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RZ, deutsche Linke - Antizionismus und Antisemitismus
In der letzten Ausgabe der Alhambra-Zeitung dokumentierten wir
ein Portrait der Revolutionären Zellen/Rote Zora von Oliver Tolmein
von 1988. Darin zitiert er aus der ersten Ausgabe des "Revolutionären
Zorns" (1975) einen der drei Aktionsschwerpunkte der RZ als
"Aktionen gegen die Filialen und Komplizen des Zionismus in
der BRD". Linker Antizionismus birgt aber immer auch die Gefahr
des Antisemitismus in sich. Beim Abdruck ist uns diese Stelle nicht
aufgefallen. Wir denken aber, daß sie so unkommentiert nicht hätte
veröffentlicht werden sollen. Die Diskussionen um Antisemitismus
in der Linken begannen innerhalb der RZ erst später.Mitte Dezember
1991 verschickte eine Revolutionäre Zelle eine Erklärung, in der
sie die Ermordung eines RZ-Mitglieds durch eine palästinensische
Gruppe zum Anlaß einer selbstkritischen Reflexion der Geschichte
nicht nur ihrer eigenen antiimperialistischen Praxis genommen haben.
Unter der Überschrift "Gerd Albartus ist tot" setzen sie
sich vor allem mit der Entführung eines Flugzeuges 1976 nach Entebbe,
mit der dort unter Beteiligung zweier RZ-Mitglieder vorgenommenen
Selektion jüdischer Passagiere, dem darin zum Ausdruck gekommenen
Antisemitismus deutscher Linker und der nationalrevolutionären Borniertheit
antiimperialistischer Gruppen in der BRD auseinander. Hier daraus
Auszüge:
"(...)Gemeint ist die Zeit nach der gescheiterten Gefangenenbefreiung
Ende Juni 1976. Damals hatte ein vierköpfiges Kommando, dem neben
zwei Palästinensern auch zwei Mitglieder der RZ, Brigitte Kuhlmann
und Wilfried "Bonni" Böse, angehörten, einen Airbus der
Air France in seine Gewalt gebracht und die Freilassung von mehr
als 50 GenossInnen gefordert, die zum überwiegenden Teil in israelischen
und westdeutschen Knästen gefangengehalten wurden. An Bord der Maschine,
die in Tel Aviv gestartet und auf dem Flug nach Paris in Athen zwischengelandet
war, bevor sie von dort aus nach Entebbe umdirigiert wurde, befanden
sich über 250 Passagiere, unter ihnen etwa 100 israelische Staatsbürger
oder Juden anderer Nationalität. Nachdem die nicht-jüdischen Passagiere
innerhalb weniger Tage freigelassen worden waren, verlängerte das
Kommando sein Ultimatum, um weitere Verhandlungen zu ermöglichen.
Diese Zeitspanne nutzte die israelische Regierung, um eine militärische
Lösung vorzubereiten. In der Nacht zum 4. Juli 1976 überfiel eine
Spezialeinheit den Flughafen von Entebbe und bereitete der Geiselnahme
ein blutiges Ende. Das Kommando kam dabei ums Leben, von den Gefangenen,
deren Freilassung gefordert worden war, kein einziger frei. Es hat
Jahre gedauert, ehe wir diesen Rückschlag verkraftet hatten. Unter
dem Eindruck des Verlustes der Freunde waren wir zunächst unfähig,
die politische Dimension der Katastrophe zu ermessen, die Entebbe
für uns bedeutete. Anstatt wahrzunehmen, was uns vorgehalten wurde,
nämlich daß wir als Organisation an einer Operation teilhatten,
in deren Verlauf israelische Staatsbürger und jüdische Passagiere
anderer Nationalität ausgesondert und als Geisel genommen worden
waren, beschäftigten wir uns vor allem mit dem militärischen Aspekt
der Aktion und ihrer gewaltsamen Beendigung. Das Kalkül des Regimes
sollte nicht aufgehen. Um zumindest die Option auf die Befreiung
gefangener GenossInnen offenzuhalten, mußten wir handeln und durften
uns nicht von den alarmierenden Nachrichten über den Ablauf der
Geiselnahme und die Rolle unserer GenossInnen darin blockieren lassen.
