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Presse

Datum:
07.12.2000

Zeitung:
Süddeutsche Zeitung

Titel:
Geständnis einer Zelle

Geständnis einer Zelle

Kronzeuge im Berliner Terrorismusprozess schildert den Aufbau seiner Organisation

Ich wünsche dir, dass du an deinen Aussagen erstickst. Die Zuschauerin stürmt wütend aus Sitzungssaal 145a des Berliner Kammergerichts. Eine andere hatte ihn kurz zuvor einen "widerlichen Drecksack" genannt. Tarek M. schaut kurz von seiner Anklagebank auf, rückt die runde Brille zurecht, zupft an der Schussweste unter seinem Pullover und redet ruhig weiter. Detailliert, ausführlich, unbeteiligt. Er nennt Decknamen, Organisationsstruktur und Pläne. Der Richter nickt zufrieden. M. weiß, was von einem Kronzeugen erwartet wird.

Dem 41-jährigen Deutsch-Libanesen Tarek M. wirft Generalbundesanwalt Kay Nehm vor, an Anschlägen der linksterroristischen Untergrundorganisation "Revolutionäre Zellen" (RZ) beteiligt gewesen zu sein. Die Antwort des Angeklagten ist keine Überraschung: "Das alles stimmt." Er habe es ja schließlich den Ermittlern nach seiner Verhaftung im November 1999 selbst erzählt. Sie hatten kurz zuvor Sprengstoff in seinem Keller gefunden.

Die Situation der Palästinenser und die Abschiebung seiner Halbschwester hätten in schon ihn frühen Jahren politisch geprägt, sagt er. Es sei richtig, dass er zeitweise von 1985 bis 1995 als Technikspezialist der "Berliner Zelle", der örtlichen Gruppe der RZ , aktiv war. Er war in der so genannten "Funkgruppe". Mit einem Scanner habe er die Frequenzen der Polizei, des Landeskriminalamts und des Verfassungsschutzes abgehört. "Stimmt es, dass bis Mitte der 80er Jahre der komplette Funkverkehr des Verfassungsschutzes abgehört wurde?", fragt der Richter. Tarek M. lächelt. Das sei überhaupt kein Problem gewesen.

Später wäre man sogar durch "Mittelsmänner" an moderne Polizei-Funkgeräte gekommen. Zusätzlich auch an detaillierte Einsatzpläne bei Demonstrationen. Ein Mitglied der "Alternativen Liste" habe seine Kontakte in die Berliner Verwaltung nutzen können. "Ich würde es so formulieren: Wir waren recht gut informiert." Reisedokumente habe einer mit dem Decknamen "Drogentod" besorgt. "Sein Klarname, also sein richtiger Name, war Helmut. Er war der Verantwortliche des Computersystems beim Bundeszentralregister."

M. bestreitet nichts. Weder den Anschlag auf den damaligen Leiter der Berliner Ausländerbehörde, Harald Hollenberg, im Jahr 1986, noch den Sprengstoffanschlag auf die Berliner Sozialhilfestelle für Asylbewerber, 1987. Auch nicht das Attentat auf den Bundesverwaltungsrichter, Günter Korbmacher, im gleichen Jahr. Alles entspreche der Wahrheit. Er habe Tatorte und Fluchtwege ermittelt und die Aktionen per Funk abgesichert. Die RZ schoss damals ihren Opfern in die Beine. "Knieschussaktionen" wurden sie genannt. Seit der Gründung 1973 haben sich die RZ zu 186 Anschlägen bekannt. 40 davon ließen sich den "Berliner Zellen" zurechnen, glaubt die Bundesanwaltschaft. "Ziel war eine gewaltsame Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse in der Bundesrepublik".

Ein Zusammenschluss linker Gruppen, der die tödlichen Anschläge der RAF nicht wollte. Jedenfalls nicht absichtlich. 1981 starb bei einer solchen "Knieschussaktion" der hessische Wirtschaftsminister Herbert Karry. "Ein Unfall", teilten die RZ mit. Karrey war verblutet. Von 1985 an richteten sich die Proteste vor allem gegen die deutsche Ausländer- und Asylpolitik. "Allerdings rechnen wir heute nicht mehr damit, dass die Organisation noch existiert", erklärte kürzlich eine Sprecherin der Bundesanwaltschaft. Den letzten Sprengstoffanschlag sollen die RZ am 3. Oktober 1993 auf Einrichtungen des Bundesgrenzschutzes in Frankfurt (Oder) und Görlitz verübt haben.

Da hatte sich M. aber schon lange von der Gruppe abgewendet. Ihn habe nicht zuletzt der "wenig feinfühlige Umgang enttäuscht." Als am 19.  Dezember des vergangenen Jahres über 1000 Polizisten das alternative Zentrum Mehringhof stürmten und einen Mitarbeiter der dort ansässigen Forschungsgesellschaft "Flucht und Migration" und den Hausmeister des Gebäudes festnahmen, hatten sie das M. zu verdanken. Etwas später wurden noch ein in Kanada lebender Deutscher und ein Kuratoriumsmitglied der Technischen Universität Berlin verhaftet. "Er hat uns Verbindungen gezeigt, von denen wir bislang überhaupt nichts wussten. Seine Aussage hat zur Festnahme von insgesamt sechs mutmaßlichen RZ-Mitgliedern geführt", versichert der Generalbundesanwalt. Er ist zufrieden.

M. hat seinen Teil des Zeugenschutzprogrammes damit erfüllt. Der Richter wird es ihm wahrscheinlich gleich tun. Nach der Anklage verlas er ein Schreiben der Bundesanwaltschaft. Sie forderte Bewährung.

Juan Moreno

MAIL
http://www.freilassung.de/presse/mousli/sz071200.htm