Wurzeln der Subversivität von unten aufzurollen. Da häuften sich die erbärmlichen Gesten der Untertänigkeit, wurden Ergebenheitsadressen und Loyalitätsbekundungen gleich zu Hauf produziert, galt der Kniefall vor der Staatsgewalt als Zeichen der Humanität angesichts des Schrecken, den der Versuch der Gefangenenbefreiung verbreitete. Kaum einer, der um seinen Ruf zu fürchten brauchte, wenn er wie selbstverständlich zur politischen Isolierung oder gar persönlichen Denunziation der Organisationen und Militanten des bewaffneten Widerstands anstiftete. Nicht nur der Lange Marsch [20] sah sich in dieser Situation (und danach) berufen, aus dem Innern der Linken heraus eine ihrer Fraktionen zum Abschuß freizugeben und sich zum Teil des staatlichen Programms der "Terroristenvernichtung" zu erklären. Herbst 1977 - die letzten Schranken, wenn schon nicht der Solidarität, so doch der moralischen Integrität waren gefallen. Die Kluft zwischen der legalen Linken und den bewaffneten Gruppen war unversöhnlich geworden, der politische Bruch schlug in unverholene Feindseligkeit um.

Es ist nicht an uns, den Anteil der legalen Linken an dieser Entwicklung aufzuzeigen. Die notwendige Selbstbesinnung ist sie sich selbst wie anderen schuldig geblieben.

Herbst 1977 - Bruch zwischen der legalen und bewaffneten Linken

Wir selbst nahmen die Herausforderung an und erklärten, nicht länger Teil dieser Linken zu sein. Wir vollzogen den Bruch, indem wir über die Verkommenheit des Legalismus herfielen und uns in der absoluten Notwendigkeit des beschleunigten Aufbaus illegaler Strukturen bestärkt sahen. Der Wirksamkeit anderer Formen des Widerstands als der des bewaffneten Kampfes schien angesichts der Toten von Stammheim jeglicher Boden entzogen zu sein. Daß wir uns mit dieser Verarbeitung des Geschehens selbst den Boden unter den Füßen wegziehen würden, daß wir im Begriff waren, Guerilla als eine von vielen Methoden des politischen Kampfes zu verabsolutieren, ist uns erst geraume Zeit später bewußt geworden. Denn in der Anerkennung des endgültigen Bruches zwischen legaler Linken und bewaffneten Gruppen lag zugleich das Eingeständnis des vorläufigen Scheiterns eines Konzeptes, in dem das Verhältnis zu den autonomen Bewegungen, zu den Massenkämpfen, zu den legalen politischen Kernen von Beginn an einen zentralen Stellenwert hatte. Die entstandene Kluft war auch ein Signal, daß wir uns mehr und mehr an den realen Prozessen vorbeigemogelt hatten und an Ideen und Hoffnungen festhielten, die durch den tatsächlichen Verlauf der 70iger Jahre zur Fiktion geworden waren.

1973, als eine Revolutionäre Zelle erstmals namentlich Verantwortung für Aktionen übernahm, hatten wir uns am Ausgangspunkt eines neues Aufschwungs von Massenbewegungen geglaubt, die die verschiedenen Sektoren der Gesellschaft erfassen würde. Anzeichen gab es zur Genüge: die Streikwelle, die auf Fabriken wie Hoesch, Mannesmann, John Deere, Klöckner usw. überschwappte, signalisierte eine für deutsche Verhältnisse neue Qualität in den Kampfzielen und - formen, an den Fabriktoren der Kölner Ford- Werke kristallisierten sich die Umrisse einer sich autonom organisierenden, multinationalen Arbeiterklasse heraus. Gleichzeitig gärte es in den Stadtteilen. Die Jugendbewegung hatte mit dem Kampf für selbstverwaltete Jugendzentren wieder ein verbindendes politisches Motiv gefunden, das bis in die kleinsten Provinzstädte widerhallte. In den Hausbesetzungen kam der radikale Wille zum Durchbruch, sich tatsächlich zu nehmen, was wir brauchten. Mit dem Schwarzfahren, dem Ladenklau, dem Krankfeiern wurden andere Formen des Widerstandes als eminent politisch entdeckt, die bis dahin lediglich privaten Charakter hatten. Gegen den §218Zur gleichen Zeit entwickelte sich im rasanten Tempo mit der Frauenbewegung eine neue gesellschaftliche Kraft, die vor 1975 in der Kampagne gegen den § 218 ihren Höhepunkt als überregionale Bewegung erlebte. Und nicht nur die nationalen, sondern auch die internationalen Geschehnisse in der ersten Hälfte des Jahrzehnts gaben Anlaß zu Optimismus. Vietnam, Kambodscha, Griechenland, Angola, Mosambik, Spanien, Portugal stehen in dieser Periode als Namen für eine siegreiche Perspektive antiimperialistischer oder antifaschistischer Befreiungsbewegungen. Selbst in Chile schien mit dem MIR eine politische/ militärische Kraft heranzuwachsen, die stark genug sein würde, um die blutige Pinochet- Diktatur wieder zu stürzen.

