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Gerd Albartus ist tot.
Dezember 1991
Schlechte Nachrichten in einem Stück Zeitung
Heute, da mir die Freunde sterben,
sterben nur ihre Namen.
Wie kann man hoffen, aus dieser gewalttätigen Grube,
mehr als die Buchstaben zu erfassen, Schimmer von zärtlicher
Schwärze, Pfeile bis in die vertrauten Erinnerungen?
Nur wer außerhalb der Gefängnisse lebt, kann die Leichen
ehren,
sich reinwaschen vom Schmerz über seine Toten mit Umarmungen,
mit Nagel und Träne die Grabsteine kratzen.
Die Gefangenen nicht: Wir pfeifen nur, damit das Echo die Nachricht
beschwichtigt.
Roque Dalton [1]
Gerd Albartus ist tot.
Er
wurde bereits im Dezember 1987 erschossen, nachdem er von einer
Gruppierung, die sich dem palästinensischen Widerstand zurechnet
und für die er gearbeitet hat, vor ein Tribunal gestellt und
zum Tode verurteilt worden war. Wir haben die Nachricht erst etliche
Zeit später bekommen. Bis dahin waren wir davon ausgegangen,
daß Gerd von einer Reise zu der Gruppe nicht zurückgekehrt
war, weil er von den Hausdurchsuchungen, Fahndungen und Verhaftungen
im Dezember 1987 [2]
wußte und befürchtete, bei einer Einreise in die BRD
ebenfalls festgenommen zu werden. Versuche, über seinen Verbleib
etwas in Erfahrung zu bringen, blieben entweder unbeantwortet oder
bestätigten uns in dieser Vermutung. Wie die meisten seiner
Freundinnen und Freunde, die sich um ihn sorgten, waren wir uns
mit zunehmender Dauer seines Wegbleibens gewiß, daß
er die Gelegenheit zum Anlaß genommen hatte, um sich der seit
seiner Knastzeit verschärften polizeilichen Überwachung
und Schikane zu entziehen. Er war, davon waren wir überzeugt,
abgetaucht, zwar nicht in unserem Rahmen, aber an einen gesicherten
Ort und in einem politischen Zusammenhang, dem er nahestand.
Daß es nochmals gedauert hat, bis wir uns endlich durchgerungen
haben, unser Wissen um seinen Tod öffentlich zu machen, liegt
an uns. Die Suche nach einer Antwort, die der Ungeheuerlichkeit
des Anlasses auch nur einigermaßen angemessen gewesen wäre,
in der das Bedürfnis nach Rache seinen Platz gehabt hätte,
ohne daß es den Falschen trifft, ist ins Leere gegangen.
Bemühungen, über die bloße Nachricht in einem
Stück Zeitung hinaus eine Form zu finden, die unserem Entsetzen
und unserer Trauer gerecht wird, sind fehlgeschlagen. Der Weg der
Veröffentlichung ist zugleich die Kapitulation vor weitergehenden
Ansprüchen.
Natürlich gab und gibt es auch Kontroversen, wem mit einer
Veröffentlichung gedient ist. Der Vorwurf wurde laut, daß
wir lediglich dem Zeitgeist Tribut zollen und ausgerechnet in einem
Moment reinen Tisch machen, wo die Abrechnung mit linker Geschichte
fast schon eine Frage des guten Geschmacks ist. Der Text würde
uns auf die eigenen Füße fallen, weil damit doch bloß
die sattsam bekannten Klischees über die Spirale der Gewalt
innerhalb bewaffnet kämpfender Gruppen zusätzlich Nahrung
erhielten. Überdies wurde vor einer Schwächung der Palästina- Solidarität
gewarnt. Eine derartige Nachricht, so differenziert sie auch vorgetragen
würde, müsse zwangsläufig auf den gesamten palästinensischen
Widerstand zurückfallen, weil kaum jemand imstande ist, das
Geflecht der palästinensischen Organisationen und Fraktionen
zu durchschauen, und wir selbst auch keine detaillierten Informationen
über die konkreten Zusammenhänge beisteuern könnten.
Dies aber sei vor dem Hintergrund des Golfkriegs und einer politischen
Debatte, die sich auf die blödsinnige Alternative: Israel ja
oder nein zugespitzt habe, ein Signal in die verkehrte Richtung.
Und schließlich müsse uns bewußt sein, daß
eine derartige Veröffentlichung eine Welle von Reaktionen auslösen
würde, deren ganzes Ausmaß wir weder überschauen
noch verantworten könnten.
Wir haben uns über all diese Einwände, auch wenn sie
uns lange haben zögern lassen, letztendlich hinweggesetzt.
Die berechtigte Sorge, der falschen Seite in die Hände zu arbeiten,
darf nicht zum bequemen Freibrief werden, jeglichen Dreck unter
den Teppich zu kehren. Sie war schon zu oft bloßer Vorwand,
um das eigene Schweigen zu legitimieren. Vielleicht müssen
wir umdenken, müssen lernen, daß Schwindel und Selbsttäuschung
weit mehr zu unserem Scheitern beitragen, als die offen geführte
Kontroverse um unsere internen Widersprüche, selbst auf die
Gefahr hin, daß der Gegner sich dies zunutze macht. Wer von
Befreiung träumt, von den Schattenseiten des Befreiungskampfes
aber nichts wissen will, hängt naiven Revolutionsvorstellungen
nach, die dessen Wirklichkeit nicht standhalten. Wir wollen uns
nicht an Legenden und Bilder klammern, die weniger unseren Erfahrungen
als vielmehr naiven Projektionen oder aber handfesten Verdrängungen
geschuldet sind. Wem nützen wir damit, wenn wir unter dem Banner
des Internationalismus eine falsche Einheit vorgaukeln, während
hinter den Kulissen die Gegensätze aufeinanderprallen. Nur
wenn wir uns illusionslos mit den tatsächlichen politischen
und ideologischen Widersprüchen auseinandersetzen, werden wir
mit ihnen umzugehen wissen, sobald wir damit konfrontiert werden.
Es geht uns auch nicht um Enthüllung oder Anprangerung, selbst
wenn wir nicht verhindern können, daß von dem Text in
einer Weise Gebrauch gemacht werden wird, der uns jetzt schon anwidert.
