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Presse

Datum:
Juni 2000

Zeitung:
WoZ / Wochenzeitung Zürich

Titel:
Johannes Agnoli über die Verfolgung Militanter in Deutschland und Italien

Johannes Agnoli über die Verfolgung Militanter in Deutschland und Italien

Der Rechtsstaat ist eine Fiktion

Warum jagt der Staatsschutz in Italien und Deutschland so hartnäckig dem historischen Phantom der Stadtguerilla hinterher?

WoZ: Johannes Agnoli, worum geht es, wenn heute dem doch weitgehend verschwundenen Phänomen "Linksterrorismus" hinterhergefahndet wird?

Johannes Agnoli: Allgemein gesehen, steht der Staat heute vor dem Problem, dass in der Öffentlichkeit der diffuse Eindruck entstanden ist, mit dem Sozialstaat würde insgesamt die staatliche Autorität abgebaut. Der Staat muss aber zeigen, dass er als Ordnungsmacht weiterhin voll funktionstüchtig bleibt. Schliesslich sitzen wir auf einem Pulverfass. Das so genannte globale Kapital ist dabei, vieles kaputtzumachen. Ein grosser Teil der Weltbevölkerung ist überflüssig geworden, daher resultieren die Migrationswellen aus den unterentwickelten Ländern nach Europa. Die herrschenden Mächte tragen präventiv Sorge, dass mögliche Keimzellen, die derzeit kaum mehr als Keimzellen des Widerspruchs sind, nicht zu Zellen des Widerstands werden. Sie könnten ansonsten als Kristallisationspunkte dienen für die ungeheure Masse überflüssiger Leute. Das ist die Gefahr, die sie sehen und die sie von vornherein durch die Verfolgung unschädlich machen wollen. Das ist die Logik des Staates.

Aber welches Interesse hat der Staat, Leute zu verfolgen und inhaftiert zu halten, deren Gruppen nun schon seit Jahren nicht nicht mehr existieren?

Die Einschätzung ist wohl, dass der bewaffnete Kampf immer noch möglich und den Leuten nicht hinreichend ausgetrieben worden ist. Also, es sind eher auf die Gegenwart zielende, präventive Mass-nahmen, die weniger an alten Auseinandersetzungen aus den Siebzigern orientiert sind. Wahrscheinlich können die Staatsapparate aber auch aus einem anderen Grund die Auflösungserklärungen der bewaffneten Gruppen nicht akzeptieren. Ohne Staatsfeind hätte der Repressionsapparat weit grössere Legitimationsprobleme. Das ist mit der deutschen Bundeswehr ganz ähnlich: Nachdem das Feindbild, die sowjetische Armee, weggefallen ist, muss man andere Feinde erfinden.

In Italien wurden zuletzt unter absurden Konstrukten prominente Linke wie Antonio Negri oder Adriano Sofri verurteilt und eingesperrt. Über 150 Angehörige der militanten Linken, die durch die Sondergesetzgebung mit besonders harten Strafen belegt sind, befinden sich immer noch in Haft, hunderte leben im Exil.

Wie bewerten Sie die Situation der Gefangenen aus der Linken in Italien?

Toni Negri lebt ein halbwegs erträgliches Leben. Ich habe ein paar Mal mit ihm telefoniert. Das Problem für andere in Italien und vor allem in Deutschland ist doch, dass sie oftmals seit Jahren ununterbrochen im Gefängnis sind. Negri meldete sich vor etwa zwei Jahren freiwillig, um durch seine Rückkehr eine Amnestiedebatte zu intiieren. Aber kaum war er da, war die Amnestiedebatte in Italien auch schon zu Ende. Sie steckten Negri einfach ins Gefängnis. Aber seit einem Jahr ist er Freigänger und kann tagsüber das Gefängnis verlassen. Sicher, er muss in Rom bleiben. Aber dort kann er sich tagsüber immerhin frei bewegen und gibt neuerdings auch wieder eine Zeitschrift heraus. Renato Curcio, der historische Gründer und Chef der Roten Brigaden, ist nun auch endlich freigekommen.

Was die Haftbedingungen betrifft, sind Italien und Deutschland nicht zu vergleichen. Was man in Deutschland mit den RAF-Gefangenen macht, die Hochsicherheitstrakte, das macht man in Italien nur mit Mafiabossen. So drakonisch die Strafen für Politische gewesen sein mögen, nach einigen Jahren werden die meisten Gefangenen in Italien zu Freigängern. Wer Anfang der Achtziger verurteilt wurde, ist heute in aller Regel Freigänger. Natürlich ist das mit Restriktionen verbunden, aber es bleibt ein Unterschied.

