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Revolutionärer
Zorn Nr. 6 - Januar 1981
Die Kritik aus der Guerilla an die Guerilla
Verläßt jemand ein Komitee, eine Bürgerinitiative,
so wird darum in der Regel kein Aufhebens gemacht. Und selbst wer
sich auf Zeit oder Dauer auf sein gutbürgerliches Altenteil
zurückzieht, kann mit wohlwollendem Verständnis rechnen.
Wegbleiben als eine Form der Vermittlung politischer Entscheidung
ist gang und gäbe. Wo früher Maos Thesen "gegen den
Liberalismus" [8]
diskutiert wurden, ist heute - gewissermaßen als Antizipation
des Kommunismus - Marx' [9]
"jeder nach seinen Bedürfnissen" in die gute Stube
eingezogen. Darin eine Rückeroberung individueller Freiheit
gegen fremdbestimmten Inventionismus von annodunnemal zu sehen,
dazu bedarf es allerdings einer guten Portion Gehirnakrobatik. Was
Beliebigkeit und Unverbindlichkeit bestenfalls signalisieren, ist
ein erschreckendes Maß an Gleichgültigkeit, ist die Auflösung
von Solidarität. Dennoch mißt dieselbe Linke, die für
sich "Freizügigkeit" beansprucht und entsprechend
lax miteinander verkehrt, mit zweierlei Maß, wenn sie den
bewaffneten Gruppen ihre "Dissidenten" unter die Nase
reibt. Das Recht auf Fehler scheint ein Privileg derer, die nicht
einmal mehr Fehler machten. Der Austritt auf der Guerilla dient
als Bestätigung der eigenen Abgrenzung, der "Aussteiger"
wird funktionalisiert als Personifizierung der eigenen Vorbehalte.
Wenn er will, kann er Triumphe feiern, weil er den scheinbaren Niedergang
des bewaffneten Kampfes repräsentiert. Wir haben mehr als einmal
gesagt, daß die Entscheidung für die Guerilla nicht unwiderruflich
sein kann. Würden wir die RZ als den Zwangsverband zusammenschustern,
als der er denunziert wird, wären wir allemal längst aufgerieben.
Unsere Stärke ist die Identität jedes einzelnen. Ohne
den Willen, etwas zu tun, wird sich nichts tun. Subjektivität
- und das beinhaltet auch Freiwilligkeit - ist die treibende Kraft
des Ganzen und nicht etwa autoritärer Druck, Terror nach innen
oder gar Erpressung.
Unsere Krise der letzten Jahre hat sich am sichtbarsten gerade
darin niedergeschlagen, daß einzelne Militante den RZ den
Rücken gekehrt haben. Nicht Leute wie Klein, die ihren Abgang
in Szene setzen mußten, sondern Genoss/inn/en, für die
einstige Perspektiven fragwürdig geworden waren, denen die
Folgen eigenen Handels über den Kopf gewachsenen sind, die
in die Mühle der inneren Widersprüche geraten sind und
davon überrollt zu werden drohten. Jeder dieser Austritte hat
einen erheblichen Rückschlag bedeutet: politisch, weil jede/r
Genoss/in weniger uns objektiv schwächt, zumal die Entwicklung
illegaler Strukturen noch in den Kinderschuhen steckt; emotional,
weil die Zeit und die Bedingungen der gemeinsamen Organisierung
Beziehungen zwischen den Mitgliedern einer Gruppe entstehen lassen,
die nicht von einem Tag auf den anderen zu ersetzen sind; moralisch,
weil jede Trennung zugleich eine grundsätzliche Infragestellung
beinhaltet, die den Rest in den eigenen Überzeugungen verunsichert.
Die Einwände eines Menschen, mit dem man über Jahre gemeinsam
gekämpft hat und der plötzlich eine Sackgasse sieht, wo
man selbst meint auf dem richtigen Weg zu sein, lassen sich nicht
ad acta legen, als wäre nichts geschehen. Die Kritik an der
Guerilla aus der Guerilla hat ein eigenes Gewicht. Sie bedeutet
immer auch, daß wir noch weit entfernt davon sind, interne
Widersprüche als Moment der Entwicklung zu handhaben, anstatt
von ihnen aufgefressen zu werden.