Die Befürchtung, wir könnten der falschen Seite Munition
liefern, teilen wir nicht. Diese Seite war gerade in der jüngsten
Zeit nicht schlecht gewappnet, und wo ihr die Munition ausging,
konnte sie sich in den Archiven der Stasi [3]
nach Belieben bedienen. Wer uns eins auswischen will, braucht nicht
auf unsere Vorgabe zu warten, sondern entscheidet selbst, wann die
Gelegenheit günstig ist - egal, ob es stimmt. Und falls wir
den Bullen tatsächlich neue Erkenntnisse offenbaren, so hat
dies allenfalls zur Folge, daß ein Zielfahndungskommando aufgelöst
werden kann.
Der Sinn der Veröffentlichung ist denkbar einfach: Wir wollen
verhindern, daß ein Genosse, der uns wichtig ist, spurlos
verschwindet. Wir wollen uns dem Eindruck widersetzen, als könne
einer der Unseren ohne Widerspruch umgebracht werden, selbst wenn
uns die Mittel fehlen, dies zu vergelten. Wir wollen jeglichen Funken
an Zweifel auslöschen, daß es für diese Entscheidung
irgendeine Rechtfertigung gibt, die mit unseren eigenen Maßstäben
in Einklang steht. Wir wollen endlich, endlich dem grausig- grotesken
Zustand ein Ende bereiten, daß seine Angehörigen, Freunde
und Freundinnen weiterhin in der falschen Gewißheit leben,
er sei, wenn auch weg und unauffindbar, in Sicherheit.
Für uns steht Gerds persönliche Integrität außer
Frage. Über die Vorhaltungen, die die Gruppe ihm gemacht hat,
haben wir nur vage Informationen, aber auch ein Mehr an Details
könnte uns nicht in der Gewißheit erschüttern, daß
es kein einziges Argument gibt, das seine Erschießung erklärt.
Was immer die Motive derer gewesen sein mögen, die ihn umgebracht
haben - sie liegen jenseits seiner Person.
Im Gegenteil - es gehört zu den makaberen Parodien dieser
Geschichte, daß Gerd, in dessen politischer Biographie die
praktische Unterstützung des palästinensischen Widerstandes
durchgängig eine zentrale Rolle eingenommen hat, ausgerechnet
einer jener Gruppen zum Opfer gefallen ist, die sich als Teil dieses
Widerstandes begreift. Unser Wissen über die Gruppe wie über
Gerds Verhältnis zu ihr ist begrenzt. Die Verbindungen gehen
zurück auf einen Abschnitt unserer Geschichte, unter den wir
aus politischen Gründen schon vor etlichen Jahren einen Schlußstrich
gezogen haben. Ob und inwieweit sich die Zusammenhänge in der
Zwischenzeit auch dort geändert haben, überschauen wir
nicht.
Gemeint
ist die Zeit nach der gescheiterten Gefangenenbefreiung Ende Juni
1976. Damals hatte ein vierköpfiges Kommando, dem neben zwei
Palästinensern auch zwei Mitglieder der RZ, Brigitte Kuhlmann
und Wilfried "Bonni" Böse angehörten, einen
Airbus der Air France in seine Gewalt gebracht und die Freilassung
von mehr als 50 GenossInnen gefordert, die zum überwiegenden
Teil in israelischen und westdeutschen Knästen gefangen gehalten
wurden. An Bord der Maschine, die in Tel Aviv gestartet und auf
dem Flug nach Paris in Athen zwischengelandet war, bevor sie von
dort aus nach Entebbe umdirigiert wurde, befanden sich über
250 Passagiere, unter ihnen etwa 100 israelische Staatsbürger
oder Juden anderer Nationalität. Nachdem die nicht- jüdischen
Passagiere innerhalb weniger Tage freigelassen worden waren, verlängerte
das Kommando sein Ultimatum, um weitere Verhandlungen zu ermöglichen.
Diese Zeitspanne nutzte die israelische Regierung, um eine militärische
Lösung vorzubereiten. In der Nacht zum 4. Juli 1976 überfiel
eine Spezialeinheit den Flughafen von Entebbe und bereitete der
Geiselnahme ein blutiges Ende. Das Kommando kam dabei ums Leben,
von den Gefangenen, deren Freilassung gefordert worden war, kein
einziger frei.
Es hat Jahre gedauert, ehe wir diesen Rückschlag verkraftet
hatten. Unter dem Eindruck des Verlustes der Freunde waren wir zunächst
unfähig, die politische Dimension der Katastrophe zu ermessen,
die Entebbe für uns bedeutete. Anstatt wahrzunehmen, was uns
vorgehalten wurde, nämlich daß wir als Organisation an
einer Operation teilhatten, in deren Verlauf israelische Staatsbürger
und jüdische Passagiere anderer Nationalität ausgesondert
und als Geisel genommen worden waren, beschäftigten wir uns
vor allem mit dem militärischen Aspekt der Aktion und ihrer
gewaltsamen Beendigung. Das Kalkül des Regimes sollte nicht
aufgehen. Um zumindest die Option der Befreiung anderer GenossInnen
offenzuhalten, mußten wir handeln und durften uns nicht von
den alarmierenden Nachrichten über den Ablauf der Geiselnahme
und die Rolle unserer GenossInnen darin blockieren lassen. Die Meldung,
es sei ausgesondert worden, hielten wir ebenso für ein Produkt
psychologischer Kriegsführung wie die Behauptung, daß
sich die deutschen Mitglieder des Kommandos dabei besonders hervorgetan
haben. Wir kannten Brigitte und Bonni als Antifaschisten und wußten
um ihre Motive, sich an der Aktion zu beteiligen. Unser Begriff
von Solidarität verbot Kritik an den GenossInnen; eine Diskussion
über Fehler wehrten wir ab, als ob Solidarität nicht prinzipiell
das Richtige umfaßt, daß einzelne GenossInnen Fehler
machen.
Ähnlich vordergründig blieb die Diskussion, wo es um
die Suche nach Gründen für das Scheitern der Aktion ging.