Lässt sich hinter der Unnachgiebigkeit der Justiz in Italien und Deutschland schon so etwas wie die unangenehme Vision einer gesamteuropäischen Linie für die EU erahnen?

Nein. Das sieht man schon an der Art, wie die Franzosen mit den etwa 400 Italienern umgehen, die nach Paris geflüchtet sind. Toni Negri hat mehr als zwei Jahrzehnte in Paris gelebt und dort als Professor gelehrt. Finanziell wurde er von den anderen Professoren unterstützt. Der war für die französische Polizei nicht vorhanden. Alle italienischen Auslieferungsgesuche liefen ins Leere. Das gilt für die linken Regie-

rungen, aber auch für die rechten. Auch die jüngste Verhaftung auf Korsika im Zusammenhang mit dem Moro-Mord-Verfahren wird daran nichts ändern. Die in Frankreich lebenden italienischen Linken haben ohnehin nichts mit den Roten Brigaden zu tun. Das sind Genossen von Potere Operaio, Lotta Continua und Autonomia Operaia. Aber auch im direkten Vergleich Italiens mit Deutschland scheint mir die Situation verschieden. Eine Durchsuchung wie im Mehringhof hat es gegen keines der Centri sociali gegeben obwohl die italienischen Autonomen viel aktiver und militanter sind als die Autonomen in Kreuzberg, deren Militanz sich inzwischen auf die Ritualschlacht vom 1. Mai reduziert hat.

Wie steht es mit den Forderungen nach Abschaffung der Antiterror- und Notstandsgesetzgebung in Italien oder Deutschland und einer etwas weiter gehenden Amnestiediskussion?

Mir ist nicht bekannt, dass in Deutschland, vor allem auch im Parlament, das Thema einer Amnestie überhaupt eine Rolle spielt. Um da etwas Druck und Öffentlichkeit zu schaffen, müsste zunächst die unglückselige Zersplitterung der Linken in zahllose Ein-Punkt-Bewegungen überwunden werden. Wenn heutzutage in der Mediengesellschaft nichts im Fernsehen erscheint, existiert das Thema für die Gesellschaft doch gar nicht. Solidaritätsveranstaltungen, die nicht im Fernsehen erscheinen, sind oft nur etwas für die Bestätigung im eigenen Kreis. Ich vertrat früher die These, dass erst die Ausschreitung den demokratischen Charakter einer Demonstration ausmacht. Es gab schon damals nichts Lächerlicheres als so genannte machtvolle, friedliche Demonstrationen. Heute ist die Situation jedoch anders. Da gibt es bei Ausschreitungen nur eine Krawall-Meldung, und das ist natürlich keine Öffentlichkeit. Also muss man sich andere Formen einfallen lassen. Natürlich weiss ich nicht welche. Die Unterschiede zwischen den beiden Ländern sind auch sehr gross. Bei Deutschland habe ich immer den Eindruck vielleicht ist es falsch , dass das im Grunde eine geschlossene Gesellschaft ist. Ich frage mich manchmal, wann dort die Leute endlich mal die Geduld verlieren.

In den Ermittlungsverfahren gegen die Linke in Deutschland und Italien spielt die Figur des Kronzeugen, des Pentito, eine zentrale Rolle. Die einen bezeichnen sie unverhohlen als "Verräter", andere bemitleiden sie eher als "tragische Figur", die sich in den Händen eines rücksichtslosen Apparats befindet. Welche Rolle spielen die "Reuigen", die gepressten Zuträger, und was bedeuten sie für den "Rechtsstaat"?

Bei den Prozessen gegen prominente italienische Linke spielt der Kronzeuge nur im Fall Adriano Sofri eine Rolle. Leonardo Marino hat Sofri beschuldigt, und Sofri hat seine Unschuld beteuert. Alle anderen Prozesse gegen die Autonomia Operaia Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger kamen ohne Kronzeugen aus. In Italien werden sie zudem als Collaboratori di Giustizia, Justizmitarbeiter, bezeichnet. Im Kampf gegen die Mafia gelten sie als unerlässlich. Neuerdings hat man aber auf Veranlassung des Verfassungsgerichts die US-amerikanische Lösung eingeführt. Demnach ist die Aussage des Justiz-Kollaborateurs nur gültig, sofern der Zeuge vor Gericht erscheint und sie dort bestätigt. Wenn jemand in einen Mordfall verwickelt ist und ihm dreizehn oder fünfzehn Jahre Haft drohen, ist es vielleicht verständlich, dass die Person versucht, durch eine Aussage drum herumzukommen. Ich habe dieses Verständnis nicht und neige dazu, von Verrat zu sprechen. Ich dämonisiere diesen Menschen deswegen aber nicht. Ich weiss ja auch nicht, wie er dazu gebracht wurde. Generell sollte eine Aussage nur justizrelevant sein, sofern sie vor Gericht gemacht wird und nicht nur vor der Polizei.

