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159.Prozesstag: 18.12.2003
Sprengsätze für die Wahrheitsfindung
Einen "Prozess der politischen Justiz" nannte RA Kaleck für den
Angeklagten Matthias B. das RZ-Verfahren zu Beginn seines
Plädoyers, nach Otto Kirchheimer einen "dubiosen Abschnitt der
Rechtsgeschichte" und konstatierte, das 129a- Verfahren gegen mutmaßliche
einstige RZ-Mitglieder mute angesichts einer im Vergleich zu den
70-er Jahren völlig veränderten Situation anachronistisch an. Der
Nimbus der Staatsschutzbehörden verblasse, doch der alte Beißreflex
nach links funktioniere immer noch, wie Göteborg und Magdeburg zeigten.
Ein weiteres Mal verwies er auf die Entscheidung des Oberlandesgerichts
Naumburg im Magdeburger Verfahren, dass der problematische Paragraph
129 a nicht bei "terroristischen Vereinigungen" greife, welche sich
aufgelöst hätten, zumal ihnen eine spezifische Gefährlichkeit dann
ja mangele. Die BAW habe mit dem billigen rhetorischen Trick, den
Angeklagten den Willen zur Aufarbeitung der RZ-Geschichte abzusprechen,
versucht, in einen politischen Diskurs dort einzusteigen, wo ihr
die konkreten Verfahrensergebnisse nicht gepasst hätten.
Breit rechnete Kaleck einmal mehr mit der Kronzeugenregelung ab,
die er mit dem SZ-Kommentator Heribert Prantl (8.12.03) als "gesetzliche
Anstiftung zur Falschaussage" nannte. Die Geschichte und Entwicklung
der Vernehmungen und Aussagen des Kronzeugen im Laufe des nun vier
Jahre laufenden Verfahrens gäben all jenen Kritikern der Kronzeugenregelung
recht, die darin hohe Anreize zur Lüge und eine Eigendynamik von
Falschaussagen sehen. Im übrigen, das komme erschwerend hinzu, sei
ein Gutteil der Vernehmungen nicht einmal durch Aktenvermerke dokumentiert
und somit nicht nachvollziehbar, mithin auch kaum für eine Verurteilung
zu gebrauchen, welche allein auf Tarek Mouslis Aussagen beruhen
soll.
Außerdem seien die Aussagen der vernehmenden Beamten, insbesondere
der beiden BKA-Beamten Schulzke und Trede nicht glaubwürdig, was
Kaleck einmal mehr (u.a. im Zusammenhang mit der unendlichen Seegraben-Geschichte)
nachwies. Trede hätte "objektiv die Unwahrheit" gesagt und es gebe
grundsätzliche Zweifel an den Aussagen der beiden Vernehmungsbeamten
und - daraus folgend - am Zustandekommen der Mousli-Aussagen, so
Kaleck. Bezug nehmend auf den BAW-Vorwurf der allzu blühenden Fantasie
der VerteidigerInnen, reklamierte Kaleck geradezu ein Höchstmaß
an Fantasie, um dem Denken der Staatsschützer auf die Spur kommen
zu können: er erinnerte im Zusammenhang mit dem Seegraben an eine
Episode im Schmücker-Prozess, wo im Mittellandkanal eine Schreibmaschine
gesucht und - wie bei der Seegraben-Posse beim zweiten Anlauf -
auch gefunden wurde. Einmal mehr machte Kaleck auch auf das Auseinanderklaffen
von echtem Täterwissen und reinem Hörensagen in den Aussagen des
Kronzeugen aufmerksam und wies in für eine Verurteilung relevanten
Passagen nach, dass sich Mousli auf reines Hörensagen und Wissen
aus zweiter Hand bezieht.
Liebedienerei, Kumpelhaftiggkeit und unsägliche Tölpelhaftigkeit
Rechtanwältin Edith Lunnebach plädierte für ihren Mandanten Matthias
B. auf Freispruch. Sie machte in einem geschliffenen
Plädoyer deutlich, dass es niemandes Ernst sein könne, ihren
Mandanten allein wegen der Aussagen des Kronzeugen verurteilen zu
wollen. Dabei bezog sie sich u.a. auf Aussagen des Bundesgerichtshofes
(BGH) in diesem Zusammenhang: Der kritischen Bewertung der Glaubwürdigkeit
des Kronzeugen müsse der Tatrichter danach mit besonderer Qualifikation,
nämlich Kenntnissen der modernen Aussagepsychologie, nachkommen,
hier seien besonders strenge Maßstäbe anzulegen. Die auf durchsichtige
Weise gelenkte und, in der Dynamik von Erwartungshaltung der Behörden,
Erfolgsdruck des Kronzeugen und entstehenden persönlichen Beziehungen,
sich vollziehende Entwicklung seiner Aussage strotze nur so haarsträubenden
Widersprüchen, von offenen Lügen und großzügig übersehenen Fehlern,
denen zwingend ein Freispruch für den solchermaßen belasteten Angeklagten
folgen müsse, so Frau Lunnebach.
