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Presse

Datum:
20.12.2002

Zeitung:
analyse & kritik 468

Titel:
Drei Jahre nach dem Millenium-Schlag

Drei Jahre nach dem Millenium-Schlag

Die Urteile im Berliner RZ-Prozess sind längst gesprochen

"Punkt sechs schlug die GSG 9 zu. Drei mutmaßliche Terroristen verhaftet." Die Bild-Schlagzeile geriet geradezu sachlich. In der B.Z. war hingegen zu lesen: "Planten Terroristen in Kreuzberg Millenium-Anschlag? GSG 9 stürmte Vereinigung ,Revolutionäre Zellen'." Der Einsatz am 19. Dezember 1999 im Berliner Mehringhof hatte seine Wirkung nicht verfehlt. Mit der gewohnten Stimmungsmache begann vor drei Jahren die juristische Abrechnung mit den "Revolutionären Zellen" (RZ), Jahre nachdem sich die RZ selbst aufgelöst hatten. Heute hat die Aufmerksamkeit an dem Verfahren merklich nachgelassen. Die anfängliche Stimmungsmache wirkt allerdings immer noch nach: Von einem fairen Verfahren kann keine Rede sein.

Mehr als 1.000 BeamtInnen des Bundeskriminalamts (BKA), der GSG 9, des Bundesgrenzschutzes (BGS), der Berliner Polizei, des Landeskriminalamtes Berlin, des Bundesinnenministeriums, des Bundesgerichtshofs und Staatsanwälte der Bundesanwaltschaft (BAW) waren am 19. Dezember vor drei Jahren aufgeboten worden. Bis in den Nachmittag hinein durchwühlten sie das Berliner Kultur- und Politikzentrum Mehringhof in Kreuzberg nach einem angeblichen Waffen- und Sprengstoffdepot der "Revolutionären Zellen". Sachschäden von rund 50.000 Euro waren das Ergebnis - mehr konnten die Staatsschergen nach intensiver Suche nicht vorweisen. Ebenso wenig wie bei der zweiten Durchsuchung per Videostandleitung im Mai 2000 wurde irgendeine Spur von dem angeblichen Depot gefunden.

Zeitgleich zu der Großrazzia in Kreuzberg nahm man in Berlin den Mehringhof-Hausmeister Axel Haug (51) und den Mitarbeiter der Forschungsstelle Flucht und Migration (FFM), Harald Glöde (53) in ihren Wohnungen fest. In Frankfurt am Main erfolgte am selben Tag die Festnahme der Galeristin Sabine Eckle (55). Vier Tage zuvor war bereits gegen Rudolf Schindler (59) Haftbefehl erlassen worden. Er saß zu jenem Zeitpunkt in der JVA Weiterstadt und wartete auf die Eröffnung des OPEC-Prozesses, in dem er später, im Februar 2001 frei gesprochen wurde.

"Erst vor einem Monat gelang Fahndern ein Riesen-Coup gegen die ,Revolutionären Zellen'", so war einen Tag nach den Verhaftungen und der Razzia dem Berliner Kurier zu entnehmen: "Der mutmaßliche Chef der Terrorgruppe, Tarek Mohamad Ali M. (40), ging ihnen in Schönow in Netz." Die JournalistInnen des Kuriers hatten gut recherchiert. Einen Monat zuvor hatte die BAW die dritte Festnahme von Tarek Mousli nämlich als einen großen Erfolg gefeiert. Im April 1999 war Mousli das erste Mal festgenommen worden, im Mai das zweite Mal. Bis Anfang Juli blieb er in Haft. Der Vorwurf: Unterstützung einer "terroristischen Vereinigung" und unerlaubter Sprengstoffbesitz. Wie im Verlauf des RZ-Prozesses bekannt wurde, hatte das BKA und die BAW von Anfang an Mousli das Angebot gemacht, sich als Kronzeuge zu verdingen. Ende Juli 1999 erhöhten sie den Druck. Zu jenem Zeitpunkt wurde Mousli von einer ehemaligen Lebensgefährtin schwer belastet. Sie berichtete den Ermittlern, Mousli habe ihr erzählt, dass er 1987 auf die Beine des Asylrichters Günther Korbmacher geschossen habe. Ebenso habe er von seiner Beteiligung an dem Sprengstoffanschlag auf die Zentrale Sozialhilfestelle für Asylbewerber (ZSA) im selben Jahr gesprochen. Die BAW hielt diese Aussage damals für so glaubwürdig, dass sie der Frau anbot, sie ins Zeugenschutzprogramm des BKA aufzunehmen. Doch alles kam anders: Statt dieser Frau wurde Mousli selbst, der "mutmaßliche Chef der Terrorgruppe" (Berliner Kurier), unter den Schutz der BKA-ZeugenschützerInnen gestellt.

