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14. Prozesstag: 19. Juli 2001

19 Monate sind genug

Die Verfahrensbeteiligten wurden heute von einer Publikumsaktion überrascht. Mit dem T-Shirt-Aufdruck 19 Monate sind 19 Monate zuviel stellte sich ein größerer Teil der heutigen BesucherInnen auf den wiederum vollbesetzten Zuschauerbänken zu einem lebenden Spruchband aus 26 Buchstaben und Ziffern zusammen. Diese plakative Aussage in der ersten Reihe wurde mit allgemeiner Zustimmung aufgenommen, von den Angeklagten mit offener Freude, von den Vertretern der Anklage und dem Gericht zumindest mit unübersehbarem Interesse.

Die Akten sagen alles...

Am Vormittag wurde erneut der pensionierte BKA-Beamte Schulzke in den Zeugenstand gerufen. Als Ermittlungsleiter in Sachen "Revolutionäre Zellen" sollte er Auskunft über das Verfahren geben, das zur angeblichen Identifizierung der Angeklagten geführt hat. Die Vorsitzende Richterin hielt den Beamten dazu an, sich an seine Erinnerung zu halten und nicht Akteninhalte zu referieren. Schulzke erklärte, dem Kronzeugen Mousli seien Ende Januar 2000 in der JVA Köln-Ossendorf anläßlich einer zweitägigen Vernehmung Lichtbilder vorgelegt worden, auf denen er die Personen mit den Decknamen "Jon", "Judith", "Siggi", "Anton" und "Heiner" identifiziert haben soll. Den Angeklagten Axel H. soll der Kronzeuge dabei spontan mit "Klarnamen" benannt haben, während er bei allen anderen lediglich die Übereinstimmung der Fotos mit ihm bekannten Personen aus der "Gruppe" bestätigt haben soll. Beim Foto von "Heiner" will er zunächst die Identität eines Hans Ulrich D. vermutet haben, die Kenntnis der anderen wirklichen Namen aber z.T. ausdrücklich verneint haben. Bei weitergehenden Fragen des Gerichtes verwies der Beamte fortlaufend auf vorhandene Protokolle in den Ermittlungsakten, die den ordnungsgemäßen und vollständigen Ablauf der sog. Wahlbildvorlage widerspiegeln würden. Er berief sich dabei wiederholt auf § 18 der Richtlinien für Strafermittlungsverfahren, die dabei genauestens eingehalten worden seien: Alles "korrekt", war ein ständig von ihm benutzter Ausdruck während seiner Vernehmung.

Wurde der Kronzeuge Tarek Mousli beeinflußt?

Die VerteidigerInnen nutzten ihr Fragerecht, um die Vorgänge, die zur Identifizierung durch die Wahlbildvorlage führten, nachvollziehbar zu erhellen. Die Zeugeneinvernahme machte deutlich, dass bereits vor Beginn der Vernehmung ein vorgefertigtes Dossier über die bisherigen Aussagen des Kronzeugen zu "Heiner" existierte. Die entscheidende Frage, ob dem Kronzeugen diese Zusammenfassung vor, während oder nach der zur Identifizierung führenden Lichtbildvorlage gezeigt worden war, zog zeitweilig heftige Auseinandersetzungen zwischen allen Verfahrensbeteiligten nach sich. Der Beamte sagte zunächst aus, dass dies zu Beginn der Vernehmung erfolgt sei, also kurz bevor der Kronzeuge seine ursprüngliche Mutmaßung, Hans-Ulrich D. sei die Person, revidierte. Später konnte sich Schulzke dann nicht mehr genau an den Hergang erinnern, und letztlich verwies er auf das Protokoll in den Akten. Die Möglichkeit, dass dem Kronzeugen eventuell vorab Namen genannt worden seien könnten, wies der Beamte weit von sich. Allerdings habe es vor den diversen Vernehmungen regelmäßige vorbereitende Gespräche mit dem Kronzeugen gegeben. Eine Verhandlungsunterbrechung nutzte der BKA-Mann dazu, hinter den verschlossenen Vorhängen einer Kontrollkabine im Gerichtsgebäude mit ungestörten Aktenstudium sein Gedächtnis zu aktualisieren, wurde dabei aber von der Rechtsanwältin Lunnebach und dem hinzu eilenden Bundesanwalt Bruns gestört.

Die nach der Unterbrechung folgenden Vorhalte der RechtsanwältInnen Lunnebach und Kaleck förderten weitere Besonderheiten im Ablauf zu Tage. Die ca. 50 Fotos der Bildmappe wurden der Reihe nach vorgelegt, und die entsprechenden Beschuldigungen des Kronzeugen dazu protokolliert, so die Erinnerung des Zeugen. Als die zweite Staffel der Fotos ab Nr. 30 mit der Ablichtung des später angeblich identifizierten Angeklagten Matthias B. folgen sollte, erstellten die Ermittlungsbeamten eine zweites paralleles Vernehmungsprotokoll. Der Zeuge gab dazu an, dass dies eine "logistische Trennung" gewesen sei, die mit "arbeitstaktischen" Erleichterungen für das BKA im angestrebten Ermittlungsverfahren gegen "Heiner" zu begründen sei. Schulzke räumte ein, dass dies in der gesamten Vernehmung die einzige derartige "Trennung" war.