Die Meldung, es sei ausgesondert worden, hielten wir ebenso für
ein Produkt psychologischer Kriegsführung wie die Behauptung, daß
sich die deutschen Mitglieder des Kommandos dabei besonders hervorgetan
hatten. Wir kannten Brigitte und Bonni als Antifaschisten, und wir
wußten um ihre Motive, sich an der Aktion zu beteiligen. Unser Begriff
von Solidarität verbot Kritik an den GenossInnen; eine Diskussion
über Fehler wehrten wir ab, als ob Solidarität nicht prinzipiell
das Risiko umfaßt, daß einzelne GenossInnen Fehler machen. Ähnlich
vordergründig blieb die Diskussion, wo es um die Suche nach Gründen
für das Scheitern der Aktion ging. Zu mehr als Manöverkritik waren
wir nicht imstande. Wir beklagten, daß die ursprünglichen Planungen
und Absprachen nicht eingehalten worden waren und daß der faktische
Ablauf auf den Kopf gestellt hätte, was eigentlich vorgesehen war.
Wir kritisierten, daß die Aktion, die aus unserer Sicht einzig und
allein einen pragmatischen Zweck verfolgte, nämlich die sofortige
Freilassung politischer Gefangener, im Verlauf ihrer Dauer mehr
und mehr den Charakter einer Propagandaaktion angenommen hatte,
die sich vor allem Idi Amin zunutze zu machen verstanden habe. Wir
erhoben den Vorwurf, daß dem Kommando im Zuge der Operation die
Befehlsgewalt entzogen worden war und die GenossInnen nach der Landung
in Entebbe bloß noch die Weisungen zu befolgen hatten, die an anderer
Stelle und fernab des Geschehens ausgegeben wurden. Wir fanden uns
schließlich ab mit dem Verweis auf die besondere Dynamik militärischer
Operationen, auch wenn unser Vertrauen in eine direkte internationale
Zusammenarbeit als besondere Qualität eines praktischen Antiimperialismus
an seine Grenzen gestoßen war. Daß die Grenzen dieser Zusammenarbeit
nicht technischer oder taktischer, sondern politischer Art waren,
sahen wir nicht, obwohl Stoßrichtung und Verlauf der Aktion eine
deutliche Sprache sprachen. Das Kommando hatte Geiseln genommen,
deren einzige Gemeinsamkeit darin bestand, daß sie Juden waren.
Soziale Merkmale wie Herkunft oder Funktion, die Frage der gesellschaftlichen
Stellung oder der persönlichen Verantwortung, also Kriterien, die
wir eigentlich unserer Praxis zugrundelegten, spielten in diesem
Fall keine Rolle. Die Selektion erfolgte entlang völkischer Linien.