Zu mehr als Manöverkritik waren wir nicht imstande. Wir beklagten,
daß die ursprünglichen Planungen und Absprachen nicht
eingehalten worden waren und daß der faktische Ablauf auf
den Kopf gestellt hätte, was eigentlich vorgesehen war. Wir
kritisierten, daß die Aktion, die aus unserer Sicht einzig
und allein einen pragmatischen Zweck verfolgte, nämlich die
sofortige Freilassung, im Verlauf ihrer Dauer mehr und mehr den
Charakter einer Propaganda- Aktion angenommen hatte, die sich vor
allem Idi Amin [4]
zu nutze zu machen verstanden hätte. Wir erhoben den Vorwurf,
daß dem Kommando im Zuge der Operation die Befehlsgewalt entzogen
worden war und die GenossInnen nach der Landung in Entebbe bloß
die Weisungen zu befolgen hatten, die an anderer Stelle und fernab
des Geschehens ausgegeben wurden. Wir fanden uns schließlich
ab mit den Verweis auf die besondere Dynamik militärischer
Operationen, auch wenn unser Vertrauen in eine direkte internationale
Zusammenarbeit als besondere Qualität eines praktischen Antiimperialismus
an seine Grenzen gestoßen war.
Daß die Grenzen dieser Zusammenarbeit nicht technischer oder
taktischer, sondern politischer Art waren, sahen wir nicht, obwohl
Stoßrichtung und Verlauf der Aktion eine deutliche Sprache
sprachen. Das Kommando hatte Geiseln genommen, deren einzige Gemeinsamkeit
darin bestand, daß sie Juden waren, soziale Merkmale wie Herkunft
oder Funktion, die Frage der gesellschaftlichen Stellung oder der
persönlichen Verantwortung, also Kriterien, die wir eigentlich
unserer Praxis zugrunde legten, spielten in diesem Fall keine Rolle.
Die Selektion erfolgte entlang völkischer Linien. Daß
die einzige Geisel, die die Flugzeugentführung nicht überlebte,
ausgerechnet eine ehemalige KZ- Inhaftierte war, ging zwar nicht
unmittelbar zu Lasten des Kommandos, lag aber nichtdestoweniger
in der Logik der Aktion. Was gut ein Jahr später, im Fall Mogadischu
[5], selbst unter
Linksradikalen eine Welle der Kritik auslösen sollte, nämlich
daß eine willkürliche Gruppe deutscher UrlauberInnen
zur Verhandlungsmasse wurde, darüber setzten wir uns im Fall
Entebbe hinweg, obwohl der Verlauf der Aktion die einfachsten Grundsätze
revolutionärer Politik und Moral, die wir sonst für uns
in Anspruch nahmen, auf den Kopf gestellt hatte. Die entsetzliche
Drohung, daß jeder, der israelisches Grundgebiet betritt,
wissen muß, welches Risiko er auf sich nimmt und daß
er dieses selbst zu verantworten habe, war blutiger Ernst geworden.
Entebbe war kein Einzelfall, wohl aber der Kulminationspunkt einer
Entwicklung, in deren Verlauf wir uns mehr und mehr von dem entfernt
hatten, wofür wir mal angetreten waren. Vergessen waren die
Sätze, die Ulrike Meinhof [6]
knapp zehn Jahre zuvor aus Anlaß des Sechs- Tages- Krieges [7]
geschrieben hatte: "Es gibt für die europäische Linke
keinen Grund, ihre Solidarität mit den Verfolgten aufzugeben,
sie reicht in die Gegenwart hinein und schließt den Staat
Israel mit ein." Der schwarze September [8]
der Palästinenser, die israelischen Luftangriffe auf die Flüchtlingslager,
das Massenelend in den besetzten Gebieten, das Regime des Schreckens,
das die Besatzungsmacht dort ausübte, die Berichte aus den
israelischen Gefängnissen waren uns Grund genug und zugleich
Vorwand, unser Wissen über Auschwitz in den Hintergrund zu
drängen. Wir machten uns die Losungen des palästinensischen
Befreiungskampfes zu eigen und setzten uns darüber hinweg,
daß unsere Geschichte eine vorbehaltlose Parteinahme ausschloß.
Wir interpretierten den Konflikt mit den Kategorien eines an Vietnam
[9] geschulten
Antiimperialismus, mit denen er nicht zu ermessen war. Wir sahen
Israel nicht mehr aus der Perspektive des nazistischen Vernichtungsprogramms,
sondern nur noch aus dem Blickwinkel seiner Siedlungsgeschichte:
Israel galt uns als Agent und Vorposten des westlichen Imperialismus
mitten in der arabischen Welt, nicht aber als Ort der Zuflucht für
die Überlebenden und Davongekommenen, der eine Notwendigkeit
ist, solange eine neuerliche Massenvernichtung als Möglichkeit
von niemandem ausgeschlossen werden kann, solange also der Antisemitismus
als historisches und soziales Faktum fortlebt. Die dramatische Tatsache,
daß dieses Sicherheitsbedürfnis der Juden scheinbar nur
gegen die Palästinenser zu realisieren ist, stürzte uns
nicht in ein unlösbares Dilemma, wir nahmen sie vielmehr zum
Anlaß, uns bedingungslos auf die Seite derer zu schlagen,
die in unseren Augen die schwächeren waren. Wo wir unter anderen
Voraussetzungen auf der Unterscheidung zwischen oben und unten beharrten,
sahen wir im Nahen Osten vor allem gute und schlechte Völker.
Am Patriotismus der Palästinenser kritisierten wir ebenfalls
dieses Pathos,
obwohl uns nicht zuletzt die Geschichte Israels ein warnendes Beispiel
hätte sein müssen, daß die Verwirklichung der palästinensischen
Maximalforderungen nicht das Ende von Ausbeutung und Unterdrückung,
sondern lediglich deren Verewigung unter anderen Vorzeichen bedeuten
würde. Leid und durchlebte Verfolgung bieten keinen Schutz
davor, daß Menschen zu Ungeheuern werden, sobald sie sich
als Staatsvolk zusammenballen. Wo zwei ethnische Gemeinschaften
Ansprüche auf dasselbe Stück Land erheben, gibt es keine
revolutionären Lösungen. So begreiflich die Schlußfolgerungen
waren, die die Palästinenser aus ihren Erfahrungen der Vertreibung
und Verfolgung gezogen hatten - wir konnten sie in der Konsequenz
nicht teilen, ohne in einen unauflöslichen Widerspruch zu unserer
Geschichte wie zu unserem politischen Selbstverständnis zu
geraten. Die legitime und notwendige Kritik an der israelischen
Besatzungspolitik sowie die selbstverständliche Solidarität
mit dem Widerstand der Palästinenser war umgeschlagen in die
Bereitschaft, jüdische Passagiere gleich welcher Staatsangehörigkeit
für den Terror und die Grausamkeiten des israelischen Regimes
haftbar zu machen und damit sozialrevolutionäre Maßstäbe
gegen die der Sippenhaft einzutauschen. Das Ausmaß an historischer
Amnesie [10] und
moralischer Desintegration, das in dieser Bereitschaft zum Ausdruck
kommt, ist die schwerste Hypothek, mit der unsere Geschichte belastet
ist.