Wir wollen uns im folgenden vor allem an zwei Positionen orientieren,
die innerhalb dieser Diskussionsprozesse eine Rolle gespielt haben.
Von der einen Seite wurde gesagt, daß zwischen der radikalen
Zielsetzung bewaffneten Widerstands und seiner tagtäglichen
Realität ein Bruch bestehe. Während der Kampf im Zusammenhang
der bewaffneten Gruppen immer auch als Prozess der Befreiung zum
selbstbewußten Menschen beschrieben worden sei, diktieren
die "Regeln" der Klandestinität den Militanten eine
Lebensweise, die eben diesen Prozeß blockiert. Die subjektive
Radikalisierung scheitere an den realen Sachzwängen. Damit
entfalle aber ein Moment, das wir selbst zur absoluten Maxime erhoben
hätten. Wenn die Kollektivität nicht entsteht, die entscheidenden
Rückhalt dafür bildet, daß sich der einzelnen in
diesem Kampf riskiert, wird die Guerilla auf Dauer ihre Militanten
verschleißen.
Die
zweite Position stellt die behauptete Effizienz der Politik der
RZ in Frage. Jede unserer Aktionen habe lediglich die Bedingungen
der nachfolgenden Aktionen erschwert, bis schließlich gar
nichts mehr gehe. Bewaffneter Widerstand sei zwar legitim, weil
jeder das Recht hat, auf die Zerstörung seiner Lebensbedingungen
durch die kapitalistischen Produktions- und Machtverhältnisse
mit dem Bedürfnis nach Destruktion zu reagieren.
"Man bleibt entweder terrorisiert oder wird selbst terroristisch"
(Sartre) [10]
Aber dieser Widerstand habe keine Perspektive von Sieg. Es sei
Selbstbetrug, wenn die Guerilla ihrer Praxis den Anstrich von Strategie
verleiht. Deshalb kann jeder nur mit sich selbst abmachen, ob er
die persönlichen Folgen eines ingesamt aussichtslosen Kampfes
in Kauf zu nehmen bereit ist oder sich lieber der andauernden Unterdrückung
und Erniedrigung zu entziehen versucht, indem er sich einen Platz
in einem der Reservate der Alternativkultur sichert.
Zersetzung macht stark
Haben also doch all diejenigen recht, die schon seit langem unken,
daß es sich bei der Darstellung der Guerilla eher um eine
harmonisierende Legendenbildung als um Realität handelt? Sind
die zitierten Positionen nicht beredtes Zeugnis dafür, daß
die Guerilla lediglich am eigenen Mythos bastelt, um ihre innere
Aufweichung zu kaschieren?
Wir bleiben dabei: NEIN.
Dennoch hat es in unserer Geschichte Erfahrungen gegeben, die Frage
der Individualität im Kampf um die Erneuerung der Gesellschaft
ebenso wie das Problem der politischen Wirksamkeit einer Praxis
bewaffneten Kampfes anders - weniger glatt, weniger unangreifbar
- zu diskutieren.
Es scheint eine verkehrte Relation zwischen der tatsächlichen
Stärke von Bewegungen und ihren jeweiligen Zielprojektionen
zu geben. Je weniger greifbar die Zukunft ist, desto plastischer
wird sie ideell vorweggenommen. Wo sich Resignation breitmacht,
wuchern gleichzeitig wilde Phantasien von einer befreiten Gesellschaft.
Die Parallelität zwischen realem politischen Bedeutungsverlust
und der Hochkonjunktur alternativer Lebensentwürfe ist frappierend.
