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Presse

Datum:
04 2002

Zeitung:
Rote Hilfe Zeitung

Titel:
Grabengeschichten

Grabengeschichten

Der Baron von Münchhausen glänzte bekanntlich durch immer neuere und unglaublicher erscheinendere Anekdoten, die er seinen vertrauensseligen Zuhörerinnen zu erzählen vermochte. Die Märchen des Kronzeugen Tarek Mousli erscheinen dagegen als billiger Fortsetzungsroman. Gleichwohl findet auch er ein begeistertes Publikum. Seine Aussagen sind Grundlage für einen Mammutprozess, den die Bundesanwaltschaft gegen vier Männer und eine Frau wegen der Mitgliedschaft in den "Revolutionären Zellen" (RZ) und der Beteiligung an mehreren Aktionen der Gruppe führt. Seit März vergangenen Jahres und seit über 100 Verhandlungstagen beschäftigen sich die Beteiligten im Berliner Kammergericht Moabit mit den zahlreichen Widersprüchen und Ungereimtheiten in den Vernehmungsprotokollen des Zeugen Mousli.

Das aktuelle Mysterium rankt sich um ein Sprengstoffpaket, das Mousli im Frühjahr 1995 in einem Seegraben im Norden Berlins versenkt haben will. In diesem Paket sollten die restlichen Stangen des Sprengstoffes "Gelamon 40" enthalten gewesen sein, deren Hauptteil Kleinkriminelle aus seinem Keller gestohlen hatten und das anschließend in die Hände der Polizei geraten war. Mousli behauptet, dass ihm das Gelamon von Mitgliedern der RZ zur Aufbewahrung überlassen worden sei. Die Suche des BKA nach dem im Seegraben versteckten Paket blieb zunächst erfolglos. Erst als Mousli aus der Untersuchungshaft entlassen worden war, konnte im August 1999 der Sprengstoff in einen blauen Plastiksack an einer anderen als der zuvor beschriebenen Stelle gefunden werden. Zwei von der Polizei bestellte Chemiker bezweifelten jedoch, dass es sich bei dem explosiven Material um die Sprengstoffart Gelamon 40 handelt.

Nachdem zwei sogenannte Grabenläufer, die in den angegebenen Jahren die städtischen Gewässer auf Verunreinigungen und Schäden kontrollierten, ausgesagt hatten, dass ihnen nie ein entsprechender Plastiksack aufgefallen war, hakte die Verteidigung nach. Sie befragte nach der Sommerpause einen Bauingenieur sowie Mikro- und Hydrobiologinnen und selbst Beschäftigte der Klebebandfirma" Tesa" um festzustellen, ob das ominöse Paket tatsächlich über eine so lange Zeit in dem Seegraben versteckt gewesen war. Der Zustand des Klebebandes, mit dem das Sprengstoffpaket umwickelt worden war, sollte Aufschluss über die tatsächliche Verweildauer des Paketes geben. Dabei verdichteten sich die Hinweise, dass Mouslis Story einmal mehr nichts weiteres als eine vorm Krepieren stehende Räuberpistole ist. Die Bundesanwaltschaft tat das Bemühen der Verteidigung zunächst als Verschwörungstheorien ab und auch das Gericht zeigte sich an einer Aufklärung der Ungereimtheiten in der Seegraben- Geschichte wenig interessiert. Mittlerweile musste aber auch der Sachverständige des Bundeskriminalamtes (BKA) einräumen, dass das Klebeband kaum Veränderung aufweise und das Sprengstoffpaket "höchstens wenige Monate", aber "keinesfalls Jahre" im Wasser gelegen hätte. Ende Oktober ergab nun ein weiteres Gutachten des BKA, dass es unmöglich sei, den Sprengstoff in der von Mousli beschriebenen Weise zu versenken. Danach hätte das Paket mindestens zu einem Drittel über die Wasseroberflächen herausragen müssen, um untergehen zu können.

Mouslis Geschichten gelten mittlerweile wohl auch unter der BAW alles andere als wasserdicht. Bundesanwalt Nehm zog es zumindest vor, ein weiteres, ebenfalls auf Mouslis Aussagen basierendes Ermittlungsverfahren gegen Rudolf Sch. und Sabine E. einzustellen. Sie sollen nach Erzählungen des Kronzeugen an der Erschießung des früheren hessischen Wirtschaftsministers Karry im Jahre 1981 beteiligt gewesen sein. Die Tat wurde zwar der RZ zugeordnet. Nach Auskunft Nehms, reichten die Wahrnehmungen des Kronzeugen aber nicht aus, um einen Tatnachweis der beiden belegen zu können.

MAIL
http://www.freilassung.de/presse/berlin/rh042002.htm