Es gibt eine Reihe von Gründen, die diese fatale Entwicklung
erklären. Faktoren wie Mißtrauen und Zweifel uns selbst
gegenüber, die wir aus dem reichen Norden kamen oder Opportunismus
angesichts der Möglichkeiten, die die Zusammenarbeit mit palästinensischen
Organisationen bot, spielen dabei sicherlich ebenso eine Rolle wie
der Handlungsdruck, unter dem wir aufgrund der Isolationsbedingungen
in den westdeutschen Knästen standen oder aber die Tatsache,
daß wir mit unserem Begriff von Antizionismus nur Teil der
historischen Strömung waren, die fast alle Fraktionen der damaligen
Linken erfaßt hatte. Aber so plausibel all diese Gründe
auch sein mögen - sie entschuldigen nicht, daß wir in
dieser Zeit enorme Fehler gemacht haben, Fehler, die nicht hätten
passieren dürfen.
Wir können nicht für uns in Anspruch nehmen, daß
wir all dies bereits damals, in den ersten Monaten nach Entebbe
so gesehen hätten. Statt in einer grundlegenden Debatte Logik,
Ablauf und Resultat der Aktion einer schonungslosen Analyse zu unterziehen
und daraus Schlußfolgerungen für unsere weitere Praxis
zu ziehen, gaben wir uns mit halbherziger Kritik zufrieden. Die
naheliegende Konsequenz, wieder an dem anzuknüpfen, wofür
unsere Politik in der BRD stand, nämlich die Orientierung auf
die sozialen und politischen Bewegungen im Lande, zogen nur einige.
Dennoch ist auch richtig, daß die Erfahrung von Entebbe tiefe
Spuren hinterlassen hat. Der markige Satz von der Karawane, die
weiterzieht, während die Hunde bellen, war mehr Spruch, als
daß er unsere Realität beschrieb. Das Wissen um die Katastrophe
wirkte wie ein permanent schwelender Treibsatz fort, der uns immer
wieder selbstkritische Diskussionen abverlangte, in denen wir an
der Wahrheit nicht vorbeikamen. Die mehr unterschwellige als offene
Auseinandersetzung hatte nicht nur Brüche in persönlichen
Freundschaften zufolge, sie hat auch an den Fundamenten unseres
politischen Konzepts gerührt. Selbst wenn wir nicht im einzelnen
auseinanderhalten können, in welchen Punkten die Erfahrung
eine ursächliche Rolle gespielt hat oder wo sie lediglich den
Hintergrund zu völlig anderen Diskussionen und Entscheidungen
abgab - daß sie zentrale Bedeutung in der Bestimmung jener
Positionen hatte, die unsere Politik in den folgenden Jahren geprägt
haben, steht außer Frage. So berechtigt es also ist, uns einen
Mangel an Bewußtsein zum Vorwurf zu machen, so falsch wäre
es, zu negieren, daß sich Entebbe - und sei es nur in Form
des schleichenden Giftes einer Lebenslüge - dauerhaft in unserem
politischen Selbstverständnis niedergeschlagen hat.
Daß wir seitdem nichts mehr unternommen haben, was auf israelische
Einrichtungen zielte, ist uns erst wesentlich später aufgefallen.
Wo das Thema auf der Tagesordnung stand, haben wir nach westdeutschen
Stellen gesucht, die von der Politik Israels profitierten. Die Behandlung
palästinensischer Flüchtlinge durch die bundesdeutschen
Asylbehörden verfolgten wir genauer als das Drama der Aufstandsbekämpfung
in den besetzten Gebieten. Statt mißverständlicher Aktionen
haben wir gar keine Aktionen gemacht, wenn wir Bedenken hatten,
ob sie vielleicht antijüdisch waren oder zumindest so ausgelegt
hätten werden können. Wir hatten allen Grund zur Zurückhaltung,
wenn wir uns mit Motiv und politischem Gehalt des Antizionismus
beschäftigten. Die Gewißheit, daß auch wir als
Linke nicht gegen antisemitische Ressentiments gefeit sind, die
notdürftig mit nationalrevolutionären Definitionen kaschiert
werden, hat uns praktisch blockiert. Das Dilemma der politischen
Abstinenz, das sich daraus ergab, schien einigen von uns eher dahingehend
auflösbar, daß wir den Begriff der NS- Kontinuität
und unser Leben in diesem Land zum Anlaß nahmen, nach den
Spuren jüdischen Widerstands gegen die nationalsozialistische
Neuordnung zu suchen und uns darauf zu beziehen, als daß wir
zwecks Legitimation und Befriedigung des eigenen Handlungsbedarfs
politisch fatale Analogien zogen, wie dies in manchen Dokumenten
des linken Antizionismus geschieht.
Eine weitere Konsequenz war der allmähliche Rückzug aus
den internationalen Kontakten. Allmählich, weil es alte, auch
emotionale Verbindungen gab und weil wir uns selbst schwer taten,
mit jenen Begriffen und ideologischen Konstruktionen zu brechen,
die eine Aktion in Entebbe überhaupt möglich gemacht hatten.
In diesem Prozeß hat sich ein Politikverständnis artikuliert
und geformt, das sich fundamental von dem der Gruppe unterschied,
mit der wir bis dahin zusammengearbeitet hatten.
