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Presse - Kanada

Datum:
06.09.2001

Zeitung:
tageszeitung

Titel:
Verfahren am nördlichen Polarkreis

Verfahren am nördlichen Polarkreis

Heute wird im kanadischen Yellowknife über den Auslieferungsantrag der Bundesanwaltschaft gegen das angebliche Berliner RZ-Mitglied Lothar Ebke entschieden. Mit einer schnellen Auslieferung des Ex-Mehringhoflers ist allerdings nicht zu rechnen

Mit Spannung wird in Berlin heute Abend ein Urteil aus Kanada erwartet. Der Richter John Vertes wird in der nördlich des Polarkreises am Großen Sklavensee gelegenen Stadt Yellowknife seine Entscheidung zum Auslieferungsantrag der Bundesanwaltschaft (BAW) gegen das angebliche Mitglied der Revolutionären Zellen (RZ) Lothar Ebke bekannt geben. Seit einer Anhörung Ende Mai hat der Richter an dem Urteil gearbeitet und nun die am Prozess Beteiligten für den frühen Nachmittag (Ortszeit) in das örtliche Justizgebäude geladen.

Die BAW beschuldigt den ehemaligen Hausmeister des Mehringhofs, Lothar Ebke, seit Mitte der 80er-Jahre Mitglied der RZ in Berlin gewesen zu sein. Gegen fünf weitere Beschuldigte verhandelt seit März dieses Jahres das Berliner Kammergericht. Konkret wirft die BAW Lothar Ebke die Beteiligung an dem Sprengstoffanschlag auf die zentrale Sozialhilfestelle für Asylbewerber 1987 sowie an dem aus Anlass des Golfkriegs verübten Anschlag auf die Siegessäule im Januar 1991 vor. In ihrem Auslieferungsantrag erwähnt die BAW auch Ebkes angebliche Beteiligung an den Knieschussattentaten auf den Chef der Berliner Ausländerpolizei, Harald Hollenberg, 1986 sowie den Vorsitzenden Richter des Bundesverwaltungsgerichts, Günter Korbmacher, 1987, obwohl diese als Körperverletzungsdelikte bereits verjährt sind. Die Vorwürfe gegen Ebke beruhen ausschließlich auf den Aussagen des Kronzeugen und rechtskräftig als RZ-Mitglied verurteilten Tarek Mousli.

Der Mitte der 90er-Jahre nach Kanada ausgewanderte Ebke war am 18. Mai 2000 in Yellowknife verhaftet worden. Dort betreibt er zusammen mit einer ebenfalls aus Deutschland stammenden Geschäftspartnerin eine Frühstückspension. Nach einem Monat in Auslieferungshaft wurde er gegen Hinterlegung einer von Freunden vor Ort aufgebrachten Kaution in Höhe von etwa 150.000 Mark mit strengen Meldeauflagen wieder auf freien Fuß gesetzt.

Seit dem 22. Mai 2001 hatte im kanadischen Yellowknife eine zehntägige Anhörung zum Auslieferungsantrag der BAW stattgefunden. Während eine Auslieferung für die kanadischen Staatsanwälte Wes Smart und Debra Robinson eine reine Formsache ist, beantragte Ebkes Verteidiger Wes Wilson die Einstellung des Verfahrens. Nach kanadischem Recht könne ein Haftbefehl nur aufgrund einer Anklage erlassen werden, nicht aber wegen eines Ermittlungsverfahrens. Obwohl inzwischen gegen weitere Beschuldigte in Deutschland Anklage erhoben worden ist, liegt eine solche gegen Ebke weiterhin nicht vor. Außerdem gebe es in Kanada keinen Paragrafen, der die Mitgliedschaft in einer zu welchem Zweck auch immer gegründeten Vereinigung unter Strafe stellt.

Einen zusätzlichen Streitpunkt bildete der weitere Umgang mit den in Ebkes Haus beschlagnahmten Gegenständen. Während Ebke die sofortige Herausgabe verlangt, möchte die Staatsanwaltschaft alles zur Auswertung zum BKA nach Meckenheim bei Bonn schicken.

Im Laufe der Verhandlung stellte sich heraus, dass Anfang Mai 2000 der Oberbundesanwalt Michael Bruns sowie die beiden BKA-Beamten Klaus Schulzke und Trede eine Dienstreise an den nördlichen Polarkreis antraten, um die Verhaftung Ebkes vorzubereiten. Insbesondere der BKA-Beamte Trede soll dabei wiederholt seine Kompetenz überschritten haben. Zum Beispiel gab er bei der Durchsuchung Anweisungen an kanadische Polizisten, was alles zu beschlagnahmen sei. Nicht einmal vor der "Ästhetik des Widerstands" von Peter Weiss machte man Halt. Dies ergab eine Auswertung der Tonspur des in Kanada bei jeder Durchsuchung mitlaufenden Videos. Nach Meinung von Wes Wilson verletzte die kanadische Polizei sowohl bei der Verhaftung als auch bei der Durchsuchung etliche Bürgerrechte von Lothar Ebke.

Ein weiteres Verfahren gegen Ebke und seine Geschäftspartnerin stellte ein Geschworenengericht in Yellowknife bereits am 4. April 2001 ein. Ebenfalls aufgrund von Aussagen des Kronzeugen Tarek Mousli waren die beiden beschuldigt worden, die kanadischen Einwanderungsbestimmungen verletzt zu haben.

Selbst wenn der kanadische Richter John Vertes dem Auslieferungsantrag der BAW, eventuell mit deutlichen Einschränkungen, stattgibt, ist mit keiner schnellen Auslieferung zu rechnen. Ebke wird in diesem Fall bis vor das kanadische Verfassungsgericht ziehen.

Christoph Villinger

MAIL
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