Diese Aussicht auf die bevorstehende Phase von Massenkämpfen neuen Inhalts koppelte sich mit unseren eigenen Erfahrungen. Wir wußten:

  • Politik innerhalb der Normen formaler Demokratie blieb ohnmächtige Politik. All jene Vorstellungen, die auf eine lange Phase von Aufklärung und Propaganda bauten, ohne gleichzeitig Aktionsebenen zu definieren, standen stets an der Schwelle zur Vereinnahmung.
  • Der repressive Staatsapparat hatte dazugelernt und war darauf eingerichtet, den Massenwiderstand in die Grenzen seiner Handlungsmöglichkeiten zu verweisen. Klandestinität war eine Basis gegen Repression.
  • Subjektivität, der Wille zum revolutionären Handeln, kann Berge versetzen.
  • Das Unvorstellbare galt nicht mehr. Die Praxis der RAF, aber auch etlicher anderer subversiver Kerne, hatte mit einem Tabu aufgeräumt, das in diesem Land eine lange Tradition hat. Die Organisation revolutionärer Gewalt gegen den totalitären Gewaltanspruch des Staates in allen seinen Formen war wieder richtig und möglich.

Vor diesem Hintergrund entstand ein Konzept bewaffneten Kampfes, in dem die Stärkung der Masseninitiative durch klandestin operierende, autonom und dezentral organisierte Gruppen der erste Schritt eines langwierigen Angriffs auf die Macht sein sollte. "Was wir wollen, ist die Gegenmacht in kleinen Kernen organisieren, die autonom in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen arbeiten, kämpfen, intervenieren, schützen, die Teil von der politischen Massenarbeit sind. Wenn wir ganz viele Kerne sind, ist die Stoßrichtung für die Stadtguerilla als Massenperspektive geschaffen." (Revolutionärer Zorn Nr. 1).

Die Kriterien, denen eine solche Praxis unterlag, nämlich Orientierung an gesellschaftlichen Konflikten, Vermittelbarkeit von Aktionen, Nachmachbarkeit, Verteidigung erkämpften Gegenmilieus, zeigen, worum es uns schon damals ging: um das Bewußtsein der Menschen, um die Zerstörung des Gefühls der Ohnmacht, um Überwindung der Hoffnungslosigkeit, also um den Kampf gegen jene spezifische Form der Verelendung, wie sie für die Metropole charakteristisch ist.

TupamarosRückblickend ist es leicht, hinter dieser Sorte von optimister Vorausschau auch Naivität gegenüber der tatsächliche Bewegung revolutionärer Prozesse zu vermuten. Unter dem Einfluß von Gruppen wie der Gauche Proletarienne [21], The Black Panther Party [22], den Tupamaros [23], der IRA [24], der ETA [25] und dem Schwarzen September [26], deren Stärke vor allem darauf beruht, daß sie sich auf ein zentrales, das Volk vereinendes politisches Motiv berufen können, hatten wir sicherlich die Hindernisse unterschätzt, die der Herausbildung einer Massenguerilla im Wege standen. Und auch die Hoffnung, die Klassenbewegung wäre - einmal ins Rollen gekommen - aus sich heraus fähig zu Kontinuität, erwies sich als Illusion. Weder sollten sich die verschiedenen Bewegungen in jener Gradlinigkeit fortentwickeln, die wir unterstellt hatten, noch sprang aus der Initiative einer Handvoll "Kämpfer" der Funke über, der den Steppenbrand hätte entfachen sollen. Die Zeichen für die Vermassbarkeit illegaler Politik standen fürs erste schlecht.