Differenzen, die wir lange Zeit ignoriert oder der Unterschiedlichkeit
von Bedingungen beziehungsweise unserem Metropolenstatus zugeschrieben
hatten, erwiesen sich nun als knallharte Widersprüche, für
die sich kein gemeinsamer Nenner mehr fand. Der Anspruch aus unterschiedlichen
Positionen heraus solidarisch zu handeln, stieß an seine Grenzen.
Die Zusammenarbeit mit jener Gruppe basierte auf einem Begriff
von Antiimperialismus, der soziale Befreiung unmittelbar an die
Erlangung staatlicher Souveränität koppelte. Die Beendigung
der Fremdherrschaft, so dachten wir, sei gleichbedeutend mit dem
Beginn der sozialen Revolution. Da die Befreiungsorganisationen
das um seine Unabhängigkeit kämpfende Volk repräsentierten,
waren sie der direkte Adressat internationaler Solidarität.
Daß die Machtübernahme den sozialen Gehalt der Revolution
in fast allen Fällen eher zerstörte als entfaltete, daß
sich die Führer der Befreiungsbewegungen, kaum hatten sie die
Kommandoposten in den jungen Nationalstaaten besetzt, als Protagonisten
brutaler Entwicklungsdiktaturen gebährdeten, daß von
der frisch gewonnenen Unabhängigkeit vor allem die alten Kader
profitierten, während das anhaltende Massenelend einer neuen
Erklärung bedurfte, daß sich - kurz gesprochen - die
ganze Dialektik von nationaler und sozialer Befreiung vor allem
für die neuen Machthaber rechnete und daß dies keine
Frage von Verrat oder korrupter Moral war, sondern dem Wesen der
Staatsgründung entsprach - all das paßte nicht in unser
Bild eines homogenen Befreiungsprozesses und wurde deshalb ausgeblendet.
Erst in dem Maße, wie nach vollzogener Nationwerdung neue
Kämpfe ausbrachen, wie sich vielfältigste Formen sozialer
Gegenmacht artikulierten, deren antagonistischer Kontrahent der
Komplex von Gewalt und Verwertung war, den jener Staat verkörperte,
waren wir imstande, den Mythos nationaler Unabhängigkeit und
den ihm immanenten, alle Differenzen homogenisierenden Volksbegriff
zu relativieren. Wir mußten zur Kenntnis nehmen, daß
das Spektrum sozialer Bedürfnisse und Interessen nicht in den
Befreiungsorganisationen aufging und daß die Dimension des
Geschlechter- und des Klassenkampfs selbst im Prozeß antiimperialistischer
Befreiung keinen Moment lang ihre Bedeutung verloren hatte.
Wir durften uns mit den völkisch- ethnischen Parolen nicht
zufrieden geben, auf denen das unartikulierte Miteinander von KämpferInnen
und Kommandanten basierte, waren es doch gerade jene, die als Kader
unter den Bedingungen des Krieges die Instanzen und Formen zukünftiger
Ausbeutung und Zurichtung schufen. Wir konnten nicht länger
ignorieren, daß es wiederum die Männer waren, die in
Gestalt des befreiten Nationalstaats die Schaltstellen der Verwertung
besetzten und damit zugleich einen erneuten Anlauf unternehmen,
die Kontrolle über die Frauen und die Reproduktion zurückzugewinnen.
Wir mußten den Mythos des Volkskrieges auf seine revolutionären
Qualitäten hinterfragen und ihn in seiner Doppelheit als Moment
der Befreiung und als Form zerstörerischer Rationalisierung
neu begreifen - einer Rationalisierung, zu deren ersten Opfern die
Flüchtlinge ebenso gehörten wie die Frauen und Kinder
in den Auffanglagern an den Grenzen zu den umkämpften Gebieten.
Wir mußten - kurzum - brechen mit allen Facetten des leninistisch-
stalinistischen Verständnisses nationaler Befreiung, das von
Beginn an die Politik der Komintern [11]
bestimmte und das wir uns im Zuge der Rezeption des Marxismus- Leninismus
Anfang der siebziger Jahre eingehandelt hatten.
Es ist dies kein Vorwurf oder eine Denunziation jener, mit denen
wir damals zusammen gekämpft haben, sondern das - sicherlich
sehr pauschale - Resümee einer Erfahrung. Es ist eine Kritik
an falschen Harmonievorstellungen, wie wir sie lange Zeit gehabt
haben und die hier vor allem auf Seiten anitimperialistischer Gruppierungen
ungebrochen genährt werden. Die Selbstverständlichkeit,
mit der jede revolutionäre Gruppe oder Bewegung internationale
Solidarität auf ihre Fahnen schreibt, steht im Widerspruch
zu den Schwierigkeiten, sie einzulösen. Existenz und Gewalt
des gemeinsamen Gegners reichen nicht aus, um die Gegensätze
und Konflikte in den eigenen Reihen einzudämmen. Immer wieder
brechen auch hier Antagonismen auf, die ihre Ursache in der Unterschiedlichkeit
von Interessen und Zielvorstellungen oder in selbst errichteten
ideologischen Barrieren haben. Immer wieder kommt der Moment, wo
das, was die eine Gruppe für unbedingt richtig und notwendig
hält, in den Augen der anderen schädlich und falsch ist.
Daraus ergeben sich trotz des Anspruchs auf Gemeinsamkeit im Handeln
und Geschlossenheit vor dem Gegner schärfste Auseinandersetzungen,
die bis zur Selbstzerfleischung reichen können. Über den
Ausgang solcher Kontroversen innerhalb des revolutionären Lagers
aber entscheiden nicht der gute Wille und die bessere Absicht, darüber
entscheiden - wie sonst auch - die Machtverhältnisse.
Gerd hatte in der Zeit nach Entebbe im Knast gesessen. Er war bei
dem Versuch, ein Kino in Brand zu stecken, in dem der Film über
die Flugzeugentführung seinerzeit lief, von einer Observationsgruppe
beobachtet und einen Tag später - im Januar 1977 - verhaftet
worden. Vor dem Düsseldorfer Oberlandesgericht wurde er wegen
versuchter Brandstiftung und Mitgliedschaft in den RZ zu fünf
Jahren Knast verurteilt. [12]
Als er Ende 1981 wieder rauskam, traf er bei uns auf eine gänzlich
veränderte Situation. Den Bruch, den wir mit diesem Teil unserer
Geschichte vollzogen hatten, hat er für sich nie akzeptiert.
