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RZ / Rote Zora

Schlechtakten 2

Gutachten von Prof. Jacob, Marburg

Nach allem ist davon auszugehen, daß es am 23. Juni 1978 zu einer hirntraumatischen Schädigung (links fronto- basale Hirnprellung), einer Totalerblindung nach Bulbuszerstörung und zum Verlust der Gehfähigkeit als Amputationsfolge nach schwerer Traumatisierung der unteren Extremitäten gekommen war, Herr F. sah sich mit einem Male vor eine vielfache Deprivationssituation gestellt, die für seine Zukunft u.a. eine Einschränkung der freien Berufswahl, der möglichen Lebensgestaltung und Selbstverwirklichung - insgesamt also erhebliche innere Auseinandersetzungen mit seinem Schicksal - mit sich brachte. So F. selbst: "Daß ich mit viel mehr Sachen belastet bin, als mit dem Verlust der Augen und Beine." Das alles ist bei der Beantwortung der Frage nach der möglichen Einschränkung seiner Verhandlungsfähigkeit zufolge des Sehverlustes im Speziellen mitzudenken. Gleichermaßen sind die in den Gutachten von Prof. M. und Dr. Br. gewürdigten Charakterveranlagung und persönlichkeitsgebundenen Besonderheiten in F'S Lebens- und Konfliktbewältigung in die Beurteilung einzubegreifen. In alldem haben die Sachverständigen wiederholt ihre Erfahrungen ausgetauscht. ...Dabei zeigte sich sehr bald, daß die Frage nach möglichen psychischen Auswirkungen der Erblindung ohne gleichzeitige Berücksichtigung mancher in gewissem Sinne zwar ähnlicher jedoch hirntraumatisch bedingter Erscheinungen nicht beantwortet werden kann. Wenn auch im Gutachten von Prof. Mentzos die hirntraumatischen Folgeerscheinungen - einschließlich derjenigen medikamentöser Maßnahmen - ausführlich dargestellt und beurteilt würden, sind für das Verständnis der Auswirkung perakuter Erblindung während eines hirntraumatisch bedingten psychischen Ausnahmezustandes folgende Ergänzungen notwendig:

1. Der Wechsel vital- affektiver Befindlichkeiten

Vergegenwärtigt man sich noch einem die Zeugenschilderung der Herren Wechsung, Piper, Berberich, Raisch, RA Baier und des behandelnden Arztes Dr. Drechsler, dann fällt ein Doppeltes auf: einmal Hinweise auf das für alle Zeugen höchst verwundert zur Kenntnis genommene "physische und psychische Wohlbefinden" so kurze Zeit nach F' s schwerem Trauma und anschließender Operation. Man sprach von einem unerwartet "ausgesprochen starken Eindruck", davon daß F. "mindestens grob stabilisiert war", eine "erstaunliche Klarheit" zeigte, "gut und präcise antwortete", "klar ansprechbar " und "aufgeschlossen- zugewandt" erschien. Im Hinblick auf die verzweifelte Situation schien F. eher unbekümmert- nonchalant. Man war deshalb "überrascht", "fasziniert" und hielt das Ganze für ein "ungewöhnliches Phänomen".

Sozusagen im gleichen Atemzuge hieß es jedoch, daß F. zwar ansprechbar, aber mitunter zögerlich" und "nicht zügig" erschien, "bewußtseinsklar aber verlangsamt", "mit leiser Stimme" sprach, was man auf die Lippenverletzung schob. Er "reagierte langsam", schien "in sich gekehrt- betreten", "es fiel ihm nicht leicht .. es war für ihn anstrengend". Zwischenzeitlich kam es zu kürzeren oder längeren Pausen im Gespräch, "er verstummte", "weil er sich überlegen mußte", "weil er Antworten suchte", "nicht mehr folgen konnte", es gab "Passagen, die er nicht erinnern konnte". Außerdem schien er ausgesprochen geräuschüberempfindlich. Wiederholt kam es - vor allem nach emotional belastenden Fragen - zu beängstigend raschen Atmungen, die auf eine starke innere Erregung schließen ließen. Unter solchen Hyperventilationsattacken war es am 28.6. vermutlich mehrfach zu anfallsartigen Zuständen gekommen, die ärztlicherseits als hyperventilationstetanische Zustände aufgefaßt wurden - im Rückblick jedoch als formes frustes jener hirnorganischen Anfälle zu deuten sind, die erst nachträglich nach Monaten als Status epilepticus aufgetreten waren (prof. M.). Solche bedrohlichen Erregungen und die "wortlosen" Gesprächspausen waren Anlaß gewesen, jeweils die Vernehmung zu unterbrechen .(Dr. Drechsler: "Jetzt reicht's"). Man vernahm nicht mehr, weil man offensichtlich nicht mehr sinnvoll vernehmen konnte. Für Dr. D. und die vernehmenden Beamten erschien er also in solchen Zuständen realiter - wenn auch nicht expressis verbis - nicht mehr vernehmungsfähig. (Wann Dr. Drechsler, der übrigens Dressler heißt, jemals "jetzt reicht's" gesagt hat, bleibt im Dunkeln, in den "Vernehmungs"protokollen ist davon jedenfalls nichts zu lesen, d. Verf.) Demgegenüber wurde die ausgesprochen starke grobstabilisierte, wach- vitale Verfassung wenn auch nicht recht zur Verletzungsschwere passend - offensichtlich nicht als vernehmungsbedenklich erachtet.

