Datum:
04.01.2001
|
Zeitung:
taz
|
Titel:
Halbe Freiheit an der Seine
|
Halbe Freiheit an der Seine
Nach mehrjähriger Untersuchungshaft ist die angebliche Terroristin
und "Carlos"- Komplizin, Christa Fröhlich, wieder
auf freiem Fuß. Der zuständige Richter arbeitet bereits
an einer neuen Inhaftierung
aus Paris DOROTHEA HAHN
"Am schönsten ist es, morgens längs der Seine zum
Hauptgericht zu gehen", sagt Christel Fröhlich, "schön
ist es auch, sich nicht mehr nach jedem Besuch nackt ausziehen zu
müssen und Briefe selbst zukleben und in den Kasten stecken zu
können."
Diese Dinge fallen der 58-Jährigen als erste zu ihrer
wiedergewonnenen Freiheit ein. Über fünf Jahre saß sie in
Untersuchungshaft. Erst in Italien in einem Hochsicherheitstrakt, dann in
Frankreich in einer Einzelzelle. Am Freitag vor Weihnachten traf
völlig unerwartet ein Fax von Frankreichs mächtigem
Anti-Terror-Richter, Jean-Louis Bruguière, im Gefängnis
Fleury-Mérogis im Süden von Paris ein. Wenige Stunden
später stand die Hannoveraner Deutschlehrerin, die der Richter
für eine Gehilfin von Top-Terrorist "Carlos" hält, auf
der Straße.
Seither muss Christel Fröhlich jeden Morgen zur Unterschrift auf
der Île de la Cité erscheinen. Die tägliche Kontrolle im
Hauptgericht gehört zu den besonderen Schikanen, die sich Richter
Bruguière für die langjährige Untersuchungsgefangene
ausgedacht hat. Sie darf auch Paris nicht verlassen und keinen Kontakt zu
bestimmten Personen aufnehmen. Ihre Anwältin Isabelle Coutant-Peyre
hat Berufung gegen diese Auflagen eingelegt. Sie nennt sie einen
"Skandal" und eine "neue Manipulation" des Richters,
der sich vorbehalte, Christel Fröhlich jederzeit erneut zu
inhaftieren.
Bruguière hält Christel Fröhlich für die
"blonde Frau", die in Jugoslawien den Opel Kadett besorgte, der
bei dem Attentat in der Pariser Rue Marbeuf als Bombendepot diente. Doch 18
Jahre nach dem Attentat, bei dem eine Frau umkam und 63 Menschen verletzt
wurden, fehlen ihm offenbar immer noch Beweise.
Stattdessen liegen Dementis vor. Eines von der damaligen
"Carlos"-Gattin Magdalena Knopp, gegen die an jenem Apriltag
1982, als die Bombe in der Rue Marbeuf explodierte, ein Prozess in Paris
eröffnet wurde. Und eines von Christel Fröhlich selbst. Ganz am
Anfang ihrer Untersuchungshaft erklärte sie: "Mit dieser Sache
habe ich nichts zu tun - weder politisch noch persönlich."
Seither schweigt Christel Fröhlich so hartnäckig, wie schon in
Italien, wo sie in den 80er-Jahren sechseinhalb Jahre absaß, nachdem
sie mit Sprengstoff und falschen Papieren verhaftet worden war. Und wie in
Deutschland, wo ihr jedoch nie die Mitgliedschaft und
Rädelsführerschaft in einer "terroristischen
Organisation" - gemeint waren die Revolutionären Zellen -
nachgewiesen werden konnte.
Bei den Verhören las Richter Bruguière seine Fragen vom
Blatt ab. Christel Fröhlich, die ihn weder besonders gut vorbereitet
noch besonders brillant fand, machte als seine Hauptinformationsquelle
Akten der Geheimdienste früherer sozialistischer Staaten Osteuropas
aus. Vor allem aus Ungarn und der DDR.
Die Ermittlungen in Paris verärgerten zuletzt auch das
Auswärtige Amt in Berlin. Via Deutsche Botschaft in Paris drängte
es auf ein schnelles Verfahren. Im vergangenen Jahr schließlich
reichte ein Anwalt von Christel Fröhlich Beschwerde beim
Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein.
Verfahrenstricks und brachiale Methoden gehören zu den
Spezialitäten Bruguières. Sein dickstes Dossier füllt der
Venezolaner Ilitsch Ramírez Sánchez alias "Carlos".
Das Visavis mit dem "Top-Terroristen" verdankt der Richter einer
spektakulären Operation französischer Geheimdienste. Im Sommer
1994 spürten sie "Carlos" im Sudan auf, betäubten ihn
mit einer Spritze und entführten ihn nach Paris. Zwar bekam er dort
wegen Polizistenmordes "lebenslänglich". Doch bei den
Ermittlungen über zahlreiche Attentate der 70er und 80er, die
"Carlos" zur Last gelegt werden - darunter jenes von der Rue
Marbeuf - kommt der Richter nicht voran. In Zweifelsfall lässt er
verlauten, er stehe "kurz vor der Aufklärung".
Seit dem 1. Januar dieses Jahres kommt dem Richter das neue Gesetz
"über die Unschuldsvermutung" in die Quere. Erstmals setzt
es eine Obergrenze für die Untersuchungshaft fest. Wenn nach vier
Jahren nicht genug Beweise für eine Anklageerhebung vorliegen,
müssen Häftlinge freigelassen werden. Außer Frankreich und
Italien haben EU-Länder derartige gesetzliche Obergrenzen. Frankreich
ist wegen dieses Mangels vielfach vom Europäischen Gerichtshof
für Menschenrechte verurteilt worden.
Um Christel Fröhlich trotz dieses neuen Gesetzes länger in
Hand zu halten, stellte Bruguière Ende vergangenen Jahres einen
neuen Auslieferungsantrag an Italien. Dieses Mal wegen eines anderen, 18
Jahre zurückliegenden Anschlags auf den Schnellzug
"Capitole" zwischen Paris und Toulouse. Sollte Italien zustimmen,
könnte ein neues Ermittlungsverfahren beginnen - und eine neue
Untersuchungshaft für Christel Fröhlich.
Sie spricht deswegen auch nur von "halber Freiheit" und
will so schnell wie möglich nach Deutschland. Nach Hannover,
zu ihren Freunden und ihrer Arbeit als Deutschlehrerin. Eine Reise
nach Italien, wo ihr zu "lebenslänglich" verurteilter
Gatte Sandro Padula, ein Exmitglied der "Roten Brigaden",
derzeit erste Erfahrungen als Freigänger macht, plant sie nicht.
Bei ihrem letzten Gefängnisbesuch am 28. Oktober 1995
kam sie dort auf Ersuchen von Richter Bruguière in die Abschiebehaft.
|