Er teilte die Kritik anderer GenossInnen, mit denen es aufgrund
der von uns beschlossenen Loslösung aus den internationalen
Verbindungen harte Auseinandersetzungen gab, die bis zur Trennung
gingen. Die Reduktion auf den eigenen Zusammenhang empfand er als
Schwächung, die Betonung der politischen Differenz als Spaltung.
Der Preis, den wir für die Hervorkehrung unserer Autonomie
bezahlten, sei das Verschwinden in der Bedeutungslosigkeit. Der
freiwillige Verzicht auf die Umsetzung eines konkreten Antiimperialismus
mache nicht nur unseren revolutionären Anspruch zur Farce,
er komme zugleich einer Kapitulation vor ganz praktischen Anforderungen
wie der Erhaltung der Option auf Gefangenenbefreiung, der Sicherung
von Rückzugsmöglichkeiten oder der Bewahrung eines bestimmten
Aktionsniveaus gleich. Es sei eine Fiktion zu glauben, die RZ könnten
aus eigener Kraft den Aufgaben nachkommen, die wir uns gestellt
hätten. Überdies werde der Bruch einen Verlust an subjektiver
Radikalität zur Folge haben; er sei jetzt schon eher unserer
Kleinmütigkeit als einer wirklichen Notwendigkeit geschuldet.
Für den trügerischen Vorteil einer "reinen Weste"
hätten wir die RZ auf das Niveau linker Kleingruppenmilitanz
gebracht und den Guerilla- Anspruch über Bord geworfen. Unsere
"Selbstkritik" in Sachen Entebbe und danach sei Dokument
verlogener doppelter Moral, die nur haltbar sei, weil wir andere
Realitäten aus unserer Wahrnehmung vollkommen ausblendeten.
Es sei ein verkehrtes Wunschbild und zugleich zynisch gegenüber
tatsächlichem Leiden, wenn wir revolutionär seien und
selbst vor allem saubere Finger behalten wollten. Politik funktioniere
nicht nach den Maßstäben zwischenmenschlicher Moral.
Der Bruch, so prophezeite er uns, würde das rasche Ende der
RZ einleiten.
Gegenüber unserer Entscheidung hielt Gerd fest an der Idee
eines unmittelbaren Bezugs auf den palästinensischen Widerstand,
nicht zuletzt, weil er sich von der dort erfahrenen Solidarität
und subjektiven Radikalität angezogen fühlte. Daß
diese Entschlossenheit von zutiefst machistischen Verkehrsformen
durchsetzt war, war ihm in der ganzen Widersprüchlichkeit bewußt
und hinderte ihn, sich definitiv für ein Leben in diesen Strukturen
zu entscheiden. Er versuchte, der Unterschiedlichkeit von Zielsetzungen
und Anforderungen in seiner Person gerecht zu werden. Trotz der
Widersprüche, die sich daraus zwischen ihm und uns ergaben,
empfanden wir es auch als Stärke, daß er in Gegensätzen
denken und Spannungen aushalten konnte, die sich nicht zuletzt aus
der Ambivalenz und Gebrochenheit metropolitaner Subjektivität
ergeben. Wo wir uns auf das scheinbar sichere Terrain einer politischen
Praxis zurückgezogen hatten, die wir für überschaubar
hielten, suchte er umfassendere Lösungen. Wo uns Zweifel, Fragen,
Unsicherheiten zurückhielten, schlug er sich durch nach dem
Motto: "Scheißegal, muß laufen." Er bewahrte
die alten Kontakte, weil er es wollte und weil er sich den GenossInnen
dort gegenüber in der Verantwortung wußte, vielleicht
aber auch in der unausgesprochenen Erwartung, daß wir uns
eines Tages eines Besseren besinnen würden und er die abgebrochenen
Kontakte wieder knüpfen könnte. Wenn wir ihn auf eine
definitive Entscheidung festnageln wollten, hat er sich entzogen.
Er beharrte auf seinem eigenen Weg - gegen totalitäre Gruppenansprüche,
gegen alle Vereinnahmungsversuche, von welcher Seite denn auch.
Er hat sich verweigert, wo der schmale Grat von Verbindlichkeit
hin zu Reglementierung überschritten wurde. Wir hatten unsere
Schwierigkeiten damit und haben ihn trotzdem gerade deswegen geliebt.
Die Art und Weise, wie er seine Überzeugung lebte, hat uns
immer auch fasziniert, gerade weil sie uns in der Form fremd war.
Er ließ sich auf keine Sache absolut zwingen, selbst wenn
sie ihm noch so richtig erschien. Wer ihn kannte, weiß um
die tausenderlei Geschichten, auf die er sich einließ, ohne
sich auf eine reduzieren zu lassen. Dem Puritanismus und Rigorismus
mancher Linker, die irgendwann darüber lamentieren, daß
sie einen Teil ihres Lebens der Revolution geopfert haben, mißtraute
er zutiefst. Was bei oberflächlicher Betrachtung den Eindruck
von Unstetigkeit erweckt haben mag, war die Lust, in Widersprüchen
zu leben, die geboren war aus der Gewißheit, daß der
geradlinige Weg mathematisch zwar die kürzeste Verbindung zwischen
zwei Punkten, politisch aber mit Sicherheit nicht der schnellste
und beste Weg zum Erfolg ist. Was links und rechts dabei herunterfällt,
könnte sich später als unentbehrlich und nicht ersetzbar
erweisen. Die Vereinbarung von scheinbar Gegensätzlichem und
die Selbstbehauptung gegen alles, was andere und anderes ausschließt,
war seine Antwort auf die Frage, wie ein Leben im Antagonismus zu
den herrschenden Verhältnissen unter metropolitanten Bedingungen
überhaupt möglich ist.
Daß er mit dieser Auffassung, die er nicht propagierte, sondern
lebte, überall aneckte, kann man sich vorstellen, wenn man
sich die ganze Palette seiner Tätigkeiten vergegenwärtigt,
die sein Leben nach dem Knast ausmachten. Er arbeitete als Angestellter
der Grünen im Europaparlament und verfaßte Reportagen
für den WDR, in denen er sich gleichermaßen mit Fragen
der Sicherungsverwahrung [13]
wie dem verbotenem Glücksspiel oder Triathlon auseinandersetzte.