Ob damit auch um politische Glaubwürdigkeit im Volk gewetteifert
wird, sei dahingestellt. Vorrang hat sicherlich der Wunsch, sich
im kleinen schon jetzt und unmitttelbar zu nehmen, was man machtpolitisch
weder kurz- noch langfristig je zu kriegen scheint. In dem Bemühen,
jene konstruktiven Modelle einer nachrevolutionären Periode
zu entwerfen und diese womöglich schon heute in Taschenformat
zu leben, ist jedoch eine Bestimmung des historischen Prozesses
unter den Teppich gekehrt worden, die für das Selbstverständnis
der autonomen Linken ursprünglich fundamental war: daß
Revolution Zersetzung heißt, daß sich der Bruch mit
der Gesellschaft in der radikalen Negation der kapitalistischen
Verwertung im umfassenden Sinne vollzieht.
"Die
erste positive Zielsetzung ist die Negation des Bestehenden "
(Marcuse) [11]
Das Warenverhältnis hat die Verkehrsformen der bürgerlichen
Gesellschaft, ihre Einrichtungen, ihre Technologien, ihre Moral
derart durchtränkt, daß ein Kompromiß ausgeschlossen
ist. "Wiederaneignung ist gleichbedeutend mit Verweigerung,
mit Sabotage, mit Destruktion, während Konstuktivität,
Vermittlung, Institutionen Attribute der Macht sind." Es galt
als Zeichen der Stärke, daß sich die Linke nicht hat
zwingen lassen, ihre Wünsche und Träume in festgeschriebene
Programme umzumünzen, die als Produkte des kolonisierten Kopfes
lediglich Zeugnis der zugerichteten Engstirnigkeit und Verkümmerung
hätten sein können. Die Aufforderung zur Produktivität
- Kritik solle, bitte schön, doch auch mal positiv sein - wurde
belächelt und zurückgewiesen als Versuch, uns die Flügel
schon bei den ersten Flugversuchen zu stutzen. Die Autonomie der
Bewegung basierte darauf, daß sie destruktiv war; das Verlangen
nach einem konstruktiven Beitrag galt als reformistisch, als Initiative
von oben, um die neuen Impulse einzusacken und zum Motor kapitalistischer
Entwicklung umzuformen. Nicht zufällig wurde "macht kaputt
was euch kaputt macht" zur perspektivischen Losung: Die Hoffung
auf eine abstrakte Zukunft realisierte sich in notorischer Feindseligkeit
gegen die greifbare und daher angreifbare Gegenwart. Gegen die Totalität
der Macht gibt es nur ein Mittel - die totale Verweigerung. "Das
radikale Bedürfnis nach Freiheit kann sich nur als militantes
Bedürfnis gegen den herrschenden Machtkomplex wirklich Luft
verschaffen." (Dutschke). [12]
Dieser Begriff von Revolution als Zersetzungsprozeß richtet
sich gleichermaßen gegen das Individuum selbst, das die als
falsch begriffene Welt attackiert, um wieder Geschichte zu werden.
Die Unfähigkeit zum Kompromiß mit der Gesellschaft spart
den Menschen nicht aus, der als Kind eben jeder Gesellschaft immer
auch ihr Opfer ist. Er kann zu dem, was er ist, nur durch die radikale
Negation dessen werden, was aus ihm gemacht worden ist. Identitätsfindung
heißt, die Nabelschnüre zur eigenen Herkunft zu kappen;
heißt, mit den kompensatorischen Gegenleistungen zu brechen,
die diese Gesellschaft aufzubieten hat; heißt, entschiedene
Zurückweisung von sozialer Anerkennung, von Belohnung und Bereicherung,
von falschen Sicherheiten, von fremdbestimmter Bedürfnisbefriedigung,
von Teilhabe an den unteren Gliederungen des Machtgefüges.
Die Radikalisierung der eigenen Person geht zunächst einmal
damit einher, daß einem sämtliche Felle davonschwimmen.
Wer den bestellten Boden aus guten Gründen verläßt,
kann dennoch nicht darauf vertrauen, daß er unmittelbar und
sofort gepflügtes Neuland betritt.