Ausführlich ging die Verteidigerin auf die einzelnen Ungeheuerlichkeiten
von Vernehmungen und Aussagen des Kronzeugen ein. Insbesondere bei
dem, was die Anwältin im Zusammenhang mit der Identifizierung ihres
Mandanten durch Mousli an Aussagen zusammengetragen hatte, kann
sich der unvoreingenommene Beobachter einmal mehr nur an den Kopf
fassen. Da wirkt die Aussage der BAW in ihrem Plädoyer, Mouslis
Aussagen enthielten "ausreichend viele Real-Kennzeichen", angesichts
deren "skandalös dürftiger Bewertung" geradezu lächerlich.
"Bei uns im Rheinland", so führte Frau Lunnebach aus, gebe es bei
Gericht eine Art Gegenprobe zu Zeugenaussagen in der Frage: "Was
haben wir eigentlich ohne die Aussagen des Kronzeugen". Diese Kontrollfrage
sei dem hiesigen Gericht dringend zu empfehlen, denn - so ihre Schlussfolgerung
- es habe der "erkennende Senat keine ausreichende Sachkenntnis,
den Sachverhalt zu bewerten". Auch sie ging noch einmal auf die
Vernehmungsbeamten Schulzke ("unsägliche Tölpelhaftigkeit") und
Trede sowie Mouslis Kontaktpersonen im Zeugenschutz und bei der
BAW ein, sprach von deren "liebedienerischem Ansatz" nichts zu hinterfragen
oder offensichtliche Unklarheiten, Widersprüche oder Falschaussagen
"in kumpelhafter Weise" einfach stehen zu lassen. Dies Verhalten
sei ein "Sprengsatz für die Wahrheitsfindung". Mousli habe, so Lunnebach,
bis zum Schluß ein, was den Wahrheitsgehalt betrifft, wohl dosiertes,
taktisches Aussageverhalten an den Tag gelegt, mithin "sein Spielchen"
mit den Beamten gespielt, "überschießende Belastungstendenzen" offenbart
und stets das ausgesagt, was er für die Erwartung der Vernehmenden
hielt.
Rechtsanwältin Lunnebach stellte zur Untermauerung ihrer niederschmetternden
Bilanz drei Hilfsbeweisanträge: Mouslis sämtliche Aussagen als -
zunächst - Beschuldigter, dann gleichzeitig Zeuge und Beschuldigter
und schließlich als Kronzeuge zwischen 1999 und Januar 2001 sollen
vor Gericht zur Verlesung kommen, um beweisen zu können, dass er
von Anfang an - was er eingestand - "kunstvoll und bewußt gelogen"
hat, dann weiterhin bis zum 31.12.99 wahrheitswidrig erfunden hat
und ab da quasi als Sachverständiger betrachtet und unhinterfragt
gehört wurde. Zu laden sei Prof. Köhnken, forensischer Psychologe
an der Uni Kiel, der anhand des Aussageverhaltens des Kronzeugen
zu den Lichtbildmappen nachweisen werde, dass die Vorlage "offensichtlich
nicht korrekt" vonstatten ging, die Identifizierung des vermeintlichen
"Heiner" eine "suggestive Vorgeschichte" hat und der Aussagewert
mithin gleich null ist.
Verlesung der Passagen aus Mouslis Aussage zum berühmten Waldspaziergang
der Berliner RZ-Mitglieder, um zu beweisen, dass der Waldspaziergang
eine reine Erfindung sei. In Mouslis Aussage nehmen an diesem fast
schon legendären RZ-Ausflug in etlichen aufeinander folgenden Aussagen
immer mehr Personen teil: was anfangs eine lauschige Vierergruppe
war wächst sich im Laufe der Kronzeugenschaft geradezu zum Volkswandertag
aus, der da durchs Unterholz bricht.
Ein noch längerer Bericht entfällt.
Am Freitag, 19. Dezember 2003 (4. Jahrestag!!!), geht es um 9.15
Uhr mit dem Plädoyer von RA Euler weiter. Das Gericht hob den Termin
am 2. Januar auf. d.h. nach dem Kurztermin am 29. Dezember 2003
(Richterin Hennig: "Muss ja!") geht es dann erst am 8. Januar weiter!
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