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Presse

Datum:
16.06.2000

Zeitung:
Frankfurter Rundschau

Titel:
Polizisten durchsuchen die Geschichte

Polizisten durchsuchen die Geschichte

Sie finden: einen Kronzeugen, einige Verdächtige, einen Müllsack. Gehört der den Revolutionären Zellen?

Von Heike Kleffner Das Geld aus Wiesbaden kam wie besprochen. Rund 80 000 Mark überwies das Bundeskriminalamt kürzlich an das Kreuzberger Alternativzentrum "Mehringhof". Doch bei der Überweisung handelte es sich keineswegs um eine besondere Art staatlicher Zuwendung für die rund dreißig Projekte auf dem weitläufigen Gewerbehof. Vielmehr hatten im Dezember vergangenen Jahres rund 1000 Polizisten in dem "lebendigen Museum linker Geschichte" regelrecht randaliert. Auf der Suche nach einem vermeintlichen Sprengstoffdepot der "Revolutionären Zellen" hatten die Beamten Türen aufgebrochen, Wände aufgebohrt, Deckenverkleidungen abgerissen und Büroräume verwüstet. Nach zehnstündiger Suche zogen die Ermittler ab. Ergebnislos. Weder Waffen noch Sprengstoff hatten sie gefunden. Außer Spesen nichts gewesen, das Bundeskriminalamt musste die Schäden begleichen.

Seit der Durchsuchung kurz vor Weihnachten ist in dem Klinkerbau, der auch ein Theater, einen Fahrradladen und die in alternativen Berlin-Reiseführern als "Must see" empfohlene Kneipe "Ex" beherbergt, keine Ruhe mehr eingekehrt. Denn während der Razzia verhaftete die Polizei den 49-jährigen Hausmeister des Mehringhofs und einen 51-jährigen Mitarbeiter der im Gebäude ansässigen "Forschungsgesellschaft Flucht und Migration" (FFM). Zeitgleich wurde in Frankfurt am Main die 53jährige Lebensgefährtin des bereits seit Oktober letzten Jahres inhaftierten Rudolf S. verhaftet. Ihm wird die Mitgliedschaft bei den "Revolutionären Zellen", kurz RZ, vorgeworfen.

Hintergrund der Verhaftungswelle sind belastende Aussagen eines 41-jährigen Kampfsportlehrers aus Berlin. Tarek M., nach eigenen Angaben in den 80er und 90er Jahren selbst RZ-Mitglied, hat sich nach seiner Verhaftung im November 1999 der Bundesanwaltschaft als Kronzeuge zur Verfügung gestellt. In seinem Keller sollen zwei Dutzend Pakete des Sprengstoffs Gelamon 40 gefunden worden sein, der nach Ansicht der Ermittler 1987 aus einem stillgelegten Bergwerk in Nordrhein-Westfalen entwendet wurde. Dieser Sprengstoff soll bei mindestens drei unaufgeklärten Anschlägen, zu denen sich die Zellen bekannten, verwendet worden sein.

Vor wenigen Wochen besuchten die Fahnder des BKA erneut den Mehringhof. Diesmal allerdings in kleiner Besatzung, auf der Spur nach dem Sprengstoffdepot. Per Video- und Tonübertragung live mit dabei: Kronzeuge Tarek M. Der dirigierte die suchenden Beamten aus seiner Zelle in der Untersuchungshaft. Gemäß seinen Anweisungen durchsuchte das Dutzend Uniformierter einen Fahrstuhlschacht sowie zwei Lagerräume. Diesmal nicht ohne Ergebnis: Beschlagnahmt wurden ein alter Müllsack und Mauerproben.

Auf Grund der Aussagen von Tarek M. wurden mittlerweile zwei weitere Menschen verhaftet: am 18. April der 51-jährige Matthias B., Leiter des Auslandsamtes der Technischen Universität Berlin und Mitglied im Kuratorium der Universität. Mitte Mai schließlich nahm die kanadische Polizei im Beisein eines BKA-Beamten im kanadischen Yellowknife einen 46-jährigen Berliner fest. Lothar E. hatte in den 80er Jahren zeitweilig im Mehringhof als Hausmeister gearbeitet und war in den 90er Jahren nach Kanada ausgewandert. Die Bundesanwaltschaft hat seine Auslieferung beantragt. Ende dieses Monats soll ein kanadischer Richter entscheiden, ob der Beschuldigte bis zur endgültigen Klärung des Auslieferungsbegehrens gegen Kaution auf freien Fuß kommt. Hierfür gibt es schon einen Präzendenzfall: In Frankreich wurden zwei wegen mutmaßlicher RZ-Mitgliedschaft festgenommene Deutsche im März gegen 3000 Mark Kaution bis zum Ende des Auslieferungsverfahrens aus der Haft entlassen.