Die Attraktivität der Alternativbewegung bestand zum guten
Teil darin, daß sie so tut, als verwirkliche sich der Bruch
mit der Gesellschaft in der Herstellung einer neuen Positivität.
Statt an der Revolution festzuhalten, bietet sie ihren Anhängern
einen Hort der Zuflucht, worin vermeintliche Negation des Alten
und Entwurf des Neuen eine beschauliche Synthese eingehen. Ihr Versprechen
auf einen radikalen Wandel der Lebensverhältnisse löst
sie durch "kontinuierliche Andersartigkeit" ein, als wäre
es mit der "Reduktion der Differenz auf's Etikett" bereits
getan. Das vage Gefühl der Unzufriedenheit kanalisiert sie,
indem sie modelliert, wie es besser sein könnte. Sie spannt
die "Austeiger" in ihre Zukunftsprojekte ein, ohne ihnen
eine Chance zu lassen, "Rache zu üben für die erlittene
Ausbeutung, Erniedrigung, Beleidigung und Unterdrückung, indem
man die Verhältnisse zerstört, worin man der Gestoßene
war. Der Verzicht auf Rache, dem keine Revolution vorausging, bedeutet,
daß man die Unterdrücker gewähren läßt,
wenn man sich ihnen durch Flucht entziehen kann." (Pohrt).
[13] Indem sich die
Alternativen als "Fluchthelfer" des sich radikalisierenden
Individuums anbieten, reproduzieren sie jedoch exakt die Verhältnisse,
denen ihre Mitglieder eigentlich zu entkommen versuchten. Die Normen
der Andersartigkeit sind nur Variaten der herrschenden Regeln. Nicht
umsonst wird heute von den "Geschäftsführern"
[14] der Alternativbewegung
gewarnt, die die Leistungsgesellschaft hinten herum wieder einführen,
nicht umsonst spekulieren einige ihrer Wortführer auf finanzielle
Unterstützung aus der Staatskassen, wenn sie die entlastende
Funktion der Alternativprojekte für den Arbeitsmarkt ebenso
anpreisen, wie die dort realisierte Herausbildung eines neuen Produzententyps;
nicht umsonst feiern Selbstausbeutung und Unterwerfung unter die
Gesetze der Ökonomie gerade dort fröhliche Urstände,
wo sie in einem verbalen Kraftakt für null und nichtig erklärt
worden waren. Sachzwänge bleiben Sachzwänge, auch wenn
ihnen das Wörtchen "Alternativ" vorangestellt wird.
Um Mißverständnissen vorzubeugen: nicht, daß die
Umwälzung des Alltagslebens schon heute beansprucht wird, greifen
wir an. Wofür aber dieser Anspruch verabsolutiert und losgelöst
wird von der prinzipiellen Feindseligkeit gegen die kapitalistische
Kultur, wo der Rückzug auf die gettoisierte Selbstgefälligkeit
als allein seligmachende Alternative zum militanten Angriff gegen
den herrschenden Machtblock gehandelt wird, bleibt unter'm Strich
bestenfalls die "lebensreformerische Marotte" des radikalisierten
Individuums, das auf halber Strecke stehen bleibt und in Zukunft
seine Kaputtheit auf Kosten des noch Schwächeren kultivieren
und tätscheln wird.
Die Guerilla braucht sich diesen Vorwurf nicht machen zu lassen.
