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Datum:
10.07.2002
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Zeitung:
Jungle World
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Titel:
Sieger nach Punkten
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Überraschungszeugin im Berliner RZ-Prozess
Sieger nach Punkten
Als am Morgen des 28. Oktober 1986 der damalige
Leiter der Berliner Ausländerbehörde, Harald Hollenberg,
vor seine Haustür trat, da trafen ihn zwei Schüsse in
den Unterschenkel. Knapp 16 Jahre später bekannte sich die
63jährige Rentnerin Barbara W. überraschend zu dieser
Tat. "Ich habe die zwei Schüsse auf die Beine von Herrn
Hollenberg abgegeben. Neben mir stand Rudolf Schindler, der die
Aktion mit seiner Pistole abgesichert hat", sagte sie am Donnerstag
der vergangenen Woche im Berliner RZ-Prozess. Damit widerlegte sie
die Beschuldigungen des Kronzeugen der Bundesanwaltschaft, Tarek
Mousli, der die 56jährige Sabine Eckle und ihren Lebensgefährten
Schindler (59) der Tat bezichtigt hatte.
Barbara W., die auf ein bewegtes Leben in vielen
Berliner Jugend- und Frauenprojekten zurückblicken kann, sagte,
dass sie sich mit der Entscheidung zur Aussage sehr schwer getan
habe. "Aber ich kann es nicht ertragen, dass jemand anderes
einer Tat beschuldigt wird, die ich getan und zu verantworten habe",
erläuterte sie die Beweggründe. Da die Schüsse inzwischen
verjährt sind, droht ihr deswegen keine Gefahr mehr von den
Ermittlungsbehörden.
Doch so viel Anerkennung der Auftritt von Barbara
W. verdient, so wenig bewirkt es auch. Denn jeder normale rechtsstaatliche
Prozess wäre spätestens nach dieser Aussage geplatzt.
Nicht so das Berliner RZ-Verfahren. Das Gericht verhandelte am nächsten
Tag weiter, als wäre nichts geschehen. Ebenso wie die Einlassungen
Rudolf Schindlers wird das Gericht wohl auch diese Aussage als "Schutzbehauptung"
abtun. Auch die drei Vertreter der Bundesanwaltschaft verschanzten
sich während der Aussage von Barbara W. nicht nur hinter ihrer
Panzerglasscheibe, sondern auch hinter einem breiten Grinsen.
Denn die mit Hilfe der Kronzeugenregelung aufgestellte
Falle für die Angeklagten ist längst zugeschnappt. Dabei
ist es völlig unerheblich, ob Mousli auch die Ermittlungsbehörden
anlügt oder die Vermutungen der Fahnder referiert, wer wohl
was bei den RZ gemacht hat und wer überhaupt Mitglied der Organisation
gewesen ist. Da die meisten Vorwürfe nur auf den Aussagen des
Kronzeugen beruhen, wird selbst bei einer gegenteiligen Zeugenaussage
immer nur Aussage gegen Aussage stehen. Der objektive Gegenbeweis
ist in den meisten Fällen unmöglich. Da können neun
Polizisten noch so oft beteuern, dass sie den Mehringhof, das alternative
Zentrum in Berlin-Kreuzberg, "gründlichst" nach
Sprengstoff abgesucht und nichts gefunden haben. Dann war der Sprengstoff
eben gut versteckt und der Kronzeuge hat doch Recht.
Das Dilemma der Angeklagten scheint unauflösbar.
Sagen sie nichts zu den Vorwürfen und machen von ihrem Recht
Gebrauch, die Aussage zu verweigern, dann werden sie wahrscheinlich
für Taten verurteilt, die sie nicht begangen haben. Und nicht
immer hat man so viel Glück wie Harald G., der zufällig
während eines ihm zur Last gelegten Anschlags im Knast saß.
Verteidigen sie sich, dann können sie zwar die Gegengeschichte
erzählen und den Kronzeugen widerlegen. Vielleicht kommt es
ja so, dass im Herbst dieses Gericht und diese Bundesanwälte
mit ihrem Kronzeugen blamiert das Feld räumen und das Verfahren
einstellen. Wer weiß. Aber die staatlichen Verfolgungsbehörden
werden als Sieger aus der ganzen Sache hervorgehen. Denn sie haben
eienen Einblick bekommen in die Strukturen des linksradikalen Widerstands
und "der Wahrheitsfindung" wurde Genüge getan,
und darum geht es ja schließlich.
Christoph Villinger
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