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Presse

Datum:
31.05.00

Zeitung:
Jungle World

Titel:
Geknickte Goldelse

Geknickte Goldelse

Nach Aussagen eines Kronzeugen ließ die Bundesanwaltschaft weitere angebliche Ex-Mitglieder der Revolutionären Zellen verhaften.

Nein, wie eine Liebeserklärung las sich der Brief in der Tat nicht. Eher wie eine bittere Bilanz: Einige militante Aktionen der letzten Monate, so resümierte die "Gruppe aus dem Traditionsverein der Revolutionären Zellen" (RZ) im Juli 1991, seien nur noch eine traurige Karikatur dessen, "wofür mehrere Generationen Militanter seit Anfang der 70er Jahre in diesem Land gekämpft haben".

Die Genossen waren entnervt. Dass da ausgerechnet "unter unserem Markenzeichen", sprich unter dem Namen RZ, die Goldelse von der Berliner Siegessäule gesprengt werden sollte, stieß bei einigen Altgedienten nicht auf Begeisterung. Deplatziert, lächerlich und völlig unangemessen sei die Aktion gewesen, schimpften sie und überschrieben ihre Erklärung mit den barschen Worten: "This is not a love song!" Dabei hatte die kritisierte Gruppe mit dem Anschlag auf das Symbol "männlicher Gewalt" guten Gewissens zum Kampf gegen Patriarchat, Nation und Krieg beitragen wollen. Allerdings mit mäßigem Erfolg: Nur ein Teil des explosiven Materials zündete. Die goldene Viktoria blieb, wo sie war.

Wie die Diskussion nach der rüden Kritik weiterging, erfuhr außer den Beteiligten niemand so genau. Ebenso unklar ist bis heute, wer für die Aktion verantwortlich zeichnete: Eine Zelle jenes seit Mitte der Siebziger Jahre aktiven "Traditionsvereins der RZ"? Oder vielleicht eines jener autonomen Grüppchen, die sich den Namen der Militanten zu Eigen gemacht haben?

Von solchen Ungereimtheiten lassen sich deutsche Strafverfolger wenig beirren. Mit der Bitte um eine kleine Amtshilfe klopfte deshalb die Bundesanwaltschaft (BAW) jüngst bei den kanadischen Kollegen an. Im Handgepäck: ein Haftbefehl gegen den 46jährigen Lothar E., der bereits Mitte der neunziger Jahre nach Kanada ausgewandert ist. Der langjährige Szene-Aktivist soll demnach "von 1985 bis 1993/94 der Berliner RZ" angehört haben. Zudem wollen die Bundesanwälte wissen, dass Lothar E. an zwei "Schusswaffenanschlägen" in den Jahren 1986 und 1987 beteiligt war. Weil diese Angriffe im Rahmen der Kampagne "gegen imperialistische Flüchtlingspolitik" aber längst verjährt sind, ging die Behörde bei den Kanadiern eben u.a. mit der vermaledeiten Goldelse-Sprengung hausieren.

Vor zwei Wochen war es dann soweit: Vor dem Haus von Lothar E. in der 15 000-Einwohner-Stadt Yellowknife, wo der 46jährige mit seiner Freundin eine Bed-and-Breakfast-Pension betreibt, hält ein kleiner Lkw. Der Fahrer stellt Fragen über Holzboote. Nichts Ungewöhnliches: In der menschenarmen Gegend weiß fast jeder, dass sich der Deutsche mit Kanus auskennt. Dann springen plötzlich vier kanadische Polizeibeamte aus einem anderen Wagen, überwältigen und verhaften Lothar E. Immer mit dabei: Oberkommissar Trede vom Wiesbadener Bundeskriminalamt.

Seit diesem 18. Mai wartet der Ex-Berliner auf sein Auslieferungsverfahren, das nächste Woche beginnen soll. Mit gewisser Skepsis blickt man jedoch von Karlsruhe aus auf diesen 8. Juni. Zwar sei "bisher alles gut gegangen", informiert BAW-Sprecherin Eva Schübel. Aber auch sie weiß: "Internationale Rechtshilfe ist so eine Sache. Manchmal läuft's gut, manchmal nicht."

Zuletzt lief es nicht wirklich gut für die Strafverfolger. Schon seit Monaten warten sie auf die Auslieferungen zweier angeblicher RZ-Mitglieder aus Frankreich. Ob die beiden jemals nach Deutschland zurückmüssen, steht in den Sternen. Ein deutliches Signal haben die französischen Behörden bereits gegeben: Für eine Kaution von schlappen 10 000 Francs, also rund 3 000 Mark, haben sie Sonja Suder und Christian Gauger auf freien Fuß gesetzt. Offenbar liefern die deutschen Fahnder nicht die gewünschten stichhaltigen Beweise.