Sie hat an dem Zusammenhang zwischen revolutionärem Kampf und
Wiederaneignung von Identität festgehalten, als allerorten
der Marsch zum Rückzug in die Kleingruppe und die abgeschottete
Innerlichkeit geblasen wurde. Dennoch ist die Proklamation des neuen
Menschen durch die Guerilla nicht frei von einem ähnlichen
Mechanismus. Wo sich im Grunde erstmal ein Meer von Unsicherheiten,
von Infragestellung und Absage auftut, wird dem sogleich die harmonisierende
Version eines kämpfenden Kollektivs übergestülpt,
dessen Militante allein schon durch die Entscheidung für den
bewaffneten Widerstand alle Attribute des zukünftigen Mitglieds
einer befreiten Gesellschaft auf sich vereinigen. Gleichsam als
Entschädigung für den äußeren Druck wird die
vollzogene Befreiung in den Binnenstrukturen suggeriert. Der emanzipierte
Kämpfer, der frei von Leistungsdruck, Konkurrenz und Aggressivität
liebevoll und zärtlich mit seinesgleichen verkehrt, ist das
uneingelöste Versprechen, das die Guerilla gibt, um den inneren
Schweinehund totzukriegen, der den entgangenen Privilegien einer
bürgerlichen Existenz nachtrauert. Obwohl der "negatorische"
Prozeß noch in vollem Gange ist, wird schon wieder an der
Herstellung einer positiven Alternative gestrickt, damit der Sturz
nicht allzu tief ist. Daß so "Helden" gezeugt und
Gräben zur legalen Linken gezogen werden, ist nur die eine
Seite. Die Person des Kämpfers wird so sehr ins Unvorstellbare
transzendiert, daß die eigene Existenz zu einem Häufchen
Elend verkümmert und man/frau besser Reißaus nimmt. Zugleich
funktioniert die Proklamation des Subjekts nach innen als "Selbstansporn":
wenn sich die objektiven Bedingungen verschlechtern, muß das
revolutionäre Individuum die Kastanien aus dem Feuer holen.
Für Zweifel ist keine Zeit.
Innere Widersprüche sind ein Hemmschuh in der Erfüllung
der Verantwortung für die Geschichte. Der Wille des Einzelnen
wird zum ausschließlichen Motor gesellschaftlicher Dynamik,
koste es, was es wolle. Und es kostet: selbst die ständige
Beteuerung, daß sich in der Guerilla der neue Mensch verwirklicht,
kann auf Dauer nicht darüber hinwegtäuschen, daß
es sich dabei um einen widersprüchlichen, um einen schmerzlichen
Prozeß handelt. Wird dieser Prozeß negiert, werden falsche
Hoffnungen geweckt und genährt, deren Nichteinlösung allmählich
an die Substanz geht. Was in der oben skizzierten Kritik an der
RZ auch zum Ausdruck kommt, ist die enttäuschte Erwartung,
daß die Entscheidung für den bewaffneten Kampf "entlohnt"
wird, sei es nur in Form des sichtbaren politischen Erfolgs, sei
es als Wiederherstellung der verlorengegangenen Menschlichkeit in
den eigenen Reihen und zwar hier und heute.
"Gemessen an den landläufigen Vorstellungen hat der
Alltag eines Guerilleros wenig Heroisches."
Im Gegenteil: seine Entscheidung nötigt dem Militanten ein
Doppelleben auf, das voller Widersprüchlichkeiten steckt. Seine
sichtbare Identität ist nicht immer seine wirkliche Identität
und seine wirkliche Identität unterliegt dem Vorbehalt, möglichst
nicht sichtbar zu werden. Wo sich die Guerilla als Organisation
in dem strukturellen Widerspruch bewegt zwischen der politischen
Notwendigkeit, sich zu öffnen, um Teil der gesellschaftlichen
Auseinandersetzung zu sein (und zu bleiben) und dem taktischen Zwang,
sich abzuschotten, um sich vor Unterwanderung und Aufdeckung zu
schützen, steht der Einzelne in dem Konflikt, die Radikalität
seiner Entscheidung tagtäglich leben zu wollen und sich andererseits
aus Gründen der Abschirmung immer wieder zurücknehmen
zu müssen. Obwohl sich der illegale Zusammenhang aufgrund seiner
eigenen Logik nicht mit Halbheiten zufrieden geben darf, sondern
um Offenheit, Initiative und vorbehaltlose Solidarität kämpfen
muß, kommen die tatsächlichen Bedingungen von Klandestinität
und Illegalität der Entwicklung derartiger Verhaltensweisen
immer wieder in die Quere. Kollektivität besteht oft nur in
dem Bewußtsein, Gruppe zu sein und weniger in der erfahrbaren,
fühlbaren Praxis. Dies umso mehr, als die direkten Aktionen
nur einen verschwindend geringen Anteil an der generellen Praxis
der Organisierung von bewaffnetem Widerstand haben. Es wäre
naiv, die Guerilla auf die Momente ihrer praktischen Wirksamkeit
reduzieren zu wollen, auch wenn sie sich erst darin verwirklicht.
