Datum:
18.04.2003
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Zeitung:
ak - analyse + kritik 472
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Titel:
Berliner RZ-Prozess: Aussitzen statt Aussetzen
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Berliner RZ-Prozess: Aussitzen statt Aussetzen
Es war der 120. Prozesstag. Auf dem Flur vor dem Saal 500 des Kriminalgerichts
Moabit herrscht vor Verhandlungsbeginn eine ausgelassenere Stimmung
als sonst. Die Angeklagten, inzwischen alle - zum Teil auf Kaution
- aus der U-Haft entlassen, wirken ein wenig aufgekratzt. Es lag
etwas in der Luft, an diesem 20. März, fast zwei Jahre nach
Prozessbeginn.
Schon die morgendliche Zeitungslektüre ließ erahnen,
dass dieser Prozesstag anders verlaufen würde als die Verhandlungstage
der letzten Zeit. Seit Monaten schleppt sich das Verfahren zäh
dahin. Von den zwei Terminen in der Woche fällt in der Regel
ein Prozesstag aus. Und wenn ein Verhandlungstag stattfindet, dann
wird er regelmäßig nach weniger als einer Stunde beendet.
"RZ-Prozess steht vor dem Aus", war an diesem Morgen im Berliner
Tagesspiegel zu lesen. Die Berliner Zeitung sprach
sogar von einem "Teilerfolg für ,Revolutionäre Zellen",
was natürlich blanker Unsinn ist, hat sich die RZ Anfang der
90er Jahre selbst aufgelöst. Doch auch über scheinbar
späte Erfolge kann man sich ja durchaus freuen.
Seit Mai 2001 findet vor dem 1. Strafsenat des Kammergerichts Berlin
der Prozess gegen Sabine E., Matthias B., Harald G., Axel H. und
Rudolf Sch. statt. Ihnen wird Mitgliedschaft in den "Revolutionären
Zellen" (RZ) und die Beteiligung an zahlreichen Anschlägen
im Rahmen der RZ-Flüchtlingskampagne in der zweiten Hälfte
der 80er Jahre in Berlin vorgeworfen. Die Anklage beruht im Kern
auf den Aussagen des Kronzeugen Tarek Mousli, der in einem separaten
Verfahren im Dezember 2000 wegen Mitgliedschaft in den RZ zu zwei
Jahren auf Bewährung verurteilt wurde.
Später Erfolg für die RZ
Die Presseberichte und die aufgeräumte Stimmung vor dem Sitzungssaal
hingen indirekt mit diesem Kronzeugen zusammen. Der hatte nach seiner
Festnahme nicht nur umfangreiche Aussagen gegenüber dem Bundeskriminalamt
(BKA) und der Bundesanwaltschaft (BAW) gemacht, sondern auch mit
Beamten des Verfassungsschutzes (VS) zahlreiche Gespräche geführt.
Nach einem entsprechenden Antrag der Verteidigung übergab der
VS im Februar 2002 197 Seiten Protokolle der Gespräche mit
Mousli - den größten Teil geschwärzt und deshalb
unbrauchbar. Im November legte die Verteidigung von Harald G. Klage
vor dem Verwaltungsgericht (VG) Berlin auf Herausgabe der ungeschwärzten
Protokolle ein. In einer so genannten Sperrerklärung hatte
das Bundesinnenministerium die Schwärzungen damit begründet,
ein Bekanntwerden dieser Passagen würde "dem Wohl des Bundes
Nachteile" bringen. Die Verwaltungsrichter halten diese Sperrerklärung
allerdings für rechtswidrig, denn sie sei "nicht frei von Mängeln".