Der Zerfall der Bewegung erwies sich als unaufhaltsam. Die sozialliberale Einkreisung der Jugendrevolte von oben zeigte erste Wirkung:

Während sie der Mehrheit der mittelständigen Schichten des Massenprotestes mittels Amnestie und Hochschulreform einen Weg zurück offengehalten hatten, um sich so langfristig deren Fähigkeiten zu sichern, präsentierte sie sich eine Etage tiefer von ihrer rüderen Seite. Mit Bullenrazzien und einstweiligen Verhaftungen machte sie allen verfrühten Hoffnungen darauf, daß die eroberten Freiräume (wie das Georg- von- Rauch- Haus) [27] schon Bastionen einer neuen Gesellschaft seien, ein Rauchhausrasches Ende. An die Stelle der radikalen Utopie, die Phantasie, Selbstbestimmung, Entschlossenheit bedeutet hatte, trat nüchterne Realpolitik, in deren Folge die Auflösung der Einheit der Bewegung ihre verklärende Bemäntelung erfuhr. Die neuen/alten Organisationen hatten sich zu Instrumenten des Angriffs auf die antiautoritären Inhalte und Verhaltensweisen der Revolte entwickelt, der Prolet war zur Waffe geworden, mit der Aufsässigkeit und Anpassungsverweigerung zurechtgewiesen wurden. Mit der rückwärtsgewandten Selbstproletarisierung des studentischen Teils der 68er- Generation waren Disziplin, Opferbereitschaft, Geduld ebenso in die Scene zurückgekehrt wie Monogamie und der FaÁon- Schnitt. Die langfristigen Früchte mühseliger Aufbauarbeit wurden verrissen, während die Orientierung am unmittelbaren Erfolg, eine der entscheidenden Triebfedern der APO, als kleinbürgerlich denunziert wurde. Entdeckt war der Teilbereich, die Abteilung in der Fabrik, die Gewerkschaftsgruppe, der Straßenzug, eine Schule, ein Jugendheim, eine Obdachlosensiedlung. Aber über die Behauptung, daß es Widerstand nur durch seine Teilbereiche gibt, geriet in Vergessenheit, daß diese nur durch den gesamten Widerstand bestehen und überleben können. Der jeweilige Erfahrungsbereich wurde so zum Nabel der Welt, die selektive Wahrnehmung zum Fundus, aus dem die gesamte Weisheit gelöffelt wurde.

Natürlich können das nur grobe Kennlinien sein. Dennoch markieren sie eines: die objektive Entwicklung hatte einer Praxis bewaffneten Widerstands teilweise den Boden entzogen, der Bezugpunkt, der Adressat unserer Politik - die Jugendrevolte - hatte sich in die Basisprojekte aufgelöst und darüber fundamentale Elemente des ursprünglichen Selbstverständnisses preisgegeben, ein gemeinsamer Nenner, Voraussetzungen des inneren Kontaktes zwischen Guerilla und Bewegung, existierte nicht mehr. Für uns, die wir ungeachtet dessen an dem Ziel einer Massenguerilla festhielten, bedeutete dieser Prozeß zweierlei:

1.

Mit der Zersplitterung der Bewegung reduzierte sich die Bedeutung gesellschaftlicher Konflikte, in denen die Linke präsent war, auf Auseinandersetzungen, die nur in den seltensten Fällen wenigstens lokale Ausmaße erreichten. Ob nun die Forderung nach einer Klimaanlage in einer Fabrik oder die Propaganda gegen ein Sanierungsprojekt in einem Stadtteil oder Ärger über einen besonders miesen Vermieter - all diese Aktivitäten wurden nicht mehr als Teil eines Ganzen begriffen, sondern waren Ausdruck weitgehend isolierter und gruppenspezifischer Interessen. Da es hunderte solcher Konflikte gab, mußten Aktionen zwangsläufig einen gewissen Grad an Beliebigkeit haben. Die typische Auseinandersetzung, innerhalb derer bewaffnete Politik ihre Funktionen und konkrete Wirksamkeit hätte faktisch unter Beweis stellen können, war eine leere Wunschvorstellung. Da theoretische Verpflichtung und praktische Möglichkeiten ohnehin in einem disproportionalen Verhältnis standen, stieg die Tendenz, auf symbolische Interventionen auszuweichen. Benennbare konkrete Zielsetzungen gerieten in den Hintergrund, während das Argument, es ging um den Nachweis, daß illegaler Widerstand in diesem Land überhaupt möglich ist, zunehmend an Gewicht gewann. Kontinuität entwickelten wir nicht am einzelnen "Fall", sondern anhand der Tatsache, daß es von Zeit zu Zeit und hier wie dort überhaupt mal wieder brannte und krachte. Erschwerend wirkte sich aus, daß eine personelle Verbindung zu den verschiedensten Gruppen und Initiativen unter den gegebenen Bedingungen nahezu ausgeschlossen war, wir folglich mehr und mehr von Diskussionen abgeschnitten und auf indirekte Informationen, also Zeitungen, Flugblätter, "Zuträger" angewiesen waren, um die Objekte, die Zielrichtung, die Form und den Zeitpunkt von Aktionen zu bestimmen. Klar, daß sich damit das Risiko erhöhte, ungenau, abstrakt, unverständlich zu bleiben. Und selbst in den Fällen, wo Aktionen der Guerilla Erfolg hatten, wo sie auf Zustimmung und Sympathie stießen, also populär waren, zogen wir nur selten die richtigen Schlußfolgerungen. Fixiert auf eine - nicht existente - Einheit der Bewegung liefen wir dem falschen Adressaten hinterher, statt zu registrieren, in welchen Teilen der Gesellschaft bewaffnete Politik tatsächlich Hoffnungen und Kraft freisetzen konnte. Die einseitige Ausrichtung am Stand von Bewegungen, ohne gleichzeitig den sozialen Bezugspunkt der eigenen Praxis zu definieren, hatte zur Folge, daß wir die tatsächliche Bedeutung solcher Aktionen wie die gegen Kaußen, das Verteilen von Fahrscheinen und Sozialscheinen etc. nur selten angemessen zu werten wußten.

