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Datum:
27.11.2000
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Zeitung:
Frankfurter Rundschau
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Titel:
"Nur Folklore"
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"Nur Folklore"
Frankfurter Richter vernehmen "Carlos" im Opec-Prozess
Drei Jahre nach seiner Verurteilung zu lebenslanger Freiheitsstrafe
wird der internationale Terroristenführer Illich Ramirez Sanchez,
genannt "Carlos", erstmals wieder vor Gericht stehen.
Frankfurter Richter kommen am Dienstag nach Paris, um den 51 Jahre
alten Venezolaner als Zeugen im Prozess gegen den als Opec-Attentäter
angeklagten Hans-Joachim Klein zu hören.
Ursprünglich hatte Carlos auf Ersuchen der Schwurgerichtskammer zum
Zeugentermin nach Frankfurt eingeflogen werden sollen, doch die
französischen Behörden lehnten ab. Der Verschub, so heißt
das im Vollzugsjargon, des Top-Terroristen aus dem alten Pariser
Gefängnis La Santé in die Haftanstalt von
Frankfurt-Preungesheim erschien als zu riskantes Unternehmen. So hat das
Gericht unter Vorsitz von Heinrich Gehrke nun das zweifelhafte
Vergnügen, zur Dienstreise an die Seine anzutreten. Was die
Strafjuristen vom Main in der von einer französischen Richterin
geführten Vernehmung erwartet, ist indes völlig offen.
Commandante Carlos, der 1975 bei dem von Libyen unterstützten
Überfall auf die Konferenz Erdöl exportierender Länder
(Opec) in Wien den Befehl hatte, kann beides sein - ein großer
Schweiger ebenso wie ein fulminanter Redner, der gleich in mehreren
Sprachen das Wort ergreift. "Wir sind auf alles eingerichtet. Notfalls
bleiben wir drei Tage oder fahren gleich wieder nach Hause", sagt
Richter Gehrke.
Hat Klein bei der Opec nur herumgeballert und - wie er behauptet - nur
in die Telefonanlage geschossen? Oder hat er selber eines der drei Opfer
getötet? Von Carlos liegt ein Kassiber vor, wonach es der von den
Revolutionären Zellen (RZ) abgestellte Frankfurter war, der den
irakischen Leibwächter Hassan Al-Khafazi mit einem Kopfschuss
niederstreckte. Außerdem habe Klein noch einem Wiener Polizisten ins
Gesäß geschossen.
Als "unser Sonderkorrespondent aus der La Santé" hat
der südamerikanische Berufsrevolutionär seine Version unterdessen
in der Zeitung La Razon bestätigt. In dem Beitrag für das
venezolanische Oppositionsblatt rechnet er vehement ab mit der deutschen
Studentenbewegung, die aus seiner Sicht "nur Folklore" war.
Während Klein beiläufig abgetan wird als "ein unbedeutender
junger Mann", sind vor allem dessen prominent gewordene
Weggefährten aus der Frankfurter Sponti-Szene - Außenminister
Joschka Fischer (Grüne) sowie sein Parteifreund, der
Europa-Abgeordente Daniel Cohn-Bendit - Zielscheibe wütender
Angriffe.
Folgt man dem Dokument, das die Frankfurter Richter im Gepäck bei
ihren Akten haben, soll der "rote Dany" nach dem
Opec-Überfall Kleins "Verwandlung in einen Agenten des
israelischen Geheimdienstes Mossad" eingeleitet haben. Nur "um
eine Zersetzung des Milieus zu vermeiden, in dem verschiedene Kameraden
Unterschlupf gefunden hatten", sei Ende der 70er Jahre darauf
verzichtet worden, Cohn-Bendit zu "exekutieren".
Und Fischer? Der, schreibt Carlos, habe sich als höchst
unzuverlässig erwiesen bei der Verwahrung von scharfen Waffen, die
"Kameraden" bei ihm in der Wohngemeinschaft versteckt gehalten
hätten.
Sollte Carlos am Dienstag von 14 Uhr an im alterwürdigen
Justizplast auf der Cité "auspacken", werden die
Protokollbeamten allerhand zu tun bekommen. Vier Stunden Zeit nahm sich der
vor Selbstbewusstsein strotzende Macho, um 1997 in seinem eigenen Prozess
das Schlusswort zu halten: "Ich bestätige nichts, ich bestreite
nichts. Die Wahrheit ist wie ein Puzzle."
Erst nach Mitternacht kamen die Pariser Richter zur Urteilsverkündung:
Lebenslang wegen Mordes an zwei Beamten des französischen Geheimdienstes
DST sowie an einem libanesischen Doppelagenten, die den Top-Terroristen
1975 nicht weit vom Panthéon hatten festnehmen wollen. "Carlos",
dem in Frankreich mehr als 80 Tote durch Terrorakte angelastet werden,
trug es mit Fassung: "Es lebe Allah, es lebe die Revolution."
Norbert Leppert
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