Gab es aus historischer Sicht Ende der sechziger Jahre eine Situation, die den Beginn des bewaffneten Kampfes in den kapitalistischen Zentren sinnvoll und richtig erscheinen liess?

Für Italien kann ich es nachvollziehen, für Deutschland nicht. In Italien, vor allem in der norditalienischen Industriearbeiterschaft, war in der Tat der Humus, die Massenbasis für die Roten Brigaden vorhanden. Und da konnte man meinen, dass der Angriff auf den Staat eine möglicherweise mobilisierende Wirkung haben könnte. Dann haben die Roten Brigaden einen Fehler gemacht, der ihre ganze Popularität zerstörte. Das war die Ermordung von Aldo Moro, der als Christdemokrat eindeutig für eine Öffnung gegenüber den Kommunisten eintrat.

Für Deutschland könnte man die alte Lotta-Continua-Parole von den "Genossen, die sich irren" zitieren. Diese Genossen haben sich in einer selbstmörderischen Weise geirrt. Es war von vornherein ein falsches Projekt. Kleine Gruppen können nicht gegen die Macht des Staates antreten, wenn sie nicht zugleich in der Lage sind, die Massen zu mobilisieren. Abgesehen davon, dass sie nicht verstanden haben, dass die Erschiessung eines Schleyer, eines Buback überhaupt nichts an der Struktur des Staates ändert. Das rechtfertigte höchstens noch den Ausbau des durchaus vorhandenen Repressionsapparats. Es gibt noch einen anderen Punkt, über den mit Genossen zu reden sehr schwierig ist. Kann jemand, der den Staat angreift, darüber lamentieren, wenn der Staat zurückschlägt? Es gibt nichts Komischeres, als zu sagen, der Rechtsstaat ist eine Fiktion, und sobald man verhaftet wird, ruft man nach ihm.

Interview: Friedrich C.Burschel, Berlin


Aus schlichter Solidarität mit der Linken

Berühmt wurde der deutsch-italienische Staatstheoretiker Johannes Agnoli mit der 1967 erschienenen Schrift "Die Transformation der Demokratie", einem Klassiker der Ausserparlamentarischen Opposition (APO). Agnoli hatte die Kritik am "autoritären Etatismus" zusammen mit Peter Brückner verfasst. Der heute 75-jährige Agnoli war bis 1990 Professor für Politik am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität in Berlin. "Aus schlichter Solidarität" mit der Linken hat sich der Emeritus im Juni von seinem Alterssitz in der Toskana wieder einmal nach Berlin begeben. Der Theoretiker der 68er-Revolte war eingeladen, dort zum Thema der fortdauernden Strafverfolgung gegen die linken Bewegungen in Italien und Deutschland zu referieren.

In der Bundesrepublik, in Frankreich und Kanada wurden seit Ende letzten Jahres acht mutmassliche Angehörige der Revolutionären Zellen/ Rote Zora (RZ) in Untersuchungshaft genommen. Zwei weitere arbeiten als Kronzeugen mit den Staatsschutzbehörden zusammen. Die RZ sind eine Formation, die sich 1992 aufgelöst hat. Ihnen zugeordnete Anschläge reichen bis in die siebziger Jahre zurück (siehe WoZ Nr. 22/00). In Italien werden prominente Intellektuelle wie Adriano Sofri oder Antonio Negri unter abenteuerlichen Anschuldigungen genauso in Haft gehalten wie die vielen Unbekannten aus den historischen Bewegungen. Auf Korsika wurde letztes Wochenende Alvaro Lojacono Baragiola per italienisches Gesuch erneut verhaftet (vgl. Seite 1). In der Bundesrepublik sitzen Anghörige der Roten Armee Fraktion (RAF) seit den Siebzigern im Gefängnis, obwohl es seit Jahren keine RAF mehr gibt.

Letzte Woche wurde das Alternativzentrum Mehringhof in Berlin zum zweiten Mal in wenigen Monaten nach Waffen und Sprengstoff durchsucht. Mittels einer Live-Videoübertragung liessen sich die Polizisten von einem unter Verschluss gehaltenen Kronzeugen zum angeblichen Waffenlager dirigieren ein Novum in der deutschen Ermittlungsgeschichte. Aber auch dieser Hightech-Einsatz blieb ohne "positives" Ergebnis. Gefunden wurde wieder nichts.

fcb. / fan.

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