Nach Paragraf 129a verdächtigt die Bundesanwaltschaft die Verhafteten, Mitglieder einer "terroristischen Vereinigung" zu sein. Sie sollen unter anderem Sprengstoffanschläge auf die "Zentrale Sozialhilfestelle für Asylbewerber" in Berlin (1987) und auf die Siegessäule in Berlin-Tiergarten (1991) verübt haben. Einigen Beschuldigten werden auch Attentate gegen den damaligen Leiter der Berliner Ausländerbehörde und einen Vorsitzenden Richter des Asylsenats am Bundesverwaltungsgericht aus den Jahren 1986 und 1987 zugerechnet. Die sind allerdings verjährt.

Die "Revolutionären Zellen" wurden erstmals 1973, während des Militärputsches in Chile, durch einen Anschlag auf einen bundesdeutschen Ableger der US-Firma ITT bekannt. Gemeinsam mit ihrem feministischen Arm, der "Roten Zora", sollen sie mindestens 168 Anschläge verübt haben. Seit Mitte der 80er Jahre richteten sich die zumeist unblutigen Aktionen der "Feierabend-Terroristen" vor allem gegen die Asyl- und Flüchtlingspolitik.

Jahrelang tappten die Ermittler im Dunkeln. Ein halbes Dutzend Gerichtsverfahren gegen mutmaßliche RZ- und Rote Zora-Aktivisten endeten mit geringfügigen Haftstrafen. Andere Verdächtigte flohen ins Ausland, blieben dort oder kehrten erst nach Ablauf der Verjährungsfristen nach Deutschland zurück.

Die letzten publik gewordenen Anschläge der Politaktivisten liegen nun Jahre zurück. Noch 1993 bekannte eine Zelle, ein Trafohäuschen des Bundesgrenzschutzes in Frankfurt/Oder aus Protest gegen das neue Asylrecht in die Luft gejagt zu haben. Und 1995 verübte die Rote Zora einen Anschlag auf eine Bremer Werft, die Kriegsschiffe für die türkische Marine baute. Nach mehreren öffentlichen Erklärungen gehen auch die Ermittlungsbehörden seit einigen Jahren davon aus, dass sich die Zellen aufgelöst haben. Nun soll Kronzeuge Tarek helfen, so hofft die Bundesanwaltschaft, zumindest das Kapitel "Berliner Revolutionäre Zellen" schließen zu können. Bisher kam es nicht zu Anklagen. Mit dem angestrebten Prozess solle "ausschließlich Geschichte" aufgearbeitet werden, so Sprecherin Eva Schübel.

Das Vorgehen blieb nicht ohne Kritik. Nur "ein Teil der Aussagen von Tarek M. sind mir zugänglich gemacht worden" sagt Rechtsanwalt Wolfgang Kaleck. Er hat Beschwerde gegen den Haftbefehl gegen Mathias B. eingelegt, der nur auf Aussagendes Kronzeugen beruhe. Auf Grund "ihrer stabilen sozialen Verhältnisse" - feste Arbeitsplätze und Wohnungen - müssten die Beschuldigten den Prozess in Freiheit abwarten dürfen. Die Regierung habe zudem die Kronzeugenregelung "nicht ohne Grund" zum Jahresende auslaufen lassen.

Auch der Grünen-Bundestagsabgeordnete Christian Ströbele, selbst Anwalt, hält Aussagen von Kronzeugen für "schlechte Beweismittel". Die Erfahrung zeige, dass Kronzeugen durch immer neue Behauptungen versuchten, ihre Situation zu verbessern. Das Verfahren zeige auch, "wie absurd" der Paragraf 129a sei, meint der Grünen-Politiker. Mit der Regelung seien Ermittlungen wegen Straftaten möglich, die ansonsten verjährt seien. Der "Anti-Terror-Paragraf" sei nicht mehr zeitgemäß. So wenig wie die Idee, im gepflegt-alternativen Reiseführer-Tipp Mehringhof fänden sich statt Touristen Terroristen.

Von Heike Kleffner

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