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Presse

Datum:
19.01.2002

Zeitung:
Frankfurter Allgemeine Zeitung

Titel:
Wir waren keine Schwatzbude

Wir waren keine Schwatzbude

Rudolf Schindler legte im RZ- Prozeß ein Geständnis ab / Untersuchungshaft aufgehoben

Nach neun Monaten des Schweigens sorgte Rudolf Schindler am Freitag durch ein spektakuläres Geständnis für Aufregung im Berliner Prozeß gegen fünf mutmaßliche Mitglieder der "Revolutionären Zellen" (RZ). Die Bundesanwaltschaft konnte ihre Tatvorwürfe bisher nur auf die umfangreichen Aussagen eines Kronzeugen stützen. Nun gab Schindler seine maßgebliche Beteiligung an zwei in Berlin verübten Schußwaffenattentaten zu. Der erste Anschlag richtete sich gegen den Leiter der Berliner Ausländerbehörde Harald Hollenberg, der zweite gegen den Vorsitzenden Bundesverwaltungsrichter Günter Korbmacher. Schindler entlastete mit dem Geständnis seine mitangeklagte Ehefrau Sabine E. und bezichtigte den Kronzeugen der Bundesanwaltschaft Tarek M. zahlreicher Falschaussagen. Nach Schindlers Darstellung hat "eine Frau", aber nicht Sabine E., im Oktober 1986 "mit einer Pistole, auf die ein Schalldämpfer aufgesetzt war", den Leiter der Berliner Ausländerbehörde in die Beine geschossen. Schindler hielt den Verletzten mit einer Pistole noch kurze Zeit in Schach, um die Flucht seiner Komplizin zu decken.

Der heutige Kronzeuge habe vor dem Anschlag den Tatort ausgekundschaftet und sei ganz entgegen seiner Schutzbehauptungen innerhalb der Berliner RZ-Organisation "ohne Einschränkung" für die Ausführung des Attentats eingetreten. Wenige Stunden nach der Tat hätten sich alle an ihrer Vorbereitung beteiligten Gruppenmitglieder in einer Wohnung getroffen. Auch der Kronzeuge Tarek M. war dabei zugegen "und hat uns, vor allem der Frau, gratuliert und sie beglückwünscht". Deswegen wisse er auch genau, wer die Attentäterin tatsächlich war. Die von dem Kronzeugen der Tat bezichtigte Sabine E. scheide schon deswegen aus, weil sie sich zu dieser Zeit noch gar nicht in Berlin aufgehalten habe. Diese für Sabine E. entlastende Aussage deckt sich in gewisser Weise mit den Beobachtungen eines Lkw-Fahrers, der die Täterin als "untersetzt und dick" beschrieben hatte. Die Angeklagte Sabine E. aber ist eine zierliche, fast zerbrechlich wirkende Frau.

Schindler gestand auch seine Beteiligung an dem Knieschußattentat auf Bundesrichter Korbmacher im September 1987. Er gab zu, selbst die Schüsse auf den Richter abgefeuert zu haben, und belastete auch in diesem Fall den Kronzeugen, der das bei der Tatausführung verwendete Motorrad gesteuert haben soll. Mit diesem "bekanntermaßen guten und sicheren Fahrer traute ich mir auch zu, die Beine von Herrn Korbmacher zu treffen", heißt es in Schindlers Erklärung. Der Kronzeuge hatte in seinen bisherigen Aussagen stets eine unmittelbare Beteiligung an diesem von ihm angeblich mißbilligten Anschlag bestritten. Während des Anschlags will er in einer konspirativen Wohnung lediglich den Polizeifunk abgehört haben.

Rudolf Schindler äußerte sich in seiner Erklärung ausführlich zu seinem Ausstieg aus der Terrorszene, den er 1988 gemeinsam mit seiner heutigen Frau Sabine E. vollzogen haben will. "Wir hatten seit längerer Zeit das Gefühl, daß die RZ politisch wie praktisch in der Luft hing. Die Verankerung in einem sozialrevolutionären Milieu war seit langem nicht mehr gegeben, weil dieses Milieu zusehends ausgetrocknet war." Man könne aber nicht als "Zuspitzung" einer Bewegung agieren, "die ihre Substanz verloren hat und seit langem nicht mehr virulent war". Nach dem Ausstieg gründeten die beiden mit einigen Berliner Freunden einen philosophischen Arbeitskreis und wandten sich den Schriften von Theodor Adorno, Max Horkheimer, Jean-Paul Sartre und Walter Benjamin zu. Anfang der neunziger Jahre kehrte das Paar nach Frankfurt zurück, um sich eine bürgerliche Existenz aufzubauen. Die ihnen von den Strafverfolgungsbehörden zur Last gelegten Anschläge aus den späten siebziger Jahren waren zu diesem Zeitpunkt verjährt.

Rudolf Schindler stand im vergangenen Jahr in Frankfurt unter der Anklage, als Mitglied der Revolutionären Zellen an dem bewaffneten Überfall auf die Wiener Opec-Konferenz im Jahr 1975 teilgenommen zu haben. Er wurde aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Seit April 2001 wird vor dem Berliner Kammergericht gegen ihn und seine Frau sowie drei weitere Männer verhandelt. Rudolf Schindler hat nun mit seinem Geständnis wesentliche Punkte der Anklage bestätigt. Sein Geständnis kann auch als Akt der Selbstbefreiung aus einem Schweigekartell verstanden werden, das die fünf Angeklagten während des bisherigen Prozeßverlaufs eisern aufrechterhalten hatten. Das Kammergericht würdigte das, indem es die Untersuchungshaft für Rudolf Schindler aufhob. Auch Sabine E., die sich der Erklärung ihres Mannes inhaltlich anschloß, wurde auf freien Fuß gesetzt. Das Gericht ging bei seiner Entscheidung davon aus, daß bei einem zu erwartenden Strafmaß von knapp vier Jahren ein erheblicher Strafanteil durch die seit Dezember 1999 andauernde Untersuchungshaft abgegolten ist.

JOCHEN STAADT

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