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Presse

Datum:
15.05.2002

Zeitung:
Junge Welt

Titel:
Gezielte Einschüchterung

Gezielte Einschüchterung

Angeklagte im Berliner RZ-Verfahren nun als "Rädelsführer" unter Druck. Narrenfreiheit für Mousli

Mittlerweile 73 Prozeßtage schleppt sich das sogenannte Berliner RZ-Verfahren jetzt schon hin. Und noch immer reißt die Unterschlagung von Beweismaterial nicht ab. Nach über zwei Jahren Untersuchungshaft kam mit Harald G. - einer der beiden Angeklagten, die von ihrem Recht Gebrauch machten, vor Gericht nicht auszusagen - nun der letzte der insgesamt fünf Angeklagten aus der U-Haft frei. Doch auch er wurde vergangene Woche nur entlassen, so die offizielle Version, weil ein Familienmitglied schwer erkrankt ist. Zuvor hatte der Bundesgerichtshof Ende April die lange Haftdauer gerügt und so vermutlich das Kammergericht unter Druck gesetzt. Nach der Zahlung einer Kaution von 60000 Euro verfolgen nun alle Angeklagten den Prozeß außerhalb ihrer Zellen.

Erstmals wurde jetzt eine Zeugin der Verteidigung gehört, die zwischen 1987 und 1991 als Hausmeisterin des alternativen Politikzentrums MehringHof tätig war. Gegenstand der Vernehmung war ein angebliches Sprengstoffdepot, von dem der Kronzeuge Tarek Mousli angibt, es habe sich in einem Fahrstuhlschacht befunden. Auf Grund seiner Aussagen sind nicht nur die fünf angeklagt, Mitglieder der Revolutionären Zellen zu sein und an verschiedenen Anschlägen zwischen 1986 und 1991 beteiligt gewesen zu sein. Auch der MehringHof wurde auf der Suche nach dem Depot zweimal von der Polizei durchkämmt - mit einem Sachschaden von 70000 Euro. Statt aber den mehrfach des Meineides überführten Tarek Mousli von seinen Lügengeschichten abzubringen und das Verfahren einzustellen, hat das Gericht vergangene Woche nochmals nachgelegt: Auf "Anregung der Bundesanwaltschaft", so die Vorsitzende Richterin Gisela Hennig, beschloß der 1. Senat des Kammergerichts, daß die Angeklagten Sabine E. und Matthias B. nun gar "als Rädelsführer der Revolutionären Zellen in Betracht" kämen.

Bereits vor drei Wochen hatte das Kammergericht einen Antrag auf Befangenheit des 1. Senats zurückgewiesen, den die Verteidigung von Harald G. gestellt hatte. Der damit beauftragte 2. Strafsenat wollte im Vorenthalten von Informationen keine gezielte Benachteiligung der Verteidigung des Angeklagten Harald G. erkennen. Es habe sich vielmehr um einen "Irrtum" gehandelt, so die lapidare Begründung, als es versäumt worden war, der Verteidigung ein Fax zu senden. Die Verteidigung von Harald G. war als einzige nicht von den Geheimverhandlungen unterrichtet worden, die zwischen dem Gericht und der Verteidigung von Rudolf Sch. stattgefunden hatten. Diese führten zu dessen Einlassung vor Gericht sowie der Haftverschonung für ihn und seine Frau Sabine E.

Die Verteidigung von Harald G. belegte jetzt die erneute Unterschlagung von Beweismaterial. Bisher liegen insgesamt 988 Überwachungsbänder vor, die alle aus der Telefonüberwachung Tarek Mouslis stammen. Aus BKA-Unterlagen geht aber hervor, daß 1084 Beweisbänder existieren. Mithin werden 96 Bänder der Verteidigung und dem Gericht noch vorenthalten. Da nach wie vor ungeklärt ist, ob die Telefonüberwachung Mouslis zwischen Mai und September 1999 tatsächlich unterbrochen und erst im Spätherbst wieder aufgenommen wurde, geht die Verteidigung inzwischen von "gezielten Falschinformationen" der Bundesanwaltschaft aus. Auch ein BKA-Zeuge hatte unlängst eingeräumt, daß es durchaus denkbar sei, daß die Überwachung in diesen Monaten fortgeführt wurde.

Die ehemalige Hausmeisterin, Uta K. (43), sagte aus, daß jedes Projekt im MehringHof eigene Schlüssel für seine Räume hatte und zusätzlich einen sogenannten Halbgeneralschlüssel, mit dem man Zugang zu allen Toren, Höfen, Treppenaufgängen, Gemeinschaftsräumen und zum vorderen Fahrstuhl gehabt hätte. Insbesondere den Fahrstuhlschacht und den Elektroraum hatte Tarek Mousli aber als die Räume angegeben, in denen der Sprengstoff angeblich gelagert gewesen sei. Der Fahrstuhlschacht käme als Depot nicht in Betracht, so die Zeugin, weil er alle zwei Monate durch eine Wartungsfirma kontrolliert wurde. Auch der TÜV hätte Zugang zum Fahrstuhl und zum Schacht gehabt. Da es dort regelmäßig Überschwemmungen durch Grundwasser und bei stärkeren Gewittern gab, seien auch die Hausmeister gezwungen gewesen, im Schacht Wasser abzupumpen. Die Lagerung von Sprengstoff sei daher an diesem Ort völlig auszuschließen. Damit wurde Mouslis Version erneut als Lüge entlarvt. Schon in einem Seegraben, wo er angeblich Sprengstoff deponierte, fand die Polizei an der von ihm angegebenen Stelle nichts. Und der von ihm angegebene Lagerort im MehringHof war offensichtlich besser besucht als die Bundesgartenschau und naß wie die Aquarien des Zoologischen Gartens.

Das Gericht und die Bundesanwaltschaft ficht das nicht an, sie halten bis heute unbeirrbar an längst widerlegten Aussagen Mouslis fest. Die Zeugin bezeichnete ihn als "damals dem autonomen Spektrum zugehörig". Auf die Frage des Rechtsanwaltes Wolfgang Euler, was das "in concreto" bedeute, antwortete die Zeugin präzise und unter dem Gelächter der zahlreichen Prozeßbesucher: "Nichts." Mousli sei "ein hübscher Junge" gewesen, der "ständig Frauenbeziehungen hatte". Mehr könne sie jedoch zu ihm nicht sagen.

In einem verlesenen Beschluß folgte das Kammergericht der "Anregung" der Bundesanwaltschaft, die Angeklagten Sabine E. und Matthias B. gegebenenfalls auch mit dem Vorwurf der "Rädelsführerschaft in einer terroristischen Vereinigung" zu belegen. Damit kämen nach Paragraph 129a, so die Vorsitzende Richterin Gisela Hennig, Haftstrafen "nicht unter drei Jahren" in Betracht. Während sich die "Rädelsführerschaft" bei Sabine E. aus dem Abtauchen "in den Untergrund" ergäbe, sei beiden die Teilnahme an überregionalen RZ-Treffen, die Beteiligung an Diskussionen innerhalb der RZ und das Verfassen von Bekennerschreiben zuzuordnen. Während also Mousli für seine beständigen Falschaussagen und Lügen noch belohnt wird, geht es dem Gericht offensichtlich nach wie vor um die Einschüchterung der Angeklagten.

Volker Eick

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http://www.freilassung.de/presse/berlin/jw150502.htm