Er engagierte sich in der Knastgruppe, schrieb und besuchte gefangene
GenossInnen, wirkte mit bei der Gründung der Zeitung "Bruchstücke"
und pflegte in einträglicher Weise seine Kontakte zu ehemaligen
Mitgefangenen, die inzwischen auf freiem Fuß waren. Er lebte
offensiv als Schwuler, organisierte Veranstaltungen zum Thema Aids
und genoß die Schwulenszene auf Ibiza. Er veröffentlichte
Texte über die Politik Israels [14]
und übernahm Aufgaben, die sich aus seinen internationalen
Kontakten ergaben. Er lebte mitten in der Düsseldorfer Politszene
und entzog sich ihr, wenn ihm der legale Handlungsrahmen zu eng
wurde. Er kritisierte die Halbherzigkeit der RZ und half uns vorbehaltlos,
wo es in seinen Möglichkeiten stand. Er hat bei vielen Erwartungen
geweckt und zwangsläufig nur einen Teil erfüllt. Wer ihn
ganz wollte, wurde immer auch enttäuscht.
Als Gerd im November 1987 zu einem Treffen mit der Gruppe fuhr,
tat er dies auf eigenes Drängen. Die Tatsache, daß ihm
unmittelbar nach seiner Ankunft der Prozeß gemacht wurde,
muß ihn vollkommen unvorbereitet getroffen haben. Er kann
sich keines Fehlers, keines Versäumnisses bewußt gewesen
sein. Andernfalls hätte er die Reise mit größeren
Bedenken angetreten, weil er sich über den Kodex und die Regeln
in der Gruppe keinerlei Illusionen machen konnte und sie akzeptierte.
Wir wollen keine Spekulationen anstellen über die Beweggründe
derer, die seinen Tod zu verantworten haben. Offensichtlich ist
nur, daß hier Maßstäbe aufeinanderprallen, die
zweierlei Welten entstammen. Unter Bedingungen, die von der Logik
des Krieges diktiert werden, zählen unbedingte Gefolgschaft
und Bereitschaft zur Unterordnung, dort stoßen Ansichten und
Verhaltensweisen, die nicht mit den gewohnten Mustern übereinstimmen,
auf Mißtrauen und Ablehnung. Wo das alltägliche Leben
von militärischen Angriffen, von permanentem Ausnahmezustand,
von Ausgangssperren, Verhaftungen und Folter bestimmt werden, sind
die Fronten klar. Dort ist wenig Raum für Ambivalenzen, die
der metropolitanen Herkunft geschuldet sind, dort muß die
Frage nach der eigenen Person fast lächerlich klingen. Was
hier als Suche, als Probieren, als Ringen um neue Impulse nicht
nur seine Berechtigung hat, sondern unbedingt erforderlich ist,
sieht sich dort schnell des Verdachts der Unentschlossenheit, der
Zögerlichkeit, der Abweichung ausgesetzt. Vom Zweifel an der
Loyalität zum Vorwurf des Verrats aber ist es nur ein kleiner
Schritt, samt der mörderischen Konsequenzen, die damit verbunden
sind.
Und dennoch finden wir eine solche Erklärung falsch, sie ist
vordergründig und kurzsichtig. Sie legitimiert eine bewußte
Entscheidung mit dem Zwang der Verhältnisse und erklärt
die zu Opfern ihrer Handlung, die sie doch begangen haben. Die Erfahrung
der Grausamkeit des Gegners enthebt niemanden der Verpflichtung,
zu jedem Augenblick Auskunft über die Mittel und Methoden geben
zu können, die er selbst anwendet. Der leichtfertige Spruch
von der Entwertung des Lebens unter den Bedingungen des Krieges,
mit dem wir nach Erklärungen für Vorgänge suchen,
die für uns unfaßbar sind, ist ein Zynismus, der von
den Bildern der Leidtragenden Lügen gestraft wird. Zudem suggeriert
er im konkreten Fall, daß das, was in die Verantwortung einer
einzelnen Gruppierung fällt, für den palästinensischen
Widerstand in seiner Gesamtheit gilt. Wir haben jedoch keinerlei
Veranlassung zu irgendwelchen Pauschalisierungen, wir halten es
für verkehrt, von den Regeln und Methoden einer Gruppe auf
die Verfaßtheit einer gesamten Bewegung zurückzuschließen.
Nein: Die Bereitschaft zur Ermordung eines Genossen läßt
sich nicht mit der Härte der Bedingungen entschuldigen, sie
ist Ausdruck einer politischen Programmatik, deren einziger Gehalt
die Erringung der Macht und deren Sprache die der künfitgen
Despoten ist. Die Geschichte ist voll von Beispielen revolutionärer
Organisationen oder Bewegungen, die unter vergleichbar brutalen
Bedingungen kämpfen mußten, ohne daß sie sich -
unter Berufung auf die Niedertracht des Gegners - dessen Methoden
zu eigen gemacht haben. Daß dies der geringere Teil ist, daß
die Mehrzahl der bolschewistischen Parteien und nationalen Befreiungsorganisationen
nach der Devise verfahren ist, daß der Zweck die Mittel heilige
und gegen den Feind alles erlaubt sei, wenn es nur der Sache dient,
ist kein Gegenargument. Es ist dies eine politische Auseinandersetzung,
die ihre historischen Bezugspunkte in der Pariser Kommune ebenso
wie in der Oktoberrevolution oder im Spanischen Bürgerkrieg
hat. Wo der Sieg zum Maßstab aller Dinge wird, werden nicht
nur die besten, sondern auch die schlimmsten Kräfte frei.
Wer
die Macht, koste es, was es wolle, erringen und sie um jeden Preis
verteidigen will, untergräbt sie im selben Moment. Die Perversion
der Revolution, schrieb Rosa Luxemburg [15]
an die Adresse der Bolschewisten, ist schlimmer als ihre Niederlage.
Das Argument des Erfolgs, auf das die orthodoxen Kommunisten jahrzehntelang
gegenüber den "romantischen Verlierern" aus den libertären
Gruppen gepocht haben, erweist gerade dieser Tage seine Unzulänglichkeit.
