Datum:
23.06.2000
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Zeitung:
TAZ
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Titel:
"Zellen des Widerspruchs"
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"Zellen des Widerspruchs"
Anlässlich der Verhaftungen mutmaßlicher Mitglieder
der Revolutionären Zellen streitet die radikale Linke über
die Thematisierung der eigenen Geschichte. Dabei geht es auch um
"Denkverbote"
"Das sind doch Denkverbote" ruft eine Frau durch das mit etwa
250 BesucherInnen gut gefüllte Kreuzberger Kato, in dem gerade eine
Solidaritätsveranstaltung für die seit über einem halben
Jahr Inhaftierten stattfindet, die angeblich Mitglieder der
Revolutionären Zellen gewesen sein sollen. Die Frau hatte selbst
jahrelang als RAF-Mitglied im Gefängnis gesessen, ihr dürften
"Denkverbote" nicht unbekannt sein. Ihre Wut richtet sich gegen
einen Beitrag, den eine Anwältin vorträgt. Die Verteidigerin
Silke Studzinsky versucht im Namen der gesamten Verteidigung der Szene zu
erklären, worüber nicht geredet werden soll: über den
genauen Inhalt der von Tarek M. gegenüber der Bundesanwaltschaft (BAW)
über Personen und Aktionen der RZ zu Papier gebrachten Aussagen.
Weiter führt die Anwältin aus, dass "jedes
öffentliche Nachdenken über die persönlichen und politischen
Beweggründe von Tarek M., Aussagen bei der BAW zu machen, indirekt der
Ermittlungsarbeit der BAW in die Hände arbeitet". Ihre
Ausführungen gipfeln in dem Satz, dass "jeder, der Tarek M. einen
Verräter nennt, doch implizit unterstellt, dass er überhaupt
etwas zu verraten habe". Bei etwa der Hälfte der
ZuhörerInnen erntet sie dafür Beifall, von der anderen
Hälfte nur Kopfschütteln.
Seit der Durchsuchung des Mehringhofs im Dezember vergangenen Jahres und
der Verhaftung von inzwischen sechs Beschuldigten als angeblich an
RZ-Aktionen Beteiligte glaubt sich die BAW ihrem Ziel ein wenig näher,
doch noch einen von ihr seit zwanzig Jahren nicht aufgeklärten Teil
linker Geschichte juristisch aufrollen zu können. Bedingt durch die
unfreiwillige Konfrontation mit einem innerlich längst abgeschlossenen
Kapitel tobt nun in der linken Berliner Szene seit Monaten ein Streit um
die "richtige" Ausrichtung der Solidaritätsarbeit. Nicht
wenige möchten sich mit den Aktionen und politischen Anliegen der RZ,
mit ihren positiven wie negativen Aspekten, als Teil der eigenen linken
Geschichte offensiv auseinander setzen. Und zwar bevor es im Focus zu lesen
ist. Überraschenderweise ist dies in Städten wie Köln
möglich, in Berlin aber nicht.
Wiederholt ist in autonomen Publikationen gefordert worden, mindestens
ansatzweise den Inhalt und Umfang der Aussagen von Tarek M. publik zu
machen und die politische Dimension zu benennen, um die es in dem
anstehenden Verfahren gehen wird. Auch sollte zwischen persönlicher
Betroffenheit, juristischer Unterstützung und politischer
Solidarität klarer unterschieden und die Bereiche entsprechend
voneinander getrennt werden.
Durch die Übergewichtung des juristischen Aspektes fühlen sich
einige UnterstützerInnen vor den Kopf gestoßen. Sie teilen die
Befürchtung der Verteidigung nicht, dass "je öffentlicher
Dinge gehandhabt werden, desto mehr über sie gesprochen und
fantasiert" würde. Vielmehr gediehen nirgendwo Gerüchte und
Spekulationen besser, als wenn über etwas nicht öffentlich
geredet werden darf.
Allerdings wurde inzwischen wenigstens die Vorgeschichte zur
Durchsuchung des Mehringhofs bekannt. Im März 1995 fanden Jugendliche
auf einer Einbruchstour in einem Keller in der Schönhauser Allee im
Berliner Prenzlauer Berg zufällig einige Stangen des gewerblichen
Sprengstoffs Gelamon 40. Beim Versuch, diesen zu verkaufen, bekam es der
potenzielle Käufer mit der Angst zu tun und meldete die Jugendlichen
der Polizei. Gegenüber dieser behaupten die Jugendlichen, den
Sprengstoff in einem Park gefunden zu haben.
Angeblich erst im März 1998 gelang es dem BKA mittels chemischer
Analyse, den Sprengstoff als eine Teilmenge des von den RZ bei mehreren
Anschlägen benutzten Sprengstoffs zu identifizieren. Nach einer
erneuten Befragung führten die Jugendlichen die Polizei zu dem Keller.
Tarek M. wurde als ein mutmaßlicher Nutzer des von seiner damaligen
Lebensgefährtin angemieteten Kellers festgestellt und von Oktober 1998
bis Mai 1999 auf allen von ihm benutzten Telefonen überwacht.
