Datum:
07.12. 2000
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Zeitung:
BerlinerZeitung
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Titel:
Ein Feierabend-Terrorist packt aus
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Ein Feierabend-Terrorist packt aus
Prozess gegen ehemaliges Mitglied der "Revolutionären
Zellen" vor dem Kammergericht
Als Harald Hollenberg am 28. Oktober 1986 gegen 8 Uhr morgens sein Haus
in Zehlendorf verließ, schossen ihm Unbekannte zweimal aus einer
Pistole von hinten in die Beine. Hollenberg brach zusammen, die Täter
flüchteten auf Klappfahrrädern zu einem am Teltower Damm
geparkten Auto. Das Auto wurde später gefunden. Ausgebrannt.
Hollenberg war 1986 Leiter der Berliner Ausländerbehörde. Die
Attentäter waren Sympathisanten der Roten Armee Fraktion. In Berlin
galten sie als "Feierabend-Terroristen". Weil sie
unauffällig und bürgerlich lebten und regulären Berufen
nachgingen. Einen Tag nach dem Anschlag auf Hollenberg gingen bei
Tageszeitungen in Berlin Schreiben der Täter ein. Darin wurde
Hollenberg mitverantwortlich dafür gemacht, dass sich sechs
Männer in der Abschiebehaft verbrannt hatten. Die Schreiben waren
unterschrieben mit "Revolutionäre Zellen". Darunter prangte
ein fünfzackiger Stern.
Zwischen 1973 und 1995 gingen bundesweit 186 Anschläge auf das
Konto der "Revolutionären Zellen" (RZ), darunter etwa 40 in
Berlin. Die Fahnder hatten jahrelang keine Ahnung, wer hinter den RZ
steckt. Seit gestern muss sich ein ehemaliges Mitglied vor dem 2.
Strafsenat des Kammergerichts verantworten. Es ist der 41-jährige
Berliner Karatelehrer Tarek Mohamad Ali Mousli.
Verachtung
Die Bundesanwaltschaft ist davon überzeugt, mit Mouslis Hilfe die
Geschichte der radikalen Linken in Berlin aufklären zu können. Er
hat detailliert über Strukturen und Arbeitsweise der RZ geredet, er
hat Namen genannt. "Er ist sehr glaubwürdig", sagt
Bundesanwalt Rainer Griesbaum. Der Angeklagte gilt als Kronzeuge, er ist im
Zeugenschutzprogramm, wird Tag und Nacht bewacht. Im Gerichtssaal sitzen
zwei Personenschützer neben ihm, und für die Prozessbesucher
ordnete das Gericht verstärkte Kontrollen an. Denn in der Szene gilt
Mousli als Verräter.
Erst gestern veröffentlichten "ehemalige Bekannte" in der
"tageszeitung" einen offenen Brief an ihn. "Du hast dich
entschlossen, eine ganze Reihe von uns zum Teil gut bekannten Leuten bei
der Staatspolizei anzuschwärzen", steht darin. "Du kannst
dir denken, wie groß unsere Verachtung für so ein
niederträchtiges Verhalten ist." Die Unterzeichner fordern Mousli
auf, seine Aussagen zurückzunehmen, "eine letzte Chance",
die er "unbedingt ergreifen sollte".
Decknamen
Aber Mousli redet. Plaudert über sein Leben in Beirut, wo er
geboren wurde, über sein wohlhabendes Elternhaus, sein Studium der
Geschichte und Informatik in Berlin und die Hausbesetzerbewegung, der er
angehörte. Vor allem erzählt er von den "Revolutionären
Zellen", deren Mitglied er zehn Jahre lang war. Der Elektronikfachmann
hat nach eigenen Angaben bei Anschlägen den Funkverkehr der Polizei
abgehört, um "Mitstreiter" rechtzeitig warnen zu
können. Bei den Schüssen auf Hollenberg will er mit einem
Funkscanner unter der Brücke am S-Bahnhof Zehlendorf gestanden haben.
