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Presse

Datum:
16.02.2001

Zeitung:
Berliner Zeitung

Titel:
Kronzeuge der Republik

Kronzeuge der Republik

Das Frankfurter Landgericht hat über Hans-Joachim Klein geurteilt - und über die Debatte, die der Prozess in Deutschland ausgelöst hat.

Hans-Joachim Klein presst die Hand auf seinen Bauch und verzieht das Gesicht. Diese Schmerzen. Seit einem Vierteljahrhundert erinnern sie Klein daran, dass es eine ungesühnte Schuld in seinem Leben gibt. Drei tote Männer. Erschossen von Terroristen, die am 21. Dezember des Jahres 1975 das Opec-Konferenzgebäude in Wien stürmten. Klein war einer von ihnen. Das hat er zugegeben. Er war einer von den Mördern.

Juristisch gesehen spielt es keine Rolle, wer wohin oder auf wen schoss. Auch dass Hans-Joachim Klein damals schon nach zehn Minuten außer Gefecht war - nachdem ihn ein Querschläger im Bauch traf und lebensgefährlich verletzte - ist in dieser Hinsicht unerheblich. Dreifacher Mord ist die Schuld, mit der Klein seit 25 Jahren lebt. Und die an diesem Donnerstag vor dem Frankfurter Landgericht gesühnt werden soll.

Angriffe gegen die Zeugen

Als der Vorsitzende Richter Heinrich Gehrke sich zur Urteilsverkündung erhebt, atmet Hans-Joachim Klein noch einmal tief durch. Er hebt den Blick, richtet die Augen auf die milchig-weißen Fensterscheiben des Gerichtssaals, die keinen freien Blick nach draußen erlauben und das Sonnenlicht nur gedämpft hineinlassen.

Der Angeklagte wird zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt, verkündet Richter Gehrke. Hans-Joachim Klein reagiert nicht. Ist er erleichtert, dass der Richter so deutlich unter den von der Staatsanwaltschaft geforderten 14 Jahren geblieben ist? Oder hat er gehofft, dass man ihm ohne eine Strafe vergeben wird? Seine Miene bleibt unbewegt. Erst als er sich nach der Urteilsverkündung wieder setzt, verzieht er das Gesicht und fasst sich an den Bauch. Diese Schmerzen.

Für den Saal und die überfüllte Pressetribüne hat Klein keinen Blick übrig, auch nicht in den folgenden anderthalb Stunden, in denen Richter Gehrke das Urteil begründet. Hans-Joachim Klein weiß, es ist nicht sein Prozess allein; dieses Verfahren, das die Aufmerksamkeit der deutschen Öffentlichkeit so sehr erregt. Seit Wochen tobt nicht nur hinter den Türen dieses Gerichtssaals ein Kampf um die Vergangenheit der Bundesrepublik; ein Kampf, in dem vor allem politische Interessen ausgefochten werden.

Richter Heinrich Gehrke hatte das wohl vorausgesehen. Zu Beginn des Prozesses im vergangenen Oktober mahnte er, es gehe bei dem Verfahren "nur um die Aufklärung und gerechte Bewertung schwerer Straftaten, nicht um ein historisches Seminar". Der Richter hat in den vergangenen Monaten immer wieder gezeigt, dass er diesem Anspruch gerecht werden wollte. Was vor allem der Staatsanwalt Volker Rath zu spüren bekam, dem Heinrich Gehrke immer dann in die Parade fuhr, wenn der Ankläger Ermittlungsdefizite durch Angriffe etwa auf die Zeugen Joschka Fischer und Daniel Cohn-Bendit zu kompensieren suchte.

Aber auch Heinrich Gehrke konnte nicht verhindern, dass dieser Prozess außerhalb des Saals 165 c im Frankfurter Landgericht zum Anlass für eine Abrechnung des politischen Konservatismus mit der 68er-Generation genommen wurde. Mit einer abgewogenen Beurteilung dieser bundesdeutschen Vergangenheit hatte die Kampagne wenig zu tun. Denn es ging darin eben nicht um die Frage, was junge Menschen wie Hans-Joachim Klein und Joschka Fischer Ende der 60er-, Anfang der 70er-Jahre an der Welt und an Deutschland verzweifeln ließ, dass sie sich - wie Fischer vor Gericht sagte - "als Unterdrückte empfanden und erlebten".