"Terrorchef" als Kronzeuge

Mousli wurde nach seiner dritten Verhaftung zum Verräter: Er nannte Namen und sprach Beschuldigungen aus. Dafür bekam er eine Bewährungsstrafe, staatliche Alimentierung und eine neue Identität. (vgl. ak 446) Die Gegenleistung: Er lieferte "Knüller", so wie ihm von der BAW gehießen. Was folgte, war eine regelrechte Verhaftungswelle. Neben Sabine Eckle, Axel Haug, Harald Glöde und Rudolf Schindler wurde im April 2000 auch noch Matthias Borgmann wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft in den RZ und der Beteiligung an Aktionen Mitte der 80er und Anfang der 90er Jahre verhaftet. Gegen seinen in Kanada lebenden "besten Freund" Lothar E. strengte die BAW ein Auslieferungsverfahren an, das bis heute noch nicht abgeschlossen ist.

Bis zum Herbst 2001 dauerte es, bis die BAW Anklage beim Kammergericht Berlin erhob. Im Kern warf sie den fünf Beklagten vor, bis Anfang der 90er Jahre Mitglieder der RZ gewesen zu sein. Angeklagt wurden die RZ-Anschläge auf die ZSA 1987 und auf die Berliner Siegessäule 1991. Gegenstand des Verfahrens waren zudem die Knieschuss-Attentate auf den damaligen Chef der Berliner Ausländerbehörde, Harald Hollenberg, 1986 und auf den Asylrichter Korbmacher. Als "schwere Köperverletzungsdelikte" zwar bereits verjährt, wurden sie dennoch aufgeführt. Offiziell, weil dadurch die "Gefährlichkeit der terroristischen Vereinigung" gezeigt würde. Mit anderen Worten: Wo es Mitglieder der eigenen Klassen trifft, gibt es kein Vergessen, wo es einen Richterkollegen getroffen hat, gibt es kein Pardon!

Lügen im Kronzeugen-System

Insofern hätte es der medialen Vorverurteilung gar nicht bedurft. Die Feinderklärung gegenüber den Angeklagten stand von vorneherein fest. Heinrich Hannover, Strafverteidiger u.a. von Ulrike Meinhof und Astrid Proll, fasste seine Erfahrungen in zahlreichen politischen Strafprozessen so zusammen: "Politische Strafjustiz hat es mit Feinden zu tun, auf die das Gesetz mit aller Härte anzuwenden ist, ohne dass es auf die Schlüssigkeit der Beweisführung ankommt, aber auch mit Freunden, die man glimpflich davonkommen lässt oder freispricht, mag die Beweislage auch noch so dicht sein." Dass es in solchen Verfahren tatsächlich nicht um Wahrheitsfindung geht, sondern um die Bekämpfung von Feinden, zeigt der Prozess in Berlin anschaulich. Die "entspannte" Atmosphäre im Saal 500 des Kriminalgerichts Moabit kann darüber nicht hinwegtäuschen.

Der 1. Strafsenat des Kammergerichts Berlin unter der Vorsitzenden Richterin Gisela Hennig hat allem Anschein nach die Urteile schon gefällt. Der Senat ist offensichtlich nicht gewillt, den zahlreichen Widersprüchen, den Ungereimtheiten und den Falschbehauptungen in den Aussagen des Kronzeugen Rechnung zu tragen. So behauptet Mousli, Harald Glöde sei am Anschlag auf die ZSA beteiligt gewesen. Falsch, Harald Glöde befand sich zu diesem Zeitpunkt in Polizeigewahrsam. Auch das angebliche Sprengstoffdepot im Mehringhof gab es nicht, so das Kriminaltechnische Institut des BKA, das "keine Spuren von organischen Explosivstoffen oder deren Komponenten" fand.

Mousli behauptet, auf Harald Hollenberg habe Rudolf Schindler geschossen. Falsch, denn vor wenigen Wochen gestand Barbara W., sie habe geschossen. (vgl. ak 464) Mousli behauptet, er habe beim Anschlag auf Günther Korbmacher den Polizeifunk abgehört. Rudolf Schindler dagegen hat ausgesagt, dass Mousli das Motorrad gefahren habe, von dem aus auf Korbmacher geschossen wurde. (vgl. ak 459)

Mousli behauptet, den nach einem Einbruch in seinen Keller 1995 verbliebenen Sprengstoff sofort in einem Seegraben im Norden Berlins versenkt zu haben, wo er dann nach drei Versuchen 1999 "gefunden" wurde - an einer Stelle zudem, die entgegen der Fließrichtung liegt, wo es Mousli ursprünglich entsorgt haben will. Falsch, so ein vorläufiges Gutachten des renommierten Fraunhofer-Instituts: Das Klebeband, mit dem das Sprengstoffpaket umwickelt war, lasse zwar erkennen, dass es im Wasser gelegen habe, aber "höchstens wenige Monate, keinesfalls Jahre".

