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82. Prozesstag: 20. Juni 2002
An keiner Stelle Unterwanderung
Einen unverhofft freien Vormittag brachte den Prozessbeteiligten
und -beobachterInnen der Genuß von Gänseleber seitens
eines der Richter ein: er hatte sich dabei den Magen verdorben,
mochte die beiden geladenen Polizeibeamten nicht hören, quälte
sich jedoch um 13 Uhr sichtlich angeschlagen zur Anhörung des
angereisten Gutachters, eines 39-jährigen Chemikers des Fraunhofer
Instituts für Fertigungstechnik und Materialforschung in Bremen,
noch einmal für drei Stunden in den Gerichtssaal. Das Gutachten,
von der Verteidigung beantragt, lag den Prozessbeteiligten bereits
vor: Es enthält das Ergebnis der Untersuchung eines blauen
Plastikmüllbeutels, der mit Sprengstoff gefüllt und mit
Klebeband verklebt - wie der Kronzeuge behauptete - 1995 im Seegraben
in Berlin versenkt worden sein soll.
Aufgabe des promovierten Diplomchemikers und Klebstoffexperten
war es, fest zu stellen, ob der vier Jahre später, also 1999,
geborgene Beutel und das Klebeband tatsächlich vier Jahre unter
Wasser im Seegraben gelegen haben könnten.
Unterwasserwelten
Vom Aussehen des Untersuchungsgegenstandes, der teilweise mit Schlick
bedeckt und mit Algen bewachsen war, schloss der Gutachter, dass
es sich beim Seegraben um "ein biologisch sehr aktives Gewässer"
handeln müsse. Insofern sei bei der Einwirkung des wässrigen
Mediums auf die Tüte und das Klebeband bei hoher biologischer
Aktivität davon auszugehen, dass diese den Haupteinfluss auf
das Klebeband habe.
Zunächst war der Klebstoff zu bestimmen, der, aufgebracht
auf die Trägersubstanz, das Klebeband zu einem solchen macht.
Es gebe zwei Beschichtungen, erklärte der Fachmann: Polyacrylate
oder Kautschuk. Beim vorliegenden Klebeband handelt es sich beim
Träger um eine PVC-Folie, beim Kleber um gummibasiertes Naturkautschuk,
dessen Altersbestimmung und die Festlegung auf eine Zeitspanne,
die es im Wasser gelegen habe, nicht so leicht sei. Überraschend
für die Forscher war, dass die Klebemasse an den meisten Stellen
intakt war, sogar an einer Stelle, wo die Klebeschicht - an der
auch ein Grashalm haftete - direkt dem Wasser ausgesetzt war. Dabei
sei auch auffällig, dass in einer Falte des Klebebandes, in
der Algenbewuchs festzustellen war, dieser nicht vollständig
innerhalb der gesamten von der Falte dem Wasser ausgesetzten Fläche
anzutreffen sei. Zwar sei es möglich, dass der Klebemasse biozide
Substanzen beigemengt worden waren, doch sei dies nicht nur unüblich
sondern auch unwahrscheinlich. Immerhin ausschließen mochte
es der Wissenschaftler nicht. Insbesondere dieser nicht vollständige
Bewuchs des Falteninneren ließ den Sachverständigen zu
dem Schluss kommen, dass die Sprengastofftüte höchstens
"Wochen bis Monate" im Wasser gelegen haben könne.
Doch das KLebeband wies weitere signifikante Veränderungen
auf: an etlichen Stellen seien oxidative Schädigungen auszumachen.
Daraus schloss der Chemiker, dass es sich um ein altes Klebeband
handeln müsse. Das heißt, das Band muss längere
Zeit Sonnenlicht und Wärme ausgesetzt gewesen sein. Da das
Seegraben- Wasser, was man aus dem Verschmutzungsgrad des Asservats
schließen könne, eher trüb und von Schwebstoffen
durchsetzt sein müsse, müsse davon ausgegangen werden,
dass diese Licht- und Wärmeeinwirkungen auf das Paket vor der
Versenkung im Graben oder nach seiner Bergung stattgefunden haben
müssten.
Er komme aufgrund einer Reihe von Hinweisen zu diesem Schluss,
müsse aber als Wissenschaftler darauf bestehen, dass seine
Schlussfolgerung kein Beweis sei.
Auf Nachfrage Frau Hennigs erklärte der Sachverständige,
dass das Klebeband aufgrund seiner sehr spezifischen Oberflächenstruktur
mit hoher Wahrscheinlichkeit als ein für maschinelles Verkleben
hergestelltes Produkt der Firma Beierdorf, nämlich das Tesa-
Klebeband 4100, identifiziert werden könne, das nicht im Einzelhandel
erhältlich sei. Durch die oxidativen Schädigungen seien
Träger und Kleber des untersuchten und des Vergleichsmaterials
nicht identisch. Auf Nachhaken der Vorsitzenden Richterin, weshalb
er sich mit seiner Identifizierung so sicher sei, erläuterte
der Experte, dass es ein großer Zufall sein müsse, wenn
ein anderer Klebeband- Hersteller eine mit der Tesa- Oberfläche
identische Folienstruktur produzieren würde. Die Nicht- Übereinstimmung
von Asservat und Vergleichsband sei auf diverse oxidativen Schädigungen
zurück zu führen, die man als sogenannte Verlackung auch
zuhause bei auf dem Fensterbrett liegen gelassenen und so der Sonne
ausgesetzten Klebebändern etwa auf Briefen beobachten könne.
Ob die Schäden am Klebeband auch durch die im Wasser lebenden
Mikroorganismen verursacht worden sein könnten, könne
er nicht sagen, da er sich zu wenig mit Mikrobiologie auskenne,
räumte der Chemiker ein. Wie lange solche Mikroorganismen zum
Zersetzen eines Klebebands im Wasser denn bräuchten, wollte
Frau Hennig dennoch von ihm wissen. An dieser Stelle berief sich
der Gutachter auf einen Mikrobiologen, den er auch in seinem Gutachten
zitiert hatte und dessen Aufsatz über "Bakterielle Zersetzung
von Naturkautschuk" dem Gutachten in englischer Sprache auch beigefügt
ist. Dem Aufsatz sei zu entnehmen, dass es dabei auf die beteiligten
Bakterienarten ankomme. Es würde ihn nach der Lektüre
dieses Aufsatzes wundern, wenn ein in der Erde verbuddelter Latexhandschuh
dort einen Monat überstehen würde, so der Gutachter. Es
sei freilich nicht auszuschließen, dass falls dem Kleber ein
Biozid - das jedoch nur die Bakterien nicht jedoch die Algen schädige
- beigemengt gewesen sei, das der Grund sein könnte, dass das
Material auch nach Jahren noch weitgehend unbeschädigt und
klebrig sei. Das könne man mit Sicherheit jedoch nur in einem
sehr aufwändigen Langzeitversuch zu klären versuchen.
Ein solcher sei mit erheblichem Aufwand entweder im Labor anzuordnen,
wo jedoch spätestens nach einigen Wochen durch Fäulnis
grundlegend verändert würde. Oder man würde Material
wieder - im Extremfall bis zu vier Jahren - dem Seegraben aussetzen.
Auch danach sei es nicht auszuschließen, dass das Klebeband
mikrobiologisch nicht zersetzt sei, was aber sehr unwahrscheinlich
sei. Sinnvolle Auskünfte würde er von einem mindestens
mehr als achtwöchigen Versuch nicht erwarten, es werde keine
sinnvollen Auskünfte jedoch erhebliche Verzögerungen geben.
Aus gekochten Eiern schlüpfen keine Küken
Im Zusammenhang mit den Mikroorganismen auf die Wassertemperatur
angesprochen, erklärte der Chemiker, dass chemische Prozesse
durch Temperatur freilich beschleunigt oder gedrosselt werden könnten,
man einen Versuch also durchaus mit erhöhter Temperatur beschleunigen
könne. Das gelte natürlich nicht für die biologischen
Prozesse, denn: "Wenn man ein Ei unter eine Henne legt, schlüpft
irgendwann ein Küken. Legt man das Ei jedoch in kochendes Wasser,
wird kein Küken schlüpfen".
Nun war große Fragestunde all derer, die vermutlich nie über
"Meinen Chemiekasten" hinaus gekommen sind: Richter Hanschke etwa
wollte wissen, ob die oxidativen Zerstörungen nicht auf eine
lange Lagerzeit im Wasser hindeuten könnten, dabei interpretierte
er laienhaft die Ausschläge auf einem Diagramm. Der Gutachter
betonte noch einmal, dass es unwahrscheinlich sei, dass die genannten
Schäden unter Wasser entstanden seien, es gebe auch keinerlei
Hinweise auf Einwaschungen von Wasser in den Klebstoff, was seine
These unterstreiche. Auch Hinweise auf einen unterschiedlichen Zustand
der Klebemasse unter dem Algenbewuchs gebe es nicht. Der Gutachter
erklärte ein weiteres Mal, dass die Beimengung von Bioziden
in die Klebemasse unwahrscheinlich sei, und dass er nach solchen
auch nicht gesucht habe, denn aufs Geratewohl zu suchen sei uferlos.
An keiner Stelle der Klebefläche habe es eine Unterwanderung
gegeben. Und da das Klebeband auch nicht für den Gebrauch im
Wasser vorgesehen sei, gebe es auch keine entsprechenden Untersuchungen.
Wohl gebe es eine Untersuchung über Klebstoffe in der Autoindustrie,
wo schon nach einem Monat im Wasser ein Eindringen der Flüssigkeit
in den Klebstoff von bis zu einem Millimeter festzustellen seien.