2.

Als Folge dieser Schwierigkeiten wie aber auch als Kritik an dem Zerfall der Linken, der sich mit erschreckender Ignoranz und Gleichgültigkeit gegenüber gesellschaftlichen Prozessen paarte, die sich jenseits der eigenen Unmittelbarkeit durchsetzten, veränderte sich die Stoßrichtung unserer Aktionen. Statt sich an dem zu orientieren, was die Bewegungen machten, gingen wir dazu über, die Bewegungen an dem orientierten zu wollen, was wir für politisch brisant und notwendig hielten. Durch eine exemplarische Praxis sollten verlorengegangene Inhalte wieder ins Bewußtsein gerückt, frühere Gemeinsamkeiten wieder benannt werden. Die Kampagne gegen die Fahrpreiserhöhungen in verschiedenen Städten der BRD und Westberlin steht für den Versuch, die Linke dadurch zu remobilisieren, daß an alte "Traditionen" angeknüpft und zugleich die Möglichkeit der Wiederaufnahme dieser Traditionen mittels neuer, nämlich illegaler Methoden demonstriert wurde. Gleiches galt für die internationalistischen wie für die "staatsfeindlichen" Aktionen - mit ihnen sollte jene antiimperialistische und antiinstitutionelle Dimension des Massenprotestes wieder in Erinnerung gerufen werden, die die Linke auf dem Marsch an die Basis weitgehend hinter sich gelassen hatte.

Mit der Veränderung der Stoßrichtung unserer Aktionen änderte sich unter der Hand auch das organisatorische Selbstverständnis. Wir begriffen uns zunehmend weniger als integrierter Teil einer Bewegung, ohne jedoch gleichzeitig zu reflektieren, daß wir uns unmerklich in der Rolle der selbsternannten Avantgarde wiederfanden. Die Enttäuschung über die Entwicklung der Linken verschaffte sich Raum in einem uneingestandenen globalen Führungsanspruch gegenüber eben dieser Linken. Das ursprüngliche Selbstverständnis "endlich Subjekt sein zu wollen in diesem Kampf" anstatt "andere in den jeweiligen Bereichen agitieren zu müssen und können" (Revolutionärer Zorn 1) geriet in den Hintergrund angesichts der als vordringlich empfundenen Aufgabe, die Kontinuität der Bewegung gerade in den Zeiten ihrer Zersplitterung aufrechtzuerhalten. Fortan ging es deshalb weniger darum, innerhalb der Aktivitäten der Linken zu wirken, als auf die Linke einzuwirken; in der Tendenz wurde die eigene Linie zur einzigen Linie, wurden die Aktionen zu Appellen, die Erklärungen zu Vorwürfen; aus Vielfalt drohte Unvereinbarkeit zu werden, aus Differenzen Gegensätzlichkeiten, aus unterschiedlichen Prioritäten Rangstufen in einer Hierarchie politischer Wertigkeit. So trugen die internen Prozesse aus sich heraus zu jener Auseinanderentwicklung von Bewegung und illegaler Gruppe bei, die im Herbst 77 ihren einstweiligen Höhepunkt erreichte.