Das dürfte bei Lothar E. noch schwerer werden. Denn einzig die Aussagen Tarek Mouslis belasten den 46jährigen. Der Kronzeuge, der nach eigenen Angaben selbst jahrelang in jener "Berliner RZ" organisiert war und in Untersuchungshaft sitzt, plaudert seit Monaten mit den Ermittlern. Das Ergebnis: sechs Haftbefehle wegen RZ-Mitgliedschaft. Im Dezember wurden die Berliner Harald G. und Axel G. sowie die Frankfurterin Sabine E. verhaftet. E.s Lebensgefährten Rudolf S. hatten die Strafverfolger schon im Oktober dingfest gemacht.

Am 18. April schlug die Polizei dann noch einmal in der Hauptstadt zu: mit denselben Vorwürfen, die auch gegen Lothar E. vorgebracht werden, verhafteten die Beamten den Berliner Matthias B. Der Zeitpunkt schien günstig: Der 51jährige wollte sich gerade mit seiner Freundin in den Urlaub nach Frankreich aufmachen. Und weil der Nachbarstaat nach den jüngsten Erfahrungen in Karlsruhe anscheinend als sicheres Drittland gehandelt wird, sitzt Matthias B. nun u.a. wegen "Fluchtgefahr" in Untersuchungshaft. Dass er seit 14 Jahren über eine feste Arbeitsstelle verfügt, interessiert die Bundesanwälte wenig.

Man hat sich ans Dünnbrettbohren gewöhnt. "Keinerlei direkten Beweise" seien ihm vorgelegt worden, kritisiert Wolfgang Kaleck, der Rechtsanwalt von Matthias H. Die scheint es einfach nicht zu geben. Anders ist kaum zu erklären, warum die Ermittler mit rüden Methoden versuchen, Personen aus dem Umfeld der Beschuldigten als Zeugen zu vernehmen. Bislang vergeblich. Bleiben also nur Mouslis Angaben. Ob der aber an den Aktionen beteiligt war oder nur davon gehört hat? Ob der Goldelse-Anschlag von jener Gruppe verübt wurde, der sich der Kronzeuge zurechnet? Offene Fragen. Und BAW-Sprecherin Schübel will nicht weiterhelfen.

Auch die Verteidigung hält sich über Mouslis Plaudereien bedeckt. Vor der Hauptverhandlung darüber öffentlich zu diskutieren, sei ein "Kunstfehler", meint Rechtsanwalt Kaleck. Noch schärfer reagiert Wolfgang Euler, der Verteidiger von Rudolf S.: "Das geht nur die Gefangenen und deren Anwälte etwas an." Was jedoch als taktische Frage unter Juristen seine Berechtigung haben mag, wird in Teilen der Solidaritäts-Szene für die Gefangenen gleich zur politischen Leitlinie. Die Argumentation: Wer sich mit solchen Aussagen beschäftigt, geht von deren Wahrheitsgehalt aus und damit der Kronzeugenregelung auf den Leim.

Konsequenterweise sperrte das Berliner Solidaritätsbündnis kurzerhand die Meinungsseite der Homepage "www.freilassung.de". Texte, die eine Auseinandersetzung mit Mous-lis Angaben einklagten, waren letzte Woche nicht mehr abzurufen. Eine symbolische Aktion, die mittlerweile aufgehoben wurde. Dennoch spricht sie für die Entschlossenheit, das Thema auszublenden - und damit Fragen, die die Genese eines Kronzeugen in linken Strukturen und die Möglichkeiten für dessen Demontage betreffen. Dabei hat solche Ignoranz gegenüber den fragwürdigen Beweisen schon häufiger zu Fehleinschätzungen und Mystifizierungen linksradikaler Projekte beigetragen.

Ähnlich heftig wird auch über die Bedeutung gestritten, die der RZ-Politik in der Solidaritätsarbeit eingeräumt werden soll. Wird durch ein Hervorheben der Gruppe eine Praxis mystifiziert, die in dieser Form anachronistisch ist? Oder ignoriert der populistische Ansatz, die RZ-Politik auszublenden, nicht schlichtweg das Ziel der Verhaftungen? Die Nächsten, die sich mit dem Aufbau einer klandestinen Organisation beschäftigen, werden es jedenfalls schwerer haben: Die Wiesbadener Kriminalisten dürften derzeit vor einem riesigen Puzzle sitzen, aus dem sie sich ihr Bild der ehemaligen RZ-Struktur basteln - selbst wenn sie es bei Mouslis Angaben nur mit einem Konglomerat von Halbwahrheiten und in den Mund gelegten Histörchen zu tun haben sollten.

wolf-dieter vogel

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http://www.freilassung.de/presse/verhaft/jw310500.htm