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Presse

Datum:
26.03.2001

Zeitung:
Focus

Titel:
Juristischer Super-GAU

Juristischer Super-GAU

Die Frankfurter Staatsanwaltschaft wirft dem prominenten Richter Heinrich Gehrke Totalversagen vor

In Frankfurt verurteilen sich die Juristen jetzt gegenseitig. Vor sechs Wochen kanzelte Richter Heinrich Gehrke, 61, das Ermittlungsverfahren gegen Außenminister Joschka Fischer als "hochgradig lächerlich" ab und sah die Staatsanwälte als Büttel von Politik und Medien.

Nun schlägt die Staatsanwaltschaft zurück. "Herr Gehrke hat mit seinen unvorsichtigen Aussagen die Staatsanwaltschaft lächerlich gemacht und unser Ansehen schwer erschüttert", so Job Tilmann, Sprecher der Frankfurter Staatsanwaltschaft. Entgegen sonstigen Gepflogenheiten der Mäßigung der Mäßigung setzt Tilmann noch einen drauf: "Gehrkes Kammer ist schuld daran, dass der Terrorist Rudolf Schindler frei herumläuft."

Der Zorn der Ermittler richtet sich vor allem gegen Gehrkes "ungeschickte" Verhandlungsführung in Sachen Rudolf Schindler. Der ehrgeizige Richter, so der Vorwurf, wollte im Prozess gegen den Ex-Terroristen Hans-Joachim Klein unbedingt auch Rudolf Schindler für das mörderische Attentat auf die Opec-Konferenz in Wien 1975 verurteilen. Die Staatsanwaltschaft bat den Richter vergebens, das Schindler-Verfahren abzutrennen.

Das befürchtete Fiasko trat ein: Aus Mangel an Beweisen sprach Gehrke schließlich Schindler im Zusammenhang mit dem Opec-Anschlag frei - ein Persilschein mit fatalen Folgen für die Frankfurter Fahnder. Für sie ist Schindler der einstige Kopf der Revolutionären Zellen (RZ). Die Karlsruher Bundesanwaltschaft hält ihn gar verantwortlich für Knieschussattentate und Sprengstoffanschläge. Der frühere RZ-Genosse und jetzige Kronzeuge Tarek Mousli hatte Schindler als angebliche Schlüsselfigur beim Mordanschlag der RZ auf den früheren hessischen Wirtschaftsminister Heinz Herbert Karry (FDP), genannt. Demnach war Schindler beim Karry-Attentat 1981 entweder selbst der Schütze, oder er weiß als "Organisator und Chef-Denker" der RZ, wer der Mörder ist.

Doch nur zwei Wochen nach dem Frankfurter Freispruch lehnte das Kammergericht Berlin die Anklage gegen Schindler wegen "Rädelsführerschaft" in der RZ ab. Und das, obwohl die Richter es als erwiesen ansehen, dass Schindler zwischen 1975 und 1990 Mitglied der RZ war. Nur dies, so ihre kuriose und dabei juristisch korrekte Begründung, sei bereits Gegenstand des Opec-Prozesses gewesen und somit abgeurteilt. Eine neuerliche Anklage verbietet sich wegen "Strafklageverbrauch".

"Uns war dieses Problem frühzeitig bewusst, Herrn Gehrke offenbar nicht", so Tilmann bitter. "Jetzt ist der GAU da." Der Gescholtene wehrt sich und schiebt den schwarzen Peter weiter nach Berlin: "Ich halte die Entscheidung des Berliner Kammergerichts für unbegründet und falsch. Die hätten den Prozess eröffnen sollen." Dass ihm die dortigen Kollegen eine "offenkundige Fehlentscheidung" vorwerfen, sei schon ein starkes Stück.

Gehrke, Vorsitzender der 21. Großen Strafkammer am Frankfurter Landgericht, genoss bisher hohes Ansehen. In den Prozessen gegen den Baubetrüger Jürgen Schneider und die Kindsmörderin Monika Böttcher bestach Gehrke durch straffe Führung und Humor.

Doch Gehrke hat offenbar sein glückliches Händchen verloren. So lud er selbst im Opec-Prozess Außenminister Fischer als Zeugen vor und tat dann völlig überrascht, als dieser sich derart verhaspelte, dass die Staatsanwaltschaft zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens wegen des Verdachts der uneidlichen Falschaussage gezwungen war.

Um Schadensbegrenzung bemüht sich derweil Tilmanns Behörde zusammen mit der Bundesanwaltschaft in Sachen Schindler. Die Strategie der Fahnder ist allerdings ein Frontalangriff gegen Gehrke: Sie wollen die von ihm abgelehnte Verfahrensabtrennung rügen, um eine Aufhebung des Urteils zu erreichen. Dann könnte die Schindler-Anklage in Berlin noch einmal vorgebracht werden. Denn das der überführte RZ-Mann und mögliche Karry-Mörder Schindler straffrei ausgehen könnte, so Tilmann, "ist eine groteske Situation".

Detlef Sieverdingbeck

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