Daß sich hier auch eine Männerwelt austobt, daß
es immer auch darum geht, obsolet gewordene Machtbastionen und Einflußsphären
gegeneinander wie die Ansprüche von unten abzuschirmen, und
daß in einer solchen Welt eine schwule Identität per
se auf Argwohn stößt, können und wollen wir nicht
länger ignorieren. Weil wir dies gelernt haben und weil wir
uns lieber in der Tradition der spanischen AnarchistInnen als in
der der Komintern sehen, verwehren wir uns gegen alle beschönigenden
Reden, die sich auf die Gesetze des Krieges berufen. Bestimmte Regeln
sind möglicherweise andernorts erklärlich, aber sie verschaffen
sich Geltung, weil dem eine bewußte politische Entscheidung
vorausgeht. Wir können sie uns nicht nur nicht zueigen machen,
weil wir unter anderen Bedingungen kämpfen, sondern weil sie
in diametralem Gegensatz zu unseren eigenen Bestrebungen und Utopien
stehen. Der Tod von Gerd macht ein weiteres Mal deutlich, daß
zwischen diesem und unserem Denken Welten liegen, zwischen denen
keinerlei Vermittlung möglich ist.
Daß wir die Gewalt in den eigenen Reihen bislang tabuisiert
haben und uns erst jetzt darüber entsetzen, wo sie uns selbst
ereilt, ist eine Kritik, die wir uns gefallen lassen müssen.
Wir haben keine Entschuldigung dafür. Erst der Tod von Gerd
hat uns für das Ausmaß der Tragödie empfindsam gemacht,
die es bedeutet, daß auch innerhalb revolutionärer Organisationen
politische Fragen mit militärischen Mitteln beantwortet werden.
Er war Anlaß, uns all der tausenden, bekannten und namenlosen
GenossInnen zu erinnern, die ihr Leben gelassen oder gelitten haben,
weil sie des Verrats beschuldigt wurden oder einfach nur zwischen
die Mühlsteine eines innerorganisatorischen Machtstreits geraten
waren.
Ein Einwand gegen revolutionäre Praxis überhaupt ist
sein Tod jedoch nicht. Das Wissen um die Gewalt in den eigenen Reihen
ist uns Grund zum Einhalt, zur Trauer, zur Verzweiflung, nicht aber
eine willkommene Gelegenheit, um das Handtuch zu werfen und unseren
Frieden mit den Verhältnissen zu schließen. Wer uns so
versteht und meint, wir würden nun, wo es einen der unseren
getroffen hat, in das Horn derer blasen, für die Terror schon
immer ein normales Mittel des politischen Geschäfts war, befindet
sich auf dem Irrweg. Die Selbstgefälligkeit und Heuchelei jener
Bürger, die gerade jetzt genußvoll in den Wunden revolutionärer
Bewegungen wühlen und sich darin überbieten, Spuren für
ihren moralischen Verfall ausfindig zu machen, während sie
geflissentlich übersehen, auf welchen Leichenbergen der von
ihnen geschätzte westliche Wohlstand und das als Schlachtruf
zu neuen Ehren gekommene System der Demokratie errichtet sind, stoßen
uns lediglich ab.
Die Auseinandersetzung, die die Ermordung von Gerd ausgelöst
hat, spielt sich diesseits der Barrikade ab. Sie wird sich mit dem
Zusammenhang von Politik und Moral, dem Gegensatz von nationaler
Souveränität und sozialer Befreiung und dem Unterschied
zwischen revolutionärer Gewalt und Terror zu befassen haben.
Zur Disposition steht jenes leninistische Erbe, das sich in unsere
Köpfe eingegraben hat und unser politisches Denken stärker
bestimmt, als uns oftmals bewußt ist. Der Rekurs auf die Geschichte
kann die Schwierigkeiten, vor denen wir hier stehen, ebensowenig
lösen wie der emphatische [16]
Bezug auf die weltweiten Kämpfe. Gerade weil revolutionäre
Politik in einem Land wie der BRD so isoliert ist, muß sie
sich immer wieder eines sozialen Ortes versichern, will sie mehr
sein als der bloße Ausdruck der subjektiven Befindlichkeit
ihrer Akteure oder der schwache Abglanz ideologischer Konstrukte.
Wie schnell all die schönen Worte und die besten Absichten
zu bloßer Makulatur werden, sobald wir uns nicht mehr auf
eine konkrete Realität beziehen, sondern an Forderungen orientierten,
die ihren Ursprung in anderen Bedingungen haben, davon zeugt nicht
zuletzt dieses Kapitel unserer Geschichte.
1973 haben GenossInnen der RZ in einem Interview [17]
gesagt: "Es gibt aber auch einen Teil unserer Politik, den
[...] viele Genossen nicht verstehen und nicht akzeptieren, und
den die Massen auch nicht verstehen und der sie vorläufig nicht
interessieren wird. Wir halten ihn dennoch für richtig. Dieser
Teil des Kampfes bezieht sich auf den Internationalismus, wo es
primär um die Solidarität mit den Genossen ausländischer
Guerillabewegungen geht und die Solidarität mit den kämpfenden
Völkern anderer Länder." Was dort als Versuch formuliert
wurde, eine Antwort auf die weltweite Ungleichzeitigkeit revolutionärer
Entwicklungen zu finden, war faktisch zugleich die Abkopplung vom
hiesigen Sozialprozeß. Es war der Freibrief für eine
Praxis, die sich um politische Vermittlung nicht einmal dem Anspruch
nach zu bemühen braucht. Daß wir jahrelang zu Entebbe
geschwiegen haben, lag nur in der Logik des Arguments. Zugleich
war dieses Schweigen jedoch auch das beredte Eingeständnis,
daß wir uns in eine Sackgasse manövriert hatten: Was
wir auf internatinionaler Ebene machten, war nicht die antiimperialistische
Dimension dessen, wofür wir in der BRD kämpften, sondern
stand in krassem Gegensatz dazu. Wir mußten uns entscheiden.
Wer unsere Praxis in den 80er Jahren verfolgt hat, weiß, wie
diese Entscheidung ausgefallen ist.
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