Am 14. April 1999 fand bei Tarek M. eine Hausdurchsuchung wegen des
Vorwurfs der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung statt. Da
die chemische Spurensicherung keine Rückstände von Sprengstoff in
dem Keller feststellen konnte, wurde er wieder freigelassen.
Mitte Mai 1999 wurde Tarek M. überraschenderweise erneut
festgenommen. Der Haftbefehl wurde nun mit einer Auswertung der
Telefonüberwachung und einigen bei der Durchsuchung seiner Wohnung
beschlagnahmten Dingen begründet. Knapp zwei Monate später
räumte Tarek M. bei einem Haftprüfungstermin ein, Sprengstoff in
dem Keller gelagert zu haben. Weiteren von den Jugendlichen nicht
mitgenommenen Sprengstoff will er in einem Wassergraben außerhalb
Berlins versenkt haben. Zu diesem Zeitpunkt belastet er keine weiteren
Personen. Der Haftbefehl wird außer Vollzug gesetzt.
Anfang November 1999 wurden jedoch insgesamt acht Wohnungen und
Arbeitsstätten von Tarek M. sowie von angeblichen Bekannten
durchsucht. Am 23. November wurde Tarek M. erneut festgenommen. Nun
belastete ihn seine frühere, in Ostberlin aufgewachsene
Lebensgefährtin schwer. Laut ihrer Aussage gegenüber der Polizei
soll Tarek M. von Anfang 1986 bis 1996 einer der führenden Köpfe
der Berliner RZ gewesen sein. Außerdem soll er ihr gegenüber
angegeben haben, dass er an den beiden Knieschuss-Attentaten auf den Chef
der Berliner Ausländerbehörden, Harald Hollenberg, und den
Richter am Bundesverwaltungsgericht, Günter Korbmacher, beteiligt
gewesen sei und selbst geschossen habe.
Von der BAW vor die Wahl gestellt, möglicherweise zu bis zu zehn
Jahren Gefängnis verurteilt zu werden oder von der Kronzeugenregelung
Gebrauch zu machen, entschied sich Tarek M. nach einigen Tagen Bedenkzeit
für das Angebot der BAW.
So wurden am 19. 12. 1999 die beiden Berliner Axel H. und Harald G.
sowie die Frankfurterin Sabine E. als angebliche MittäterInnen auf
Grund seiner Aussagen verhaftet. Rudolf S., den Tarek M. ebenfalls
belastet, sitzt wegen des Vorwurfs der Beihilfe zum OPEC-Überfall 1975
bereits seit einigen Monaten im Gefängnis. Gleichzeitig durchsuchten
fast 1.000 Polizisten den Mehringhof als angebliches Waffen- und
Sprengstoffdepot der RZ. Gefunden wurde nichts.
Von Anfang Januar bis Ende Mai diesen Jahres wurde Tarek M. fast
täglich vom BKA verhört. Dabei hat er einige Angaben vom letzten
Jahr korrigiert, die schließlich am 4. Februar diesen Jahres zu einem
erweiterten Haftbefehl gegen Axel H. führten. Insbesondere beschuldigt
er nun mehrere Personen, am Anschlag auf die Siegessäule im Januar
1991 beteiligt gewesen zu sein. Dies führte Mitte April zur Verhaftung
von Matthias B., einem leitenden Mitarbeiter der Technischen
Universität. Außerdem wurde am 18. Mai in Yellowknife, Kanada,
Lothar E. verhaftet, der Ende der Achtzigerjahre ebenfalls wie Axel H. als
Hausmeister im Mehringhof beschäftigt war.
Sicher nicht die letzte Aktion der BAW in diesem Zusammenhang war am 30.
Mai eine zweite Durchsuchung des Mehringhofs, bei der nochmals nach dem
angeblichen Sprengstoffversteck gesucht wurde. Tarek M. wurde als
"Spürhund" mittels Videokonferenz zugeschaltet.
Mit einer Anklageerhebung gegen die sechs von Tarek M. Beschuldigten ist
frühestens im Herbst zu rechnen, ein Prozessbeginn ist nicht vor
Januar 2001 zu erwarten. Ungeklärt ist, ob für Tarek M.
überhaupt die Kronzeugenregelung gilt, denn im Gesetz heißt es:
" . . . wenn das Wissen über die Tatsachen bis zum 31. 12. 1999
offenbart worden ist". Tarek M. hat den größten Teil seiner
Aussagen erst nach diesem Datum gemacht.
Weder von staatlichen noch von der Szene ausgesprochenen
"Denkverboten" ließ sich der emeritierte Berliner
Politologie-Professor Johannes Agnoli auf der Kato-Veranstaltung
beeindrucken. Er dachte laut darüber nach, wie aus derzeitigen
"Zellen des Widerspruchs" gegen den Kapitalismus wieder
"Zellen des Widerstands" werden können. Auch mit der
Geschichte der revolutionären Zellen setzt sich der Professor trotz
des Widerwillens von Teilen der Soli-Szene auseinander. Beim Anschlag auf
die Siegessäule bewegte ihn nicht so sehr das "ob", sondern
wie man es - besonders in der politischen Vermittlung - anders und besser
hätte machen können.
HERMANN PFLEIDERER
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