Er nennt vor Gericht vor allem Decknamen. "Wir haben uns nur mit
Decknamen angeredet."
Das Bundeskriminalamt will herausgefunden haben, wer sich dahinter
verbirgt. Drei Männer sitzen seit fast einem Jahr als vermeintliche
Mitverantwortliche für die Anschläge in Berlin in
Untersuchungshaft in Moabit. Es ist der Mehringhof-Hausmeister Axel H.
(52), der Mitarbeiter der Forschungsstelle für Flucht und Migration
Harald G. (52) und der mittlerweile gekündigte Leiter des Akademischen
Auslandsamtes der Technischen Universität, Matthias B. (52).
Auf Hollenberg soll nach Angaben von Mousli ein Mann geschossen haben,
den er unter dem Decknamen "Jon" kannte. Eine Frau namens
"Judith" war angeblich dabei. Als "Jon" identifizierten
die Fahnder des Bundeskriminalamtes Rudolf S. Er sitzt derzeit wegen des
Anschlags auf die Wiener Opec-Konferenz 1975 zusammen mit dem
Ex-Terroristen Hans-Joachim Klein in Frankfurt am Main auf der Anklagebank.
"Judith" war "Jons" Lebensgefährtin, eine
54-jährige Galeristin, die in Frankfurt am Main verhaftet wurde.
Zwischenrufe
Mousli erzählt auch von einem Berliner Apotheker, der viel Geld
erbte und die "Zellen" über eine Stiftung finanziell
unterstützt habe. Lothar E. ist einer der wenigen, von denen Mousli
einen Klarnamen nennt. Er war angeblich aktiv wie er und hat Informationen
aus Polizeikreisen und dem Innenausschuss beschafft. "Es gab einen
Menschen in der AL (der Alternativen Liste), sagt Mousli, der Lothar die
Informationen beschaffte." Wer der "Mensch" war, ist den
Ermittlern nicht bekannt. Lothar E. wurde in Kanada festgenommen und wartet
dort auf seine Auslieferung. Mousli sagt: "Lothar war mein bester
Freund."
Einige Zuschauer reagieren mit Zwischenrufen. "Tarek, du bist ein
schmieriger Hund." Eine Frau ruft: "Ich wünsche, dass du an
deinen Aussagen erstickst." Mousli lächelt.
Es war ein Zufall, dass er den Ermittlern ins Netz ging. 1995 waren zwei
Jugendliche in einen Keller in der Schönhauser Allee in Prenzlauer
Berg eingebrochen und fanden dort 24 Stangen Sprengstoff. Ein Onkel, dem
sie das Diebesgut zum Verkauf anboten, alarmierte die Polizei. Befragt nach
der Herkunft des Stoffes, sagten die Jugendlichen zunächst, sie
hätten ihn auf einer Parkbank gefunden. Die Polizei legte die Sache zu
den Akten. Erst drei Jahre später stellte das Bundeskriminalamt
über die Marke des Sprengstoffs eine Verbindung zu den Anschlägen
und den "Revolutionären Zellen" her. Der Keller gehörte
zur Wohnung von Mousli. Er wurde im November vergangenen Jahres verhaftet,
aber bald darauf wieder freigelassen, weil er umfassend aussagte.
Bewährung
Vor dem Kammergericht klagte ihn die Bundesanwaltschaft zwar wegen
Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung an, einem Verbrechen,
das mit bis zu zehn Jahren Haft geahndet werden kann. Doch Mousli
kann damit rechnen, als freier Mann den Gerichtssaal zu verlassen.
Wie sein Urteil ausfallen könnte, wurde schon gestern deutlich:
Die Bundesanwaltschaft hat dem Vorsitzenden Richter Eckhart Dietrich
vor dem Prozess mitgeteilt, dass sie, sofern Mousli bei seinem Geständnis
bleibt, eine Bewährungsstrafe beantragen werde. Richter Dietrich
erklärt dazu, er pflege "ohne zwingende Gründe nicht
über die Strafanträge der Bundesanwaltschaft hinauszugehen"
SABINE DECKWERTH
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