HeroldGerade in einem Land wie der BRD - einem Land mit ohnehin nur schwach entwickelter Klassen- und Massenbewegung - kann ein solcher Auseinanderfall bedeuten, daß die Guerilla buchstäblich auf dem Trockenen sitzt. Zu keinem Zeitpunkt war die Kluft zwischen legaler und illegaler Linken größer und für die Herrschenden somit die Gelegenheit günstiger, der Guerilla mit integrativen wie repressiven Maßnahmen "das Wasser abzugraben", das deren politische, moralische und logistische Existenzbedingung ist. Kein Wunder also, daß sich der heimliche Innenminister Herold [28] gerade in dieser Situation eines Kitson [29] erinnerte und einen neuen Akzent in der "Terrorismus"- Bekämpfung setzte: nun gelte es, das "terroristische Umfeld" lahmzulegen, den Sumpf auszutrocknen, um dann in einem zweiten Schritt die auf sich gestellten illegalen Kerne endgültig abzuräumen. Wir können hier nur bruchstückhaft beschreiben, in welche Sackgasse eine Gruppe zu geraten droht, die das Problem ihrer Basis vernachlässigt.

Als eine Tendenz innerhalb der Bewegung lebt die Guerilla vom wechselseitigen Austausch mit dieser und zwar in einem wesentlich umfassenderen Sinn als dem der bloßen materiellen Unterstützung. Die Basis in der Linken gibt dem Einzelnen den notwendigen moralischen Rückhalt, wie sie der Gruppe insgesamt erst ihren perspektivischen Zweck verleiht. Zerbricht dieser Zusammenhang, so reduziert sich der Kampf um ein menschenwürdiges Leben schnell auf einen Kampf um's nackte Überleben. Die Organisation, ursprünglich nur Mittel zum Zweck, rückt in den Mittelpunkt; ihrem Erhalt wird alles andere nachgeordnet:

(1) Die Sorgfalt und Verantwortung gegenüber jedem einzelnen Militanten werden dem Zwang zur Reproduktion geopfert. Durch persönlichen Einsatz muß er wettmachen, was die Struktur nicht mehr gewährleistet. Es mag paradox klingen, ist in der Tendenz aber dennoch real: bei dem Versuch zu überleben, geht die Gruppe das Risiko ein, ihre letzten Kräfte zu verschleißen.

(2) An die Stelle von Kontinuität, Zeichen der Stärke einer Guerilla, treten sporadische Anschläge oder das große Schweigen, da ihre Kräfte durch den Zwang zur Selbstversorgung zunehmend anderweitig gebunden sind. Das Dilemma gipfelt in der gleichermaßen falschen Alternative, daß politische Aktionen entweder gänzlich abgeblasen werden, um den Bestand der Gruppe zu sichern oder aber quasi als Ausgleich zur fehlenden Kontinuität das Spektakel gesucht wird.

(3)

Obwohl die Lösung des Dilemmas wesentlich von der Überwindung des Bruchs mit der Bewegung abhängt, tendiert die Gruppe zum entgegengesetzten Extrem: sie sondert sich ab, nicht nur weil ihr nun die Zeit für den inneren Kontakt fehlt, sondern auch, weil sich aus der Not heraus der eigene Maßstab verschiebt. Alles, was läuft, wird daran gemessen, ob es der eigenen Gruppe zugute kommt oder nicht. Das linke Spektrum wird in zwei Lager geteilt: wer uns hilft, ist Freund; wer uns Unterstützung versagt, ein Gegner. Da sie über den eigenen Horizont kaum noch hinausschaut, verliert die Gruppe mit der Zeit den Sinn für tatsächliche politische Entwicklungen und damit überhaupt die Möglichkeit, ihre Isolierung zu überwinden. Die zwangsläufige Folge sind Ausweichmanöver:

  • die fehlende politische Unterstützung wird durch den Versuch einer technischen Spezialisierung ausgeglichen;
  • dem Verschleiß an Kräften folgt die Auflösung der autonomen und dezentralen Strukturen, um als zentralisierte Gruppe überhaupt noch handlungsfähig zu sein;
  • angewiesen auf Unterstützung geht die Gruppe "Bündnisse" ein und riskiert dabei den Verlust ihrer Autonomie, gerade weil sie in der Regel ein Produkt der Schwäche sind.

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