Rückblickend aber vermittelt gerade ein solches Alternieren zwischen enthemmt- übersteigert - vitaler Befindlichkeit, "Über"- Wachheit, "Überklarheit" mit gelegentlich nonchalant- euphorisch wirkender Haltung einerseits und gegenläufigen vitalem Daniederliegen, Versagen, affektiver Dekompensation und sensorischer Überempfindlichkeit andererseits eindeutige Hinweise auf hirnorganische Störungen nach Art eines sog. "hirnorganischen Ausnahmezustandes" bzw. "besonnenen Dämmerzustandes" - was sich durch das völlige Abklingen aller dieser Erscheinungen nach wenigen Wochen bestätigt. Hiermit steht nicht in Widerspruch, wenn solche vitalen Hochlagen neurosenpsychologsich als Ausdruck von "Über kompensation" (Prf. H.) oder von "Abwehrmechanismen der passiven Verdrängung" (Prof. M.) aufgefaßt wurden. Dies zeigt lediglich wieweit solche psychodynamischen Mechanismen mitten in hirnorganisch Gegebenes eingreifen können.

2. Retrograde Amnesie

Wie Prof. H. referiert hat F. erstmals 5 Monate nach dem Trauma (25.9.78) darüber berichtet daß er über seine Heidelberger Vernehmungen "nicht mehr recht Bescheid" wisse und "die Erinnerung an seine Heidelberger Aussagen zu einem großen Teil nicht vorhanden" sei. "Meine Erinnerung beginnt erst eine Woche später. Die Eltern haben zwar behauptet, ich hätte mit ihnen geredet - ich weiß davon nichts. Ich kann nicht sagen, ob es eine Woche war. Am Anfang war das sowieso alles '" ich hatte keinen Rhythmus von Tag zu Nacht". "In meinen bewußtlosen Zeiten war ziemlich viel Falsches dabei. Vielleicht war mir dabei der Übergang zwischen Wachen und Traum ...da gibt es Bezüge zur Realität, die man mitgekriegt hat, die einem aber ziemlich absurd vorkommen".

Hinweise auf die besondere Struktur der Erinnerungslücke ergaben sich auch Dr. Brambring. Hiernach umfaßt die Erinnerungslücke etwa 2/3 der Heidelberger Zeit, wofür "keine oder nur sehr eingeschränkte Erinnerungen", bestehen "Einzelne affektiv stark erregende Situationer_" erinnert er: so etwa, als er hörte, "Leute sollten ihm eine Spritze verpassen", als die Mutter in seiner Anwesenheit wegen einer mög lichen Verlegung in ein Landeskrankenhaus befragt wurde oder als er in das - gegenüber der Intensivstation - geräuschlose Röntgenzimmer gebracht wurde. Hingegen entsann er sich beispielsweise weder Herrn Dr. D's (der ab 9.7 in Urlaub war), Herrn Berberichs (der die Untersuchung bis zum 2.7. führte) noch des Besuches eines Rechtsanwaltes aus Stuttgart. Wiederum erinnerte er sich der Ärztin Dr. Conradi.

Hinsichtlich seines Sehverlustes hatte F. gegen über Herrn Dr. Drechlser geäußert, daß er erst gegen Ende der Heidelberger Zeit seine Erblindung innerlich angenommen habe, was sich mit dem Eindruck des seinerzeit behandelnden Arztes Dr. D. deckt, daß F. anfänglich seine Erblindung nicht eigentlich zur Kenntnis genommen habe. Erst gegen Ende der Heidelberger Zeit habe er Personen an der Stimme wiedererkennen können (so F. gegenüber Dr. Brambring).