In einem Beschluss vom 17. März bescheinigten sie der Klage
gegen die Sperrerklärung Aussicht auf Erfolg - um dem Anspruch
von Harald G. "auf ein rechtsstaatliches, faires Strafverfahren"
gerecht zu werden, wie es dort so schön heißt. Jedoch
lehnte das Verwaltungsgericht es ab, das Bundesinnenministerium
in einem Eilverfahren zur Herausgabe der ungeschwärzten Vernehmungsprotokolle
zu verpflichten. Vielmehr sei für eine Entscheidung in dieser
Angelegenheit das Hauptsacheverfahren abzuwarten. Allerdings habe
Harald G. - so das VG - "Anspruch auf Aussetzung der Hauptverhandlung
vor dem Strafgericht".
Der Haken an der Sache: Ein Strafprozess darf maximal für
30 Tage unterbrochen werden. Mit einer endgültigen Entscheidung
in der Verwaltungsgerichtssache ist allerdings erst in Jahren zu
rechnen. Würde der Prozess ausgesetzt, müsste der Fall
neu aufgerollt werden. Stimmt der Senat einer Aussetzung dagegen
nicht zu, läuft er Gefahr, dass sein Urteil in der Revision
vor dem Bundesgerichtshof (BGH) kassiert wird. Dieses Kuckucksei
der KollegInnen vom VG Berlin vermieste unübersehbar am 20.
März die Stimmung des Kammergerichts. Wie damit umgehen?
Böses Kuckucksei fürs Kammergericht
Den entscheidenden Tipp gab wie immer in diesem Verfahren die BAW.
Bundesanwalt Bruns machte in der Hauptverhandlung am 28. März
klar, dass er den Beschluss des Verwaltungsgerichts für "evident
rechtsfehlerhaft" halte. Den Richtern am Verwaltungsgericht warf
er vor, sie bewegten sich "vollkommen außerhalb der Verfahrensordnung".
Zudem hätten sie "keine Ahnung von der Strafprozessordnung".
Ob über eine Aussetzung und die zwischenzeitlich von der Verteidigung
gestellten Aussetzungsanträge überhaupt entschieden werden
müsse, bezweifelte Bruns zynisch. Die Beweisaufnahme werde
"auf unabsehbare Zeit anhalten", drohte Bruns unverhohlen, insofern
könne mit einer Entscheidung des Verwaltungsgerichts im Hauptverfahren
im weiteren Prozessverlauf gerechnet werden.
Zwar hat das Kammergericht offiziell zu dieser Sache bislang nicht
Stellung genommen, aber unter der Hand schon entschieden und entsprechende
Fakten geschaffen: Der Prozess ist mittlerweile bis Januar 2004
terminiert. Aussitzen statt aussetzen!
Der VG-Beschluss brachte die Richter des Kammergerichts aber nicht
nur in Sachen Aussetzung in die Bredouille. Auch die Ausführungen
der Verwaltungsrichter in puncto Aussagegenese des Kronzeugen haben
es in sich. Stellen sie doch klipp und klar fest, "dass eine bestimmte
Vernehmungsweise quasi Geschäftsgrundlage" bei den Gesprächen
zwischen dem VS und Mousli gewesen sei, "die naturgemäß
zu einer Veränderung der Aussageinhalte geführt haben
muss".
Dem Erinnerungsvermögen Mouslis sei, so die VG-Richter, mit
"unterstützender Hilfe" auf die Sprünge geholfen worden,
als ihm unter anderem Namen und Fotos "seitens der Vernehmenden
vorgenannt" wurden. Es könne deshalb "nicht ernstlich bezweifelt
werden, dass der dem Zeugen für seine Aussagen zur Verfügung
stehende Kenntnisstand einer bestimmten ,Entwicklung' unterworfen
war". Wie hatte selbst Mousli gegenüber den VS-Vernehmern zugegeben:
"Vertrauen Sie nicht auf mein Gedächtnis. Das ist katastrophal!
Aber wenn ich Bilder sehe oder wenn Sie Namen sagen, dann kommt
es schon wieder."
mb., Berlin
Ausführliche und aktuelle Informationen zum Prozess unter
www.freilassung.de
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