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Presse

Datum:
03.06.2000

Zeitung:
Süddeutsche Zeitung

Titel:
Regie im Knast

Der Kronzeuge dirigiert die Polizei

Regie im Knast

Fahnder lassen sich per Direktschaltung bei der Arbeit beraten

Berlin, 2. Juni Mit einer kleinen Gruppe von Beamten reiste am vergangenen Dienstag das Bundeskriminalamt im Berliner Alternativzentrum Mehringhof an. Auf der Suche nach Sprengstoffrückständen aus einem Depot der Revolutionären Zellen (RZ) durchsuchten die Polizisten einen Fahrstuhlschacht sowie zwei Lagerräume des Kreuzberger Gebäudekomplexes. Via Kamera live zugeschaltet: Kronzeuge Tarek M., nach eigenen Worten früher selbst Mitglied der Gruppe. Vom Untersuchungsgefängnis aus dirigierte der 41-Jährige über Video-Direktschaltung die Fahnder vor Ort durch das alte Gemäuer eine ermittlungstechnische Premiere, wie die Bundesanwaltschaft (BAW) erklärt. Es war nicht der erste Polizeibesuch, den die Alternativen erhielten. Am 19. Dezember vergangenen Jahres fahndeten knapp 1000 Polizeibeamte nach dem vermeintlichen Depot, das die RZ nach Angaben von Tarek M. auf dem Gelände angelegt haben sollen. Zeitgleich wurden in Berlin und Frankfurt/Main drei Personen verhaftet: Ein Mitarbeiter der im Mehringhof ansässigen Forschungsgesellschaft Flucht und Migration (FFM), der Hausmeister des Gebäudes sowie eine Frankfurterin . Bereits zuvor war deren Lebensgefährte verhaftet worden. Zwei weitere Männer machte die Polizei in den letzten Wochen dingfest: einen Deutschen, der Mitte der Neunziger nach Kanada ausgewandert war, wurde in seinem Heimatort verhaftet. Gegen ihn beginnt am 8. Juni das Auslieferungsverfahren. Bereits seit dem 18. April sitzt Matthias B., 51, hochrangiger Angestellter und Kuratoriumsmitglied der Technischen Universität Berlin, in Untersuchungshaft. Sie alle sollen sich Mitte der Achtzigerjahre als Mitglieder der terroristischen Vereinigung Revolutionäre Zellen an Aktionen gegen deutsche Asylpolitik in Berlin beteiligt haben. Nach BAW-Angaben sollen sie einen Sprengstoffanschlag auf die Zentrale Sozialhilfestelle für Asylbewerber im Jahr 1987 verübt haben. Andere Vorwürfe aus 1986 und 1987 sind mittlerweile verjährt.

Sprengstoff im Keller

Einzige Grundlage für die Vorwürfe sind die Aussagen von Tarek M. Dieser berichtet ausgiebig aus dem Innenleben der RZ. Die Polizei verhaftete den Deutsch-Libanesen im November 1999, nachdem in seinem Keller Sprengstoff gefunden worden war, den die Ermittler der linksradikalen Gruppe zuordnen. Ob die Berichte des Kampfsportlehrers der Wahrheit entsprechen, ist bislang nicht geklärt. Schließlich wurde die rechtsstaatswidrige Kronzeugenregelung von der Bundesregierung zum Jahreswechsel abgeschafft, so der grüne Innenpolitiker Cem Özdemir, weil sie Anreiz zu falschen Verdächtigungen und Denunziationen bot. Und auch Wolfgang Kaleck, der Rechtsanwalt eines der Beschuldigten kritisiert, man habe ihm lediglich die Aussagen von Tarek M., aber keinerlei direkten Beweise vorlegen können. Bei der Bundesanwaltschaft (BAW) hält man aber an den Haftbefehlen fest. Im Gegensatz zu früheren Terrorismus-Verfahren gehe es jedoch nicht um Verhinderung von Straftaten, sondern um Vergangenheitsaufarbeitung , erklärt BAW-Sprecherin Eva Schübel. Schließlich rechne die Behörde nicht damit, dass die RZ noch existieren . Die Video-Schaltung zum Kronzeugen hält man in Karlsruhe für nichts Außergewöhnliches. Die Lenkung aus dem Untersuchungsgefängnis werde lediglich aus Gründen der Vereinfachung und Praktikabilität eingesetzt. Wann gegen die Beschuldigten Anklage erhoben wird, sei bislang noch nicht klar, erklärt Sprecherin Schübel: So bald wie möglich. Zumindest die Spur in den Mehringhof hat hierzu bislang wenig beigetragen: Waffen oder Sprengstoff wurden in dem Zentrum, das 30 alternative Projekte vom Fahrradladen bis zur Szenekneipe beherbergt, nicht gefunden.

Wolf-Dieter Vogel

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