Eine solche Struktur des nachträglichen Erinnerungsausfalles für die ersten posttraumatischen Wochen mit erhaltenen - teils emotional gefärbten, teils zufälligen Erinnerungsinseln spricht insgesamt eindeutig für eine hirnorganisch bedingte retrograde Amnesie und entschieden gegen die Annahme psychogener Ausblendung oder psychoanalytisch interpretierbarer Verdrängungsvorgänge.

3. Die Vernehmungstechnik

Ein weiterer Einblick in die Verfassung F'S ergibt sich aus dem Vergleich der Vernehmungstechniken in den ersten und den späteren Wochen. F. hatte anfänglich von sich aus darum gebeten, daß er nicht spontan berichten, sondern gefragt werden möchte. Anhand der Vernehmungsprotokolle läßt sich verfolgen, daß er während der ersten Zeiten nie von sich aus zu längeren Spontanberichten kam. Erst nach Wochen veranlaßte er selbst, daß er nunmehr von sich aus zusammenhängend berichten wolle. ...

4. Die langen, "verschnörkelten Sätze"

Der Wechsel in der Gesprächsform läßt sich auch am der erst späteren Wiederaufnahme der langen verschnörkelten Sätze erkennen, die in den ersten Wochen sehr selten zum Vorschein kamen. Prof. M. undDr. Br. haben diese "auasi abstrakten" (Prof. M.) Sätze als F's eigenpersönlichen Sprechstil erkannt. Sie kennzeichnen sich durch eine Aneinanderreihung von immer wieder neuem Satzbeginn mit unvermitteltem Abbrechen - durch immer wieder neue Ansätze versucht F. zum Ausdruck zu bringen, was ihm vorschwebt. ... Solche Sprecheigenheiten treten bei ihm besonders bei lebens- und weltanschaulichen Erörterungen oder bei emotional anrührenden Themen zutage. Insofern aber zeigt sich, daß F. die ersten Wochen zu allgemein- abstrahierenden Gedankengängen und damit Distanzierungen - im Gegensatz zur Fähigkeit zu konkreten Kurzantworten nicht imstande war. Auch dieses Verhalten erscheint rückblickend typisch für hirnorganische Störungsmechanismen.

5. Langzeit- und Kurzzeitgedächtnis

Eine weitere Frage betrifft das anfängliche Mißverhältnis zwischen Langzeit- und Kurzzeitgedächtnis. Während in der ersten Zeit - wie die Vernehmungsprotokolle erweisen - die Vorgänge vor dem Trauma in F' s Erinnerung jeweils punktuell präsent waren, ergeben sich manche Hinweise auf ein demgegenüber gestörtes Kurzzeitgedächtnis. Nach Angaben der Mutter entsann F. nicht ...daß die Eltern ihn einige Tage zuvor besucht hatten. Die Polizeibeamten mußten ihn nach jeweiliger Vernehmungsunterbrechung erneut in das vordem Erörterte" einführen" (Raisch). Auch mußte das jeweils Berichtete von Frage zu Frage "vertieft" werden. Mit solcher Hilfestellung konnten offenbar die Unsicherheiten im Kurzzeitgedächtnis überbrückt werden. Insofern erscheint FiS spätere Erinnerung, daß er sich "passiv geführt" gefühlt habe für das - aus Gründen hirnorganischer Veränderung hervorgehende - Mißverhältnis zwischen Eigenführung und Fremdführung typisch. Hinweisend auf das versagende Kurzzeitgedächtnis ist auch F's Bitte um ein Gespräch über Fragen gerichtlicher Konsequenzen, auf die er selbst im Gespräch überhaupt nicht mehr eingeht, was mit Recht von Dr. Breibring hervorgehoben wurde. Solches Mißverhältnis zwischen intaktem Langzeitgedächtnis gegenüber reduziertem Kurzzeitgedächtnis - zwischen Eigen- und Fremdführung ist ebenfalls ein für hirnorganische Ausnahmezustände sehr charakteristisches Symptom. ...