Heftige Debatte

Das Frankfurter Gericht aber hat versucht, sich dieser Frage zu nähern, ohne dabei das Schicksal und die Schuld des Angeklagten aus dem Blick zu verlieren. Richter Gehrke hebt dies in seiner Vorbemerkung zur Urteilsbegründung noch einmal ausdrücklich hervor. Die Kammer habe keine Geschichtsaufarbeitung betrieben, auch wenn dies "durch Einflussversuche von außen uns aufgezwungen werden sollte", sagt Gehrke. "Wenn wir Geschichtsforschung hätten betreiben wollen, hätten wir viel mehr Zeitzeugen anhören müssen - angefangen von Mitgliedern der Sponti-Szene über die damals politisch Verantwortlichen bis hin zu Leuten wie Gaddafi und Arafat."

Es sei aber unvermeidbar gewesen, so Gehrke weiter, das Zeitgeschehen von damals genauer zu betrachten, um die politischen Hintergründe der Tat Kleins zu beleuchten. Ausdrücklich lobt der Richter in diesem Zusammenhang die Aussagen der Zeitzeugen vor Gericht. Zu ihnen gehörten unter anderen Außenminister Joschka Fischer, der Europaabgeordnete der Grünen, Daniel Cohn-Bendit, und der Kabarettist Matthias Beltz. "Sie haben dem Gericht ein aufschlussreiches und tatrelevantes Bild der Umstände und der Szene vermittelt, in der sich Hans-Joachim Klein damals bewegte", sagt der Richter. Die Aussagen seien für eine "sachkundige Aufklärungsarbeit" von erheblichem Wert gewesen.

Mit deutlicher Kritik weist Richter Gehrke die "eruptiven Reaktionen" bei Politikern, Medien und Öffentlichkeit auf einige Zeugenaussagen zurück. Ohne die heftige Diskussion um die Vergangenheit Joschka Fischers ausdrücklich zu erwähnen, nennt Gehrke solche Reaktionen "wenig sachdienlich". "Es ist bedauerlich, dass manche der hier angetretenen Zeugen heute erhebliche Schwierigkeiten bekommen, nach dem sie uns offen über ihre damaligen Handlungsweisen und Ansichten berichteten, die sie inzwischen überwunden haben", sagt Heinrich Gehrke und spielt damit erneut auf den Auftritt des Zeugen Fischer an.

Joschka Fischer ist wegen seiner Aussage vor dem Frankfurter Landgericht von der Union heftig attackiert worden. Dem Außenminister droht nun sogar die Aufhebung seiner Immunität. Denn die Frankfurter Staatsanwaltschaft hat gegen Fischer ein Ermittlungsverfahren wegen Falschaussage eingeleitet. Fischer hatte vor Gericht erklärt, niemals mit dem RAF-Mitglied Margrit Schiller in Frankfurt zusammengewohnt zu haben. Frau Schiller behauptet in ihrem Buch jedoch das Gegenteil. Nach seiner Zeugenaussage in Frankfurt hatte Joschka Fischer eingeräumt, dass Margrit Schiller möglicherweise in dem Frankfurter Haus, in dem er damals lebte, übernachtet habe, nicht aber in seiner Wohngemeinschaft.

Richter Gehrke sagt an diesem Donnerstag in Frankfurt, die Diskussion um die Geschichte der Bundesrepublik stimme ihn nachdenklich. "Sie zeigt, dass in diesem so friedlich vereinten Deutschland noch vieles aus der jüngeren Vergangenheit existiert, das es aufzuklären und aufzuarbeiten gilt." Dann wendet er sich wieder dem Kern der Urteilsbegründung zu.