Laut Anklage soll es sich dabei um Sprengstoff der Marke "Gelamon 40" gehandelt haben. Solcher Sprengstoff wurde 1987 aus einem Steinbruch entwendet und fand danach bei diversen RZ-Anschlägen Verwendung. Hergestellt war der Sprengstoff im VEB Schönebeck/DDR. Doch bei einer von zwei Proben des im Seegraben geborgenen Materials handelt es sich nach Angaben eines Chemikers des Landeskriminalamts Berlins lediglich um eine Abart von "Gelamon 40". Der wesentliche Inhaltsstoff Ammoniumnitrat jedenfalls fehlt.

Pardon wird nicht gegeben

Hier, wie in anderen Fällen auch, sieht sich das Gericht nicht veranlasst, den Dingen auf den Grund zu gehen. Mit Nonchalance schmettert das Gericht entsprechende Beweisanträge der Verteidigung ab. Die Sachaufklärungspflicht gebiete es nicht, heißt es dann lapidar. Oder es wird so getan, als gäbe es gar keine Widersprüche. Nach Auskunft des ehemaligen Forschungsleiters des VEB Schönebeck hat es der Produktionsablauf im Werk nicht zugelassen, den Sprengstoff ohne Ammoniumnitrat herzustellen. Für das Gericht ist dies unerheblich. Ihm reichen alleine die Rechnungsunterlagen aus, in denen damals die Lieferung der entsprechende Charge vom VEB Schönebeck über den Importeur Westspreng zum Steinbruch der Firma Klöckner Durilit dokumentiert ist. Alleine dies sei entscheidend für die Zuordnung des Sprengstoffs, so der Senat. Dass die Probe nicht passt, spielt da keine Rolle mehr.

Für sich genommen, wirkt die nicht passende Probe vielleicht wenig spektakulär. Doch dies ist nicht der einzige Punkt, an dem die Geschichte des Sprengstoffs, der angeblich von zwei Kreuzberger Kleinkriminellen in Mouslis Keller entwendet wurde, mehr Fragen als Antworten aufwirft. Warum wird einer der angeblichen jugendlichen Sprengstoffdiebe lediglich zu ein paar Freizeitstunden verurteilt und sein Mittäter damals gar nicht ermittelt? Warum ging 1995 niemand im BKA der Sprengstoffsofortmeldung der Berliner Polizei nach, obwohl darin von "Gelamon 40" die Rede war, und warum wird die Spur 1997 in einem ganz anderen Zusammenhang wieder aufgenommen? Warum behauptet Mousli, er habe das Sprengstoffpaket im Seegraben versinken sehen, obwohl dies nach Auskunft zweier Sachverständiger durch die hohe Auftriebskraft des Pakets gar nicht möglich gewesen ist? Vielleicht bringt die Klage von Glödes Verteidigung auf Einsichtnahme in eine ungeschwärzte Version der mindestens sechs Verhörprotokolle des Bundesamtes für Verfassungsschutz mit Tarek Mousli Antwort auf diese Fragen.

Vollstrecker in schwarzen Roben

Für das Kammergericht ist dies alles ohne Belang. Die Sache sieht für den Senat ganz einfach aus: Zwei der Angeklagten, Sabine Eckle und Rudolf Schindler, haben sich als RZ-Militante geoutet; Axel Haug hat sich als RZ-Unterstützer zu erkennen gegeben. Obwohl alle drei im Kern die Anklagevorwürfe bestreiten und den Aussagen des Kronzeugen in Kernbereichen widersprechen, betont der Senat, wesentliche Teile der Anklage und die Glaubwürdigkeit des Kronzeuge seien dadurch sogar "erhärtet worden". Würden die eigenen rechtsstaatlichen Grundsätze ernst genommen, wäre eine Verurteilung nach den ursprünglichen Anklagepunkten, die im wesentlichen auf den Aussagen Mouslis beruhen, unmöglich. Doch dies hieße in letzter Konsequenz auch, dass das Gericht die Anklage gegen Matthais Borgmann und Harald Glöde fallen lassen müsste. Beide machen weiterhin von ihrem Recht Gebrauch, zu den Vorwürfen zu schweigen. Mehr als die Anschuldigungen des Kronzeugen hat das Gericht gegen beide nicht zur Hand. Aber in solchen Verfahren kommt es auf die Schlüssigkeit der Beweisführung ja nicht an: Das Feindbild steht, Zweifel sind nicht erlaubt - was zählt ist die Verurteilung. Wer anderes glaubt, der würde wahrscheinlich auch einen Milleniumsanschlag von Kreuzberger Terroristen für möglich halten.

mb.

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