6. Die Erblindung

Frag man sich nunmehr, wieviel von Erlebnisformen, Verhaltensauffälligkeiten, Befindlichkeitsstörungen und Behinderungen in der geistigen Bewältigung seiner Situation speziell mit dem Sehverlust in Verbindung steht, sieht man sich vor dem Dilemma, daß einige der bisher als hirnorganisch erkannten Phänomen sowohl hirnorganisch, als optisch- deprivationsbedingt gedeutet werden können. So etwa können die Lärm- Überempfindlichkeit oder - gegenläufig - die Emotionspanik im akustisch "leeren" Röntgenraum sowohl Folge zentralnervöser Störungen, als noch nicht gelungener Adaptierung an die Zusammenarbeit der ihm noch verbliebenen Sinne aufgefaßt werden. Daß er anfänglich seine Erblindung nicht zur Kenntnis nahm ist zwar ebenfalls als verzögerte Adaptierung bzw. Readaptierung an den Sehverlust deutbar. Doch ereignete sich genau das Gleiche bei der anfänglichen Nichtregistrierung des Beinverlustes, was erst bei der Betastung des schmerzenden Beinstumpfes - nicht aber durch fehlendes Bewegungsgefühl zutage trat (RA Baier). Beides ist auch aus den erörterten hirnorganischen Störungen unschwer erklärbar. Entsprechendes betrifft die anfänglichen Schwierigkeiten bei der stimmlich- akustischen Personenwiedererkennung. Gewiß wird man mit Dr. Breibring bedenken, daß die für Unfallblinde typische Phase der Umstellungs- und Adaptierungsleistungen etwa in die ersten 2- 7 Tage fallen - doch zugleich auch dies, daß er gleichzeitig in besonderem Maße hirnorganisch verändert war. Seine rückblickenden Berichte aus der "grauen Zeit" (RA Baier) mit dem gelegentlichen Erlebnis auf ihn einstürztender "King- Kong"artiger Bilder (RA BaierJ, die er nicht abschalten konnte, lassen gewiß in erster Linie an analoge Schilderungen akut Späterblindetes denken, bei denen sich ein "Ersatzblickfeld" zu entwickeln pflegt..., auf dem sich anfänglich kaleidoskopartige Fotismen einstellen können, die aus Reizerscheinungen am traumatischen Narbenstumpf der Sehnerven hervorgehen. Aber auch hier ist denkbar, daß postoperativ oder in Zusammenhang mit der anfänglich notwenigen Medikation, über die Dr. Schwedes ausführlich berichtet, anders genetische Erlebnisse wie wir sie bei intoxikativen oder hirntraumatischen Verwirr thei ten auch ohne Erblindung kennen - eine Rolle mitgespielt haben. Daß auch dies rückblickend .von F. erinnert wurde, spricht wiederum für die hornorganische Natur der Erinnerungslücke mit dabei nicht seltenen Erinnerungsinseln für elementar- emotionserschütternde Erlebnisse.

7. Restitution und Readaptierung

Unabhängig von solchen Fragen ist entscheidend, daß innerhalb der ersten Juliwochen - nach allem, was zu erfahren war - speziell die Anpassung an das Blindendasein ziemlich reibungslos vollzogen wurde. ...

Hand in Hand mit solcher Adaptierung an den Sehverlust konsolidierten sich sämtliche erörterten hirnorganischen Störungen. Die von F. geschätzte zeitliche Begrenzung der retraograden Amnesie deckt sich mit derjenigen der gelungenen Restitution des Kurzzeitgedächtnisses mit dem Abklingen der gegenläufigen Vitalstörungen- Affekt- und Emtionslabilitäten, mit wieder möglichen Spontanberichten (siehe die zahlreichen Bandbesprechungen), der Wiedererlangung seines persönlichen Sprechstils und zugleich mit allen jenen imponierenden Zeichen aktiver Wiederbewältigung seiner Probleme und Dauerbelastungen, seinem selbständigkritischen Eingreifen in seine Vernehmungs- und Isolationssituation, seinen aktiven Organisationen von Kassettenaustausch und anderen Kommunikationsausweitungen mit der Aussenwelt, seinen Planungen für Zukünftiges. Das alles ging aus dem letzten Zeugenbericht seines Rechtsanwaltes Baier sehr eindrücklich hervor.

8. Forensisch- psychiatrische Beurteilung

Auch ich meine, daß der Zeitpunkt der Wiedererlangung seiner Verhandlungs- und Vernehmungs fähigkeit etwa um den 6. Juli 1978 anzusetzen ist.

Bis dahin aber war Herr F. durch die oben erörterten hirnorganischen Störungen, Folgeerscheinungen seiner Erblindung und die speziellen psychodynamischen Vorgänge (Prof. Harlfinger- Prof. Mentzos - Dr. Breibring) innerhalb einer solchen komplexen Deprivationssituation- forensisch- psychiatrisch gesprochen:

in seiner Fähigkeit, seine Interessen in der Verhandlung bzw. Vernehmung wahrzunehmen sich selbst hierbei zu steuern und über sich selbst zu verfügen, in seiner willentlichen Widerstandskraft und seinem Vermögen, sich für ihn selbst sinnvoll- zurückzuhalten im Sinne einer Verhandlungs- bzw. Vernehmungsfähigkeit entscheidend eingeschränkt."

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