Stuttgarter Zeitung online 15.01.2009 - aktualisiert: 15.01.2009
17:59 Uhr
Thomas K. (Mitte) soll als "Denker" ein führendes
Mitglied der Terrorgruppe "Revolutionäre Zellen"
gewesen sein.
Foto: dpa
Stuttgart - Der 60-jährige Thomas K. muss sich vor dem Oberlandesgericht
Stuttgart wegen des Vorwurfs verantworten, von 1976 bis 1994 Mitglied,
seit 1984 auch Rädelsführer der "Revolutionären Zellen"
gewesen zu sein. Er gilt als einer ihrer "Denker".
Von Stefan Geiger
In Stammheim hat am Donnerstag eine Zeitreise begonnen. Im Hochsicherheitstrakt
am Rande Stuttgarts verhandelt der Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts
über Ereignisse, die teilweise mehr als 30 Jahre zurückliegen
und spätestens vor 15 Jahren geendet haben. Wer diesen Prozess
mitverfolgen will, muss auf seine Hose achten. Denn den Gürtel
muss er draußen in der Sicherheitsschleuse abgeben. Er bekommt
ihn erst nach der Verhandlung zurück. Auch der Ehering wird
konfisziert. Dem Polizisten, der das zu exekutieren hat, ist diese
Praxis erklärtermaßen peinlich. So etwas hat es selbst
zu Hochterrorzeiten in Stammheim nicht gegeben.
Haftbefehl außer Kraft gesetzt
Allzu gefährlich kann andererseits der Mann, wegen dem der
ganze Aufwand betrieben wird, auch wieder nicht sein: Der Angeklagte
Thomas K. wartet mit allen anderen vor dem Zuschauereingang des
Hochsicherheitstrakts. Er betritt den Gerichtssaal als freier Mann.
Der Haftbefehl gegen ihn wurde sofort außer Kraft gesetzt,
als er sich im Dezember 2006 freiwillig bei der Bundesanwaltschaft
in Karlsruhe gestellt hatte. Seitdem lebt er wieder in Berlin und
arbeitet dort als IT-Administrator. Auch das ist reichlich ungewöhnlich
für einen Angeklagten, dem die Bundesanwaltschaft Rädelsführerschaft
in einer Terrorvereinigung vorwirft.
Man sieht Thomas K. seine 60 Lebensjahre nicht an. Er wirkt trotz
seiner inzwischen silbergrauen Haare noch immer jugendlich, mit
einer Neigung zu einem verschmitzten Lächeln - auch während
der Verlesung der nicht sonderlich langen und auch nicht sonderlich
inhaltsreichen Anklageschrift. Die "Revolutionären Zellen"
haben nach eigenen Angaben zwischen Ende 1973 und 1995 insgesamt
186 Anschläge verübt. Strafrechtlich wird Thomas K. in
keinem dieser Fälle eine Beteiligung vorgeworfen. Er soll sich
aber, so die Anklage, für zwei dieser Anschläge "nachhaltig
eingesetzt" und an der Erstellung der Selbstbezichtigungsschreiben
mitgewirkt haben. Es geht um zwei "Knieschuss-Attentate", bei denen
1986 der Leiter der Berliner Ausländerbehörde und 1987
ein Vorsitzender Richter am Bundesverwaltungsgericht schwer verletzt
worden waren.
Laut Anklage arbeiteten die einzelnen der "Revolutionären Zellen"
autonom und nach außen abgeschottet. Deshalb ist es bemerkenswert,
dass die Bundesanwaltschaft Thomas K. nicht die Mitgliedschaft in
einer der beiden Berliner Zellen vorwirft, die "selbstständige
regionale Teilorganisationen" gewesen seien; er habe aber über
ein Berliner Mitglied, das Rädelsführer gewesen sei, "engen
Kontakt zu den ,Berliner Revolutionären Zellen' gehalten".
Das könnte die erste juristische Klippe im Stuttgarter Prozess
werden.
"Denker" und "Rädelsführer" zugleich?
Einer der entscheidenden Fragen in dem Prozess dürfte werden,
ob ein Angeklagter, der in der Anklage als "Denker" charakterisiert
wird, zugleich "Rädelsführer" war, also eine beherrschende
Position in der Terrorgruppe hatte - und zwar auch noch, nachdem
er im Dezember 1987 vor der Polizei geflohen und in die Illegalität
abgetaucht war. Er habe, so die Anklage, noch "Kontakt" zu der Berliner
Zelle gehabt und seine "geistige Führungsrolle" beibehalten.
In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass die Bundesanwaltschaft
den "Revolutionären Zellen" zubilligt, dass alle Mitglieder
"nach den Prinzipien gleichberechtigt" waren. Faktisch aber hätten
langjährige Mitglieder, der "alte Stamm", "Führungspositionen"
gehabt. Nur bei Rädelsführerschaft beträgt die Mindeststrafe
drei Jahre Haft, die nicht mehr zur Bewährung ausgesetzt werden
kann.
Entscheidende Bedeutung für das Verfahren wird der Kronzeuge
Tarek M. haben, der sich einst mit einer "Lebensbeichte" eine milde
Strafe verschafft hat und deshalb in der linksextremen Szene als
Verräter gilt. An einigen seiner Aussagen sind inzwischen Zweifel
aufgetaucht. Für die Vernehmung von Tarek M. sind im Februar
allein acht Verhandlungstage anberaumt.
Thomas K. hatte sich 2006 gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin
Adrienne G. gestellt, kurz bevor die Taten verjährt gewesen
wären. Adrienne G. ist bereits 2007 wegen zwei missglückten
Sprengstoffanschlägen der "Roten Zora", einer aus den "Revolutionären
Zellen" abgespaltenen Frauengruppe, verurteilt worden. Sie erhielt
zwei Jahre Haft auf Bewährung. Das war das Ergebnis einer Prozessabsprache,
die getroffen worden war, noch bevor beide bei der Bundesanwaltschaft
erschienen. Adrienne G. hat ein "schlankes Geständnis" abgelegt.
Thomas K. hat am Donnerstag keine Angaben gemacht. Von einer Prozessabsprache
mit dem gelernten Lehrer und Elektroniker ist nichts bekannt. Bis
jetzt sind 19 Verhandlungstage terminiert.
15.01.2009 - aktualisiert: 15.01.2009 17:59 Uhr