Daß die einzige Geisel, die die Flugzeugentführung nicht überlebte,
ausgerechnet eine ehemalige KZ-Inhaftierte war, ging zwar nicht
unmittelbar zu Lasten des Kommandos, lag aber nichtsdestoweniger
in der Logik der Aktion. Was gut ein Jahr später, im Fall Mogadischu,
selbst unter Linksradikalen eine Welle der Kritik auslösen sollte,
nämlich daß eine willkürliche Gruppe deutscher Urlauber zur Verhandlungsmasse
wurde, darüber setzten wir uns im Fall Entebbe hinweg, obwohl der
Verlauf der Aktion die einfachsten Grundsätze revolutionärer Politik
und Moral, die wir sonst für uns in Anspruch nahmen, auf den Kopf
gestellt hatte. Die entsetzliche Drohung, daß jeder, der israelisches
Grundgebiet betritt, wissen muß, welches Risiko er auf sich nimmt,
und daß er dieses selbst zu verantworten habe, war blutiger Ernst
geworden. Entebbe war kein Einzelfall, wohl aber der Kulminationspunkt
einer Entwicklung, in deren Verlauf wir uns mehr und mehr von dem
entfernt hatten, wofür wir mal angetreten waren. Vergessen waren
die Sätze, die Ulrike Meinhof knapp zehn Jahre zuvor aus Anlaß des
Sechs-Tage-Kriegs geschrieben hatte: "Es gibt für die europäische
Linke keinen Grund, ihre Solidarität mit den Verfolgten aufzugeben,
sie reicht in die Gegenwart hinein und schließt den Staat Israel
mit ein." Der schwarze September der Palästinenser, die israelischen
Luftangriffe auf die Flüchtlingslager, das Massenelend in den besetzten
Gebieten, das Regime des Schreckens, das die Besatzungsmacht dort
ausübte, die Berichte aus den israelischen Gefängnissen waren uns
Grund genug und zugleich Vorwand, unser Wissen über Auschwitz in
den Hintergrund zu drängen. Wir machten uns die Losungen des palästinensischen
Befreiungskampfs zu eigen und setzten uns darüber hinweg, daß unsere
Geschichte eine vorbehaltlose Parteinahme ausschloß. Wir interpretierten
den Konflikt mit den Kategorien eines an Vietnam geschulten Antiimperialismus,
mit denen er nicht zu ermessen war. Wir sahen Israel nicht mehr
aus der Perspektive des nazistischen Vernichtungsprogramms, sondern
nur noch aus dem Blickwinkel seiner Siedlungsgeschichte: Israel
galt uns als Agent und Vorposten des westlichen Imperialismus mitten
in der arabischen Welt, nicht aber als Ort der Zuflucht für die
Überlebenden und Davongekommenen, der eine Notwendigkeit ist, solange
eine neuerliche Massenvernichtung als Möglichkeit von niemandem
ausgeschlossen werden kann, solange also der Antisemitismus als
historisches und soziales Faktum fortlebt. Die dramatische Tatsache,
daß dieses Sicherheitsbedürfnis der Juden scheinbar nur gegen die
Palästinenser zu realisieren ist, stürzte uns nicht in ein unlösbares
Dilemma, wir nahmen sie vielmehr zum Anlaß, uns bedingungslos auf
die Seite derer zu schlagen, die in unseren Augen die Schwächeren
waren. Wo wir unter anderen Voraussetzungen auf der Unterscheidung
zwischen oben und unten beharrten, sahen wir im Nahen Osten vor
allem gute und schlechte Völker. Am Patriotismus der Palästinenser
kritisierten wir allenfalls dessen Pathos, obwohl uns nicht zuletzt
die Geschichte Israels ein warnendes Beispiel hätte sein müssen,
daß die Verwirklichung der palästinensischen Maximalforderungen
nicht das Ende von Ausbeutung und Unterdrückung, sondern lediglich
deren Verewigung unter anderen Vorzeichen bedeuten würde. Leid und
durchlebte Verfolgung bieten keinen Schutz davor, daß Menschen zu
Ungeheuern werden, sobald sie sich als Staatsvolk zusammenballen.
Wo zwei ethnische Gemeinschaften Ansprüche auf dasselbe Stück Land
erheben, gibt es keine revolutionären Lösungen. So begreiflich die
Schlußfolgerungen waren, die die Palästinenser aus ihren Erfahrungen
der Vertreibung und Verfolgung gezogen hatten - wir konnten sie
in der Konsequenz nicht teilen, ohne in einen unauflöslichen Widerspruch
zu unserer Geschichte wie zu unserem politischen Selbstverständnis
zu geraten. Die legitime und notwendige Kritik an der israelischen
Besatzungspolitik sowie die selbstverständliche Solidarität mit
dem Widerstand der Palästinenser waren umgeschlagen in die Bereitschaft,
jüdische Passagiere gleich welcher Staatsangehörigkeit für den Terror
und die Grausamkeiten des israelischen Regimes haftbar zu machen
und damit sozialrevolutionäre Maßstäbe gegen die der Sippenhaft
einzutauschen. