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120. Prozesstag: 20. März 2003

Doppelschlag gegen das Kammergericht

Die morgendliche Zeitungslektüre ließ bereits aufhorchen. Im "Tagesspiegel" lautete die Überschrift "RZ-Prozess steht vor dem Aus", in der "Berliner Zeitung" war zu lesen "Teilerfolg für 'Revolutionäre Zellen'". Im Prozess ging es dann ähnlich kurios weiter: Die Vorsitzende Richterin Gisela Hennig gefiel sich mit einem sachlich nicht gerechtfertigten Anwurf gegenüber der Verteidigung von Harald G.. Da habe sich doch Anwältin Studzinsky in ihrem letzten Beweisantrag erdreistet, den "falschen Eindruck zu erwecken", als seien Akten nicht vorhanden. Drei Bände seien im März 2002 übersandt worden und zumindest Frau Stuyzinksy lägen diese vor. Eine genauere Lektüre der Beweisanträge, legte die so gescholtene darauf hin Frau Hennig nahe. Darin werde nämlich die "vollständige" Beiziehung beantragt, so Verteidigerin Studzinsky, übergeben sei allerdings nur eine unvollständige Fassung der Akte 196/99 und die Akte 64/2000 fehle ganz, der Vorwurf falle also direkt auf den Senat zurück. Und auch Rechtsanwalt Kaleck konnte nicht umhin, seinen Unmut zu äußeren. Das sei schon ein starkes Stück, das sich hier die Vorsitzende Richterin leiste.

Nervosität verdeckt hinter falschen Anschuldigungen

Hintergrund ist der Antrag vom letzten Verhandlungstag auf vollständige Beiziehung so genannter Strukturakten, die im Zusammenhang mit der von Mousli behaupteten konspirativen Wohnung in der Oranienstraße in Berlin-Kreuzberg geführt worden sind, und in denen das Bundeskriminalamt (BKA) offensichtlich relevante Ermittlungsergebnisse abgelegt hat, die Ergebnisse beinhalten, die nicht die Aussagen des Kronzeugen Tarek Mousli stützen, und die so dem Senat und der Verteidigung vorenthalten werden sollten. (vgl. 119. Prozesstag)

Das am letzten Verhandlungstag bekannt gewordene erneute Beispiel für die Vorenthaltung von Ermittlungsergebnissen, hier die Ermittlungen zu den Mietverhältnissen im Haus Oranienstraße 9 zwischen 1985 und 1990 durch das BKA im Februar/März 2001, war Gegenstand einer Stellungnahme von Rechtsanwältin Würdinger. Bundesanwalt Bruns hatte am letzten Prozesstag "überraschend" diese Ermittlungsakte präsentiert und behauptet, von deren Existenz erst am 11.3. erfahren zu haben, was er dann in einem Schreiben vom 17.3. weiter ausführte. Die darin zum Ausdruck gebrachten "Ausklärungsbemühungen" - so Rechtsanwältin Würdinger - seien jedoch "unzureichend und greifen zu kurz". Bruns erwecke den Eindruck, diese Ermittlungsergebnisse seien der Bundesanwaltschaft (BAW) vorenthalten worden. Allerdings habe er in einem Schreiben vom 11.3. vergangenen Jahres behauptet, er habe Kenntnis von allen beiden Strukturverfahrensakten. Vor diesem Hintergrund könne sich der Senat in Zukunft nicht mehr mit der Auswahl und Vorlage einzelner Aktenbestandteile durch die BAW "zufrieden" geben, er sei vielmehr zu eigenständiger Aufklärungsarbeit angehalten.

Bin Laden ist schuld

Bruns selber versuchte heute erneut, den Vorgang zu erklären. Das die Akten nicht früher allen Prozessbeteiligten zugänglich gemacht wurden, "bedauern wir", so der Sitzungsvertreter des Generalbundesanwalt. Zweifel an der Aufklärungspflicht der BAW seien nicht angebracht, vielmehr sei es so, dass dem BAW selbst nicht alle Ermittlungsunterlagen des BKA vorliegen würden. Dies sei normal. Vollständige Akten lägen bei der BAW erst vor, wenn das Ermittlungsverfahren abgeschlossen sei, so versicherte der Verfahrensherr über alle Ermittlungen, der ein Staatsanwalt hierzulande nun mal ist. Außerdem sei das BKA nach den Anschlägen am 11. September 2001 personell so überlastet gewesen, dass so eine "fehlerhafte Handhabung" schon mal passieren könne.

Einigermaßen verblüfft, zeigte sich daraufhin Rechtsanwalt König. "Es kann ja sein, dass meine Vorstellungen über ein Strafermittlungsverfahren etwas romantisch sind", aber das ein Vorgang, der über zwei Jahre zurückliege, der verfahrensführenden Staatsanwaltschaft nicht bekannt sei, habe er nun doch nicht für möglich gehalten. Rechtsanwalt Kaleck zog im weiteren Verlauf den einzig konsequenten Schluss. Die Stellungnahme von Bruns habe gezeigt, wie berechtigt das Misstrauen gegenüber der selektiven Aktenauswahl durch die BAW sei. Er forderte deshalb den Senat auf, von Amtswegen die Übermittlung der entsprechenden Akten anzuordnen.

Vorenthaltene Ermittlungen, z.B. VS, z.B. Siegessäule

So beantragte er die Beiziehung des gesamten, ungeschwärzten Vorgangs, der im Zusammenhang mit einem Schreiben des Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV) Berlin an das BKA steht. In diesem Schreiben geht es um Ermittlungen im Spätsommer/Herbst 1999, wobei von einer Vereinbarung zwischen den beiden Ämtern die Rede ist. Aufklärung erwartet die Verteidigung von Matthias B. dadurch u.a. zu dem Satz "Der vorstehende Sachverhalt kann in das Ermittlungsverfahren eingeführt werden". Wie aus dem Zusammenhang deutlich wird, geht es hier um die Einbürgerungsverfahren von Tarek Mousli 1986 und Anfang der 90er Jahre und das Verschwinden entsprechender amtlicher Unterlagen.

Die Verteidigung von Harald G. legte auch nach. In den geschwärzt übersandten VS-Akten war sie auf einen so genannten Sprechzettel der BKA-Beamten Schulzke und Trede gestoßen, in dem im Zusammengang mit dem Siegessäulenanschlag 1991 von "umfangreichen Ermittlungen gegen die Person, bei der Sprengstoff beschlagnahmt worden war", berichtet wird. Mit dieser Person dürfte der Berliner Kleinkriminelle Daniel S. gemeint sein. Allerdings tauchen in den vorliegende Ermittlungsakten keinerlei Ermittlungstätigkeiten zu S. auf. Diese neue Erkenntnis nahm die Verteidigung zum Anlass, die Beiziehung dieser "unfangreichen Ermittlungen" zu beantragen. Auch hier vermutet sie, dass durch die Vorenthaltung dieser Ermittlungen, Angaben zurückgehalten werden sollen, die Angaben Mouslis widerlegen würden. Außerdem zeigt sich die Verteidigung davon überzeigt, dass dadurch beweisen wird, dass Ermittlungen zum Sprengstofffund bei S. bereits seit April 1995 im Zusammenhang mit der RZ geführt wurden und nicht erst seit 1997, wie bislang behauptet.

Offizielles Programm: Verlesung

Da Tarek Mousli ausgeladen worden war, stand der Senat in der Pflicht ein Ersatzprogramm zu bieten. Wie nicht anders zu erwarten, bestand es aus einer Verlesung. Zu Gehör kamen die Haftbefehle von Rudolf Sch. und Sabine E. aus dem Jahre 1978 und deren Aufhebungsbeschlüsse wegen "Einstellung des Verfahrens wegen Verfolgungsverjährung" im Jahr 1988.

Inoffizielles Programm: Verwaltungsgerichtsbeschluss

Der am Mittwoch bekannt gewordene Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin - der wie ein Damoklesschwert heute von Beginn an über der heutigen Hauptverhandlung schwebte - wurde am Ende des Verhandlungstages durch Rechtsanwältin Studzinsky eingeführt. Ihr Mandant hatte vor dem Verwaltungsgericht auf die Herausgabe ungeschwärzter Vernehmungsprotokolle des Verfassungsschutzes mit dem Kronzeugen Tarek Mousli geklagt. Weil durch eine ungeschwärzte Übermittlung dem "Wohl des Bundes Nachteile" bereitet würden, so hatte das Bundesinnenministerium die Schwärzungen in einer so genannten Sperrerklärung begründet. Nach Ansicht der Verwaltungsrichter allerdings rechtwidrig, denn die Speererklärung sei nicht frei von Mängeln.