Ob die oxidativen Schädigungen des Klebebandes in oder außerhalb
des Wassers stattgefunden hätten, könne nicht nachgewiesen
werden, räumte der Chemiker ein. Sie stammten jedoch nicht
vom Wasser sondern von Licht und Wärme. Könne es denn
nicht sein, dass das Paket auch unter Wasser zunächst dem Sonnenlicht
ausgesetzt gewesen sei, wollte Richter Alban wissen, ehe es im Schlick
nach unten und ins Dunkel gesackt sei. Der Gutachter verneinte dies,
da auch dort, wo mehrere Lagen des Klebebandes übereinander
waren, keinerlei Unterschiede im Grad der Zersetzung festgestellt
werden konnten. Er bleibe bei seiner These der nur kurzzeitigen
Lagerung unter Wasser: "Wasser ist eines der am stärksten Schädigenden
Medien, mit denen wir täglich zu kämpfen haben, weshalb
es unvorstellbar sei, dass man das Paket nach vier Jahren da unversehrt
rauszieht!" Er bleibe dabei, dass dies auch seinen allgemeinen Erfahrungen
entspreche: er sei deshalb auch überrascht gewesen über
das nahezu unversehrte Material, das er zu untersuchen bekam. Er
könne mit 80 prozentiger Wahrscheinlichkeit und ausgehend von
der Literatur sagen, dass das Paket nicht mehr als eine Vegetationsperiode
im Wasser gelegen habe.
Was präferiert ein Bakterium
Nun hatte die Stunde des jungen, aufstrebenden Bundesanwalts Valenta
geschlagen, Er hatte es offenbar auf sich genommen, den wissenschaftlichen
Aufsatz u.a. des Stuttgarter Mikrobiologen Dieter Jendrossek mit
dem Titel "Bacterial degradation of natural rubber: a privilege
of actinomycetes?"(FEMS Microbiology Letters 150 (1997) 179 - 188
durchzuarbeiten und mit für das bisherige Agieren der BAW untypischen
Eifer und Fleiß einige tückische Fragen aufzuwerfen.
Es ging um die Zusammensetzung des Klebstoffs, seine Spezifika und
Unterschiede zu künstlichen Klebern, die genaue Rezeptur der
Klebmasse, die Beschaffenheit des Trägermaterials PVC, die
Reinheit des im Klebstoff verwendeten Naturkautschuk im Vergleich
zu der in dem Aufsatz verwendeten sehr reinen Variante des Stoffs,
die Bakterienarten, die Kautschuk angreifen und zersetzen und wo
sie vorkommen und dergleichen der Entropie verpflichtete Dinge.
Der Nicht- Mikrobiologe schlug sich tapfer und verwies auf den Aufsatz
des Kollegen. Doch - ha! - den hatte dieser kampflustige Bundesanwalt,
der dafür auch in der Mitte zwischen den Kollegen sitzen durfte,
so gründlich gelesen wie sonst noch kein Dokument von der BAW
studiert worden war! Er ließ mit mikrobiologischer Verve seine
Zweifel an den Aussagen des Stuttgarter Wissenschaftlers hören:
von 33 Kautschuk- Stichproben in unterschiedlichem Milieu seien
immerhin drei - das seien 10 Prozent - nicht von Bakterien zersetzt
worden, außerdem hätte die überwiegende Zahl der
Versuche nicht im Wasser stattgefunden! Ein Latexhandschuh sei kein
Kleber, war da zu hören ebenso wie die Frage, was er, der Bundesanwalt,
wohl an der Stelle eines Bakteriums tun würde: würde er
wirklich das Kautschuk verzehren oder sich lieber andere kohlenstoffhaltige
Köstlichkeiten einverleiben. Dabei verwies er sogar auf die
im Text veröffentlichten Tabellen, in denen es hieß,
bessere als Kautschukkohlenstoffe würden Bakterien eher dazu
bewegen, vom Kautschuk abzulassen und sich anderen Destruktionen
zuwenden. Bundesanwalt Bruns, sichtlich zufrieden mit dem Parforce-
Ritt seines Chemical brothers, verstieg sich sogar zu der Bemerkung
an den Sachverständigen: Was wir hier haben [das Gutachten]
ist nichts!
Schließlich versuchte es dieser Herr in seiner unnachahmlich
selbstgefälligen Art gemeinsam mit Herrn Richter Alban, dem
Gutachter gar Ansprachen und persönliche Verbindungen zu RAin
Studzinsky zu unterstellen, die die Gutachter angefragt hatte. Gutachter
im übrigen, die auch das BKA schon im Zusammenhang mit Sprengstoff
und Klebebändern bemüht hatte, das seit 30 Jahren in der
Klebstoffforschung und -entwicklung tätig sowie 100 Mitarbeiter
im Klebstoffbereich beschäftigt. Solche Unverschämtheiten
lassen darauf schließen, dass Anklage und Gericht erkannt
haben, dass mit der Klärung der Seegraben- Frage das Konzept
Kronzeuge in diesem Verfahren steht und fällt, im Moment eher
fällt!
Der Sachverständige wurde vereidigt, jedoch nicht entlassen,
solange - so einer der VerteidigerInnen - die Schlußfolgerungen
des Gerichts nicht geäußert sei und klar gestellt sei,
dass alle alles gleich verstanden hätten.
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