Und alle Mystifikationen und Idealisierungen, jegliches Flair von
Abenteuerlust, müssen verblassen vor dem Hintergrund der tatsächlichen
Relationen. Jede Intervention beruht auf einer Reihe von Vorarbeiten
- Bewegungen, Qualifikationen, Untersuchungen, Absicherungen, die
für sich selbst genommen in den seltensten Fällen den
globalen Ansprüchen genügen. Es ist als isolierte Tätigkeit
wahrlich nichts Revolutionäres, einen Transport zu machen oder
Informationen zu sammeln oder eine Unterkunft zu organisieren oder
Kilometer um Kilometer zu fressen, zu warten und wieder und wieder
miteinander zu diskutieren, auch wenn jede dieser Aktivitäten
unverzichtbares Glied einer ganzen Kette von Voraussetzungen ist,
ohne deren Bewerkstelligung wir vielleicht einzelne Aktionen zustande
gebracht, aber mit Sicherheit nicht eine gewisse Kontinuität
bewaffneten Widerstandes gewährleistet hätten.
Keine Frage, die Widersprüche, die aus der Entscheidung für
den gewaffneten Kampf folgen, zehren an der Identität. Die
notwendige Zurücknahme der eigenen Person hier, die geforderte
und doch nur ungenügend beanspruchte Totalität dort hinterläßt
das Gefühl der Zerissenheit. Und dennoch wäre es eine
Illusion zu hoffen, diese Widersprüche wären nach der
einen oder anderen Seite hin befriedigend auflösbar, statt
Kontrast gäbe es Harmonie. Ihnen entgehen kann nur, wer den
Rückzug antritt und damit Widersprüche ganz anderer Qualität
auf sich lädt: nämlich, statt gegen Unterdrückung
und Ausbeutung zu kämpfen, von ihnen zu profitieren, statt
Feind der herrschenden Verhältnisse plötzlich deren Nutznießer
zu sein. "Widersprüche bewußt aushalten, sie flexibel
zu handhaben und sie nicht leugnen oder verdrängen, kann hingegen
ein Moment der Stärke, der Kraft werden. Sie sind unmittelbarer
Ausdruck jenes Zersetzungsprozesses, den gerade der Metropolenmensch
auf sich nehmen muß." Daß dieser Prozeß schmerzlich
ist, ist klar. Er ist Konsequenz der Situation des Revolutionärs
in den Zentren, wo die Entwicklung von Radikalität einer Gratwanderung
gleicht. Stets auf der Kippe zur Kumpanei mit der Macht, ist er
darauf angewiesen, unerbittlich gegen sich selbst zu sein, an seiner
Moral festzuhalten und alle Strukturen von Macht, die sich in ihn
hinein verlängern, energisch zu bekämpfen. Wer Angst kennt
bzw. sich eingesteht, weiß was gemeint ist, weiß, daß
die "Überwindung von Angst ein gewaltiger Akt der Befreiung
ist", der nicht nur das Handeln, sondern auch das Denken aus
der Umklammerung fremder Infiltration löst. Zu Recht kritisiert
die AUTONOMIE, daß sowohl in der Legitimation der unbedingten
Militanz als auch in der großen Geste der Ohnmacht, die sich
selbst "gewaltfrei" nennt, Fragmente von Angst in Politik
übersetzt werden. So wirkt Herrschaft selbst in den Köpfen
derer nach, die eben diese Herrschaft doch mit ihrer ganzen Person
durchbrechen wollten. Und wo die Erzeugung von Ohnmacht,
die Demonstration der eigenen Nichtigkeit nicht ausreicht, treten
andere Mechanismen auf den Plan, die diese Gesellschaft nach wie
vor zusammenhalten. Die Rückversicherungstrategien, die den
Marsch durch die Institutionen ebenso begleiten wie den Rückzug
in die alternative Subkultur, sind ein Beleg dafür, daß