Wieder Fragen ohne Antworten

Letztlich konnte nicht schlüssig erläutert werden, warum eine Zusammenfassung der Ermittlungsergebnisse zu "Heiner" gerade zu diesem Zeitpunkt erstellt wurde. Auch die Frage, ob die Ermittlungsbeamten eine Identifizierung vor der Lichtbildauswahl vermutet hatten und deshalb schon vorher dieses Dossier erstellt hatten, konnte nicht geklärt werden. Folglich bleibt dann auch im Unklaren, ob die unmittelbar anschließende Aussage des Kronzeugen, bei der er die Zuordnung des "Heiner" zu Bild Nr. 36 vornahm, durch die zuvor gegebenen Informationen beeinflusst worden ist. Und schließlich, wie die einmalige und unübliche vernehmungstaktische "logistische Trennung" während der Vernehmung im Gefängnis Köln-Ossendorf damit in Verbindung steht.

Eine Geschichte, die das Leben schreibt

Im zweiten Teil der Verhandlung nach der Mittagspause gab der als Zeuge geladene Bundesanwalt Peter Morré Auskunft über seine Kontakte zu Mousli und seine "persönlichen" Erkenntnisse zu "Heiner". Morré hat seit den 70er Jahren zahlreiche Verfahren der BAW gegen vermeintliche RZ-Mitglieder (u.a. Gerd A., Thomas K., Sabine E. und Rudolf Sch.) geführt und gilt bei den Ermittlungsbehörden als "Kenner der Szene". Seit 1981 leitete er das Ermittlungsverfahren zum Tatkomplex Karry. Karry, ehemaliger Wirtschaftsminister von Hessen, war 1981 bei einem Anschlag, der den RZ zur Last gelegt wird, ums Leben gekommen. Das Verfahren war nach seiner Aufnahme danach mehrmals eingestellt und wieder aufgenommen worden, ohne jedoch zu konkreten Ergebnissen zu führen. Nachdem Morré von seinen Kollegen bei der Bundesanwaltschaft Griesbaum und Monka auf den möglichen Erkenntniswert von Mouslis Aussagen zum Tatkomplex Karry angesprochen wurde, habe Morré sich die Vernehmungsprotokolle aus dem aktuellen Ermittlungsverfahren zukommen lassen. Die anschließend anberaumte Vernehmung von Mousli durch Morré fand unter der Beteiligung von Schulzke und weiterer Beamter des LKA Hessen am 18. und 19. Januar 2000 in der Vollzugsanstalt Köln-Ossendorf statt.

Morré nutzte während der Vernehmung Mouslis zu dessen Wissen "vom Hörensagen" über die angebliche Beteiligung von "Jon" und "Judith" am Karry-Anschlag, die Möglichkeit, weitere Fragen an Mousli zu stellen. Unter anderem habe ihn die Urheberschaft des entsprechenden RZ-Bekennerschreibens interessiert. Konkret hätte er wissen wollen, ob Thomas K., den die Behörden mit dem Decknamen "Malte" in Verbindung bringen und der seit 1987 in der Illegalität leben soll, der Verfasser des Schreiben war. Obwohl Mousli diese und andere Fragen nicht beantworten konnte, soll das Gespräch nach Aussagen von Morré für ihn selbst dann doch noch "sehr bewegende Erkenntnisse" zutage gefördert haben, die in Folge zu der angeblichen und überraschenden Enttarnung von "Heiner" führten. Um den Einstieg in die Befragung mit Mousli zu erleichtern, habe man sich quasi als "Aufwärmübung" über gemeinsame Berlinerfahrungen ausgetauscht. Dabei habe Morré, der einen Teil seiner Schulzeit und seines Studiums in Westberlin verbracht hat, Mousli von seiner ehemaligen Lehrerin an der Schiller-Oberschule am Ernst-Reuter-Platz erzählt. Wie der Zufall es will, habe diese Lehrerin, die er zum letzten Mal auf ihrem 80. Geburtstag in Berlin besucht habe, irgendwann einmal von einem Schulfreund ihres Sohnes Matthias erzählt. Dieser Schulfreund sei seiner Lehrerin durch seine besondere Arroganz aufgefallen; sein Name: Thomas K. (das später unter dem Deckname "Malte" gesuchte vermeintliche RZ-Mitglied). Bei der Erwähnung des Namen Matthias sei Mousli plötzlich ganz aufgeregt geworden und ihm sei eingefallen, dass der von ihm bisher nur unter dem Decknamen "Heiner" bekannte ehemalige Genosse irgendwann auch mal "Mattis" genannt worden sein soll. Da habe es auch beim Bundesanwalt Morré eine Art "Aha-Erlebnis" der ganz besonderen Art gegeben. Da die Angaben Mouslis zu "Heiner" mit den eigenen Kenntnissen über den Sohn seiner Lehrerin übereinstimmten, stand die Sache für ihn relativ schnell fest: "Heiner" konnte nur Matthias B. sein.

Die darauf eingeleiteten Ermittlungsschritte und weitere Vernehmungen von Mousli (siehe obigen Bericht zu den Aussagen von Schulzke) hatten daraufhin im Frühjahr 2000 die Verhaftung von Matthias B. ausgelöst.

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