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Presse

Datum:
07.06.2000

Zeitung:
Jungle World

Titel:
Virtuelles Stelldichein

Alternative Lebensformen

Virtuelles Stelldichein

Hoch, ein bisschen rechts, jetzt wieder runter. Oder doch weiter links? "Tarek, du musst klare Anweisungen geben." Will er ja, der Mann mit dem schwarzen Pullover und den dunklen Haaren, dessen Konterfei auf der oberen Hälfte der Mattscheibe in einem kleinen Fensterchen eingeblendet ist. Aber wo nichts ist, lässt sich auch nicht wirklich was holen. Oder haben die in Plastik-Overalls gekleideten Experten doch noch Erfolg? Fein säuberlich reiben sie Wattebäuschchen für Wattebäuschchen an den Wänden entlang, sammeln Dreck mit einem Staubsauger, packen einen blauen Müllsack und einen alten Beutel ein. Nach einem Waffen- oder Sprengstofflager aber sehen auch die beiden versifften Tüten nicht gerade aus. "Weiter rechts, weiter rechts, stopp." Kameraschwenk, Dunkelheit, Pause: Du bist nicht allein. Nicht ganz.

Big Brother im Mehringhof. Mit freundlicher Unterstützung der Bundesanwaltschaft. Eine ermittlungstechnische Premiere, wie man von der Karlsruher Behörde erfährt. Regie führt Tarek Mousli, Kampfsportlehrer und Kronzeuge. Per Videokonferenz dirigiert der 41jährige die Beamten des Bundeskriminalamtes aus dem Untersuchungsgefängnis durch Fahrstuhlschacht und Lagerräume des Kreuzberger Alternativzentrums. Seine Anweisungen nimmt eine Polizistin über Handy entgegen.

Die etwa dreistündige Visite der Wiesbadener Kriminalen am Dienstag vergangener Woche war bereits der zweite Versuch, einem Depot der Revolutionären Zellen (RZ) auf die Schliche zu kommen. Oder zumindest den Spuren jenes Sprengstofflagers, von dem Mousli den Ermittlern berichtet hat. Auf ein spektakuläres Aufgebot von knapp 1 000 Beamten, mit dem die Strafverfolger am 19. Dezember letzten Jahres angereist waren, wollte man dieses Mal offenbar verzichten.

Aber auch auf einen Besuch des Kronzeugen in dem linken Zentrum sind die Strafverfolger weniger scharf. Was wenig verwundert. Schließlich ist Mousli, der nach eigenen Angaben selbst in der RZ organisiert war, mittlerweile für die Verhaftung von sechs vermeintlichen Ex-Mitgliedern der militanten Gruppe verantwortlich. Auf besondere Freude wäre seine Visite im Mehringhof also kaum gestoßen. Auch er wird es also vorgezogen haben, der Veranstaltung fern zu bleiben. Seine ungehemmte Bereitschaft zur Kooperation mit den Bundesanwälten konnte Mousli via Bildschirm genügend zum Ausdruck bringen.

Solche Übungen könnte er nötig haben: Möglicherweise muss der Kronzeuge nicht einmal live dabei sein, wenn auf der Grundlage seiner Aussagen vor Gericht gegen die RZ-Angeklagten verhandelt wird. Anfang des Jahres hat der Bundesgerichtshof im Verfahren gegen die Frankfurterin Monika Haas entschieden, dass Kronzeugen nicht vor den Richtern erscheinen müssen.

Ob Mousli in der gerichtlichen Inszenierung persönlich mitspielen wird, muss sich folglich erst noch herausstellen. Angesichts der offenbar dünnen Beweislage, die die Ermittler ein weiteres Mal in den Mehringhof getrieben hat, haben die Ankläger allen Grund, dies zu verhindern. Denn in der Begegnung mit alten Freunden und Freundinnen im Gerichtssaal dürfte es dem langjährigen Szene-Aktivisten nicht leicht fallen, seine belastenden Aussagen aufrecht zu erhalten. Die Nominierung würde wohl eindeutig ausfallen.

wolf-dieter vogel

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