Detailliert beschreibt er den Charakter des Angeklagten und die Umstände, die Klein in den Terrorismus trieben. Er sei ein einfacher Arbeiter gewesen, der den linksintellektuellen Studenten der Frankfurter Szene wie gerufen kam. Herrschte doch dort ein akuter Mangel an Vertretern der Arbeiterklasse, deren Interessen die Studenten zu kennen glaubten und durchsetzen wollten. Klein sei beliebt gewesen, auch wenn er vieles nicht verstanden habe, etwa wenn sich die Spontis in "endlosen Diskussionen Zitate von Habermas und Marcuse um die Ohren schlugen".

Dreißig Jahre später

Dennoch habe Klein "die Richtigkeit" der ihm von seinen Freunden beigebrachten Ansichten über Ungerechtigkeit in der Gesellschaft erlebt, wie Gehrke es ausdrückt. "Es waren die Wohnraumspekulanten, die Alt-Nazis in der bundesdeutschen Regierung und Verwaltung, die Militärdiktaturen in Südeuropa und der grausame Vietnamkrieg, die die Studenten und auch Klein damals politisierten", erklärt der Richter die Geschichte. "Wie sein Freund Fischer" habe Klein "in vorderster Front" bei Demonstrationen gegen die Polizei gekämpft. "Diese Aktionen wurden in der Szene als legitime Gegengewalt zur staatlichen Repression verstanden", sagt Gehrke in Frankfurt. Dreißig Jahre später.

Anfang der 70er-Jahre seien die "Trennungslinien" in der Sponti-Szene aber immer deutlicher geworden, fährt der Richter fort. "Warum sich Klein aber letztlich entschied, sich dem Terrorismus anzuschließen, ist auch heute nicht zu erklären", räumt Gehrke schließlich ein. "Selbst Klein weiß darauf wohl bis heute keine Antwort."

Konsequenter Ausstieg

Nicht geklärt hat der Prozess, ob Klein eines der drei Opfer in Wien selbst erschossen hat. Klein hat stets bestritten, einen gezielten Schuss auf Menschen abgegeben zu haben. Der Richter lässt die Frage offen. Für den Schuldspruch sei dies auch unerheblich, stellt er klar. Als strafmildernd wertet das Gericht Kleins konsequente Abkehr vom bewaffneten Kampf. Er habe seinen Ausstieg mutig und zielstrebig vollzogen. Durch die Veröffentlichung seines Buches "Rückkehr in die Menschlichkeit" und einen Brief an den "Spiegel" habe er 1977 vor einem geplanten Anschlag der "Revolutionären Zellen" gewarnt. Dies und Kleins Aussagen vor der Bundesanwaltschaft nach seiner Festnahme im September 1998, die zum Aufspüren einer mutmaßlichen Terroristin führten, ließen die Anwendung der Kronzeugenregelung zu, argumentiert der Richter. Anstelle der lebenslangen Freiheitsstrafe, die bei der Schwere der Tat angebracht wäre, sei daher die Strafe von neun Jahren angemessen.

Ausdrücklich würdigt der Richter die Unterstützung, die Klein bei seinem Ausstieg aus der Terrorszene von Freunden wie Cohn-Bendit und Beltz erfahren habe. "Diese Freunde haben für ihre große Hilfe einen besonderen Dank verdient und keine Strafverfolgung", sagt Gehrke und leistet sich damit einen letzten Seitenhieb gegen Staatsanwalt Rath. Denn die Frankfurter Staatsanwaltschaft prüft noch immer die Einleitung von Ermittlungen gegen Freunde Hans-Joachim Kleins wegen Strafvereitelung.

Die Entbehrungen, die Klein nach seinem Ausstieg im französischen Exil auf sich genommen habe, die Furcht vor Rache seiner ehemaligen Genossen und vor der Polizei hätten sein Leben im letzten Vierteljahrhundert geprägt, daran erinnert der Richter zum Abschluss seiner Urteilsbegründung. Klein habe keine Arbeit aufnehmen können, seine Ehe sei zerbrochen, zwei Selbstmordversuche habe er knapp überlebt. "Ein größeres Maß an Buße und Demut, wie es Klein gelebt habt, ist schwer vorstellbar", sagt Heinrich Gehrke.

Der Angeklagte schaut während dieser Worte des Richters stumm auf seinen Tisch. Und verzieht sein Gesicht vor Schmerzen.

Andreas Förster

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