die Kompensation- und Korruptionsangebote der Gesellschaft selbst
unter "gestandenen" Linken noch lange nicht ihre Wirkung
verloren haben. Wer kennt nicht den Lehrer, der sich für den
Schulstress statt mit einer Bombe mit einer mehrwöchigen Erholungsreise
auf den Spuren des europäischen Kolonialismus "revanchiert",
um sie dem nachsetzenden neokolonialen Massentourismus zu erschliessen;
oder den genervten Sozialarbeiter, der Stück für Stück
seine einstige Sperrmüllkultur durch skandinavisches Teak plus
compact disc ersetzt und auf diese Weise doppelt reinfällt,
anstatt sich gegen seine Funktionalisierung als Sozialkontrolleur
zur Wehr zu setzen; oder den Prediger des biologischen Anbaus, der
erst Befreiung durch Armut im selbstgewählten Reservat versprochen
hat und nun die Früchte des Verzichts ernten will, indem er
die menschlichen Beziehungen zu seinem eigenen Vorteil erneut kommerzialisiert.
Konsum, Karriere, Prestige, Geld sind Verlockungen der Macht, die
den Menschen an den globalen Schuldzusammenhang imperialistischer
Strategie ketten sollen, deren Gegenpol auf Vernichtungskriegen,
Hungersnöten, unsäglicher Armut basiert.
"Wenn wir sagen, daß Freiheit nur möglich ist in
der Entscheidung gegen das herrschende System, so schließt
das auch Kompromißlosigkeit gegenüber den verinnerlichten
Gewaltverhältnissen ein."
Befreiung ist immer auch Kampf gegen die Unterwanderung des Subjekts
durch die Macht, die den Menschen bis in das Innerste seiner physischen
und psychischen Strukturen geformt und deformiert hat. Das vorweggenommene
"Reich der Freiheit", das die Guerilla sein wollte, bleibt
erst einmal ein harmonisierendes Zukunftsgemälde. Vor uns liegt
ein langer Weg der Zersetzung, der Destruktion, des wirklichen Bruchs
mit der Gesellschaft, auf dem jeder Versuch des frühzeitigen
Glättens eher ein Schritt zurück, als einen Schritt voran
bedeutet.
Es sollte klar sein, daß mit so verstandener Befreiung weder
individuelle "Kraftmeierei" noch ein gruppeninterner,
quasi therapeutischer Akt gemeint sein kann. Wenn wir Kampf sagen,
so ist Befreiung implizit als Element sozialer Prozesse definiert.
Und das schließt die ständige Wechselwirkung zwischen
kämpfender Gruppe und Massenbewegung ein. Nur im gegenseitigen
Austausch kann die Persönlichkeit des revolutionären Militanten
Gestalt annehmen, die mit der Vielfalt der Wirklichkeit noch vermittelt
ist. Wo dieser innere Kontakt wegfällt, läuft die Guerilla
Gefahr, daß sie den sich befreienden Menschen "schnell
zum reinen Kämpfer verselbständigt und die moralische
Identität, die sie sich aneignet, unhistorisch bleibt und sich
auf den inneren Gruppenzusammenhang beschränkt." (Roth)
Der Ausstieg einzelner Genoss/inn/en aus den RZ erklärt sich
auch aus diesem Zusammenhang. Nicht zufällig entsteht die Kritik
unter den Eindruck des deutschen Herbstes 1977, der ja nicht nur
eine Demonstration des tatsächlichen Gewaltpotentials "deutscher
Rechtsstaatlichkeit" war, sondern zugleich den drohenden Bruch
zwischen Massenbewegung und bewaffneten Gruppen endgültig zu
besiegeln schien. Signale waren allerdings schon lange gesetzt:
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