In ihrem Beschluss stellen die Verwaltungsrichter fest, dass eine anhängige Klage gegen die Sperrerklärung Aussicht auf Erfolg habe. Dies sei erforderlich, "um seinem Anspruch auf ein rechtsstaatliches, faires Strafverfahren gerecht zu werden", wie es in dem Beschluss heißt. Das Verwaltungsgericht lehnte es allerdings ab, im Eilverfahren das Innenministerium zur Herausgabe der ungeschwärzten Vernehmungsprotokolle zu verpflichten. Vielmehr sei für eine Entscheidung in der Sache das Hauptsacheverfahren abzuwarten, so die Richter. Dabei habe Harald G. "Anspruch auf Aussetzung der Hauptverhandlung vor dem Strafgericht". Steht somit der RZ-Prozess vor dem Aus, wie der "Tagesspiegel" meint? Wenn der Aussetzung stattgegeben wird, ja. Denn die Verhandlung kann längstens für 30 Tage unterbrochen werden, das Verfahren beim Verwaltungsgericht aber dauert Jahre. Rechtsanwältin Studzinsky forderte jedenfalls das Kammergericht auf, von sich aus das Verfahren auszusetzen. Und kündigte vorsorglich bereits jetzt an, am nächsten Verhandlungstag entsprechende Aussetzungsanträge zu stellen, falls der Senat bis dahin nicht gehandelt habe.

Bestimmte Vernehmungsweise war Geschäftsgrundlage

Doch nicht nur an diesem Punkt bringt der Beschluss der Verwaltungsgerichtskollegen die Richter des Kammergerichts in die Bredouille. Auch ihre Ausführungen in Punkto Aussagegenese des Kronzeugen Tarek Mousli hat es in sich. So stellen die Verwaltungsrichter hinsichtlich der Sperrerklärung des Innenministeriums fest, dass sie "dem Hauptanliegen der Verteidigung, nämlich eine bestimmte 'Entwicklung' des Aussageverhaltens des Kronzeugen Mousli belegen zu wollen, nur einen kurzen Absatz widmet". In diesem Absatz wird argumentiert, eine Beeinflussung des Aussageverhaltens des Kronzeugen sei bei einer entsprechenden Überprüfung nicht festgestellt worden. Nach Auffassung der Verwaltungsrichter sei diese "Begründung" jedoch schon "deswegen nicht tragfähig, weil sie bereits durch den Inhalt der nicht geschwärzten Protokollteile widerlegt wird". Diesen ungeschwärzten Stellen sei nämlich zu entnehmen, "dass eine bestimmte Vernehmungsweise quasi Geschäftsgrundlage" gewesen sei, "die naturgemäß zu einer Veränderung der Aussageinhalte geführt haben muss".

Dem Erinnerungsvermögen Mouslis sei - so die Richter - mit "unterstützender Hilfe" auf die Sprünge geholfen worden, als ihm unter anderem Namen und Fotos "seitens der Vernehmenden vorgenannt" wurden. Unabhängig davon, ob es sich dabei um ein "Soufflieren" handelt, wie es die Verteidigung nennt, oder ob es "schlicht ein Wiedererlangen zwischenzeitlich in Vergessenheit geratener Kenntnisse" ist, so könne jedoch "nicht ernstlich bezweifelt werden, dass der dem Zeugen für seine Aussagen zur Verfügung stehende Kenntnisstand einer bestimmten 'Entwicklung' unterworfen war". In Frage stehe also nicht, "ob es eine solche 'Entwicklung' gegeben hat, sondern ... welchem Umfang und welche Themen betreffend die 'Entwicklung' stattgefunden hat."

Der Verhandlungstag am 27.3. ist aufgehoben. Der Prozess wird am Freitag, den 28.3. um 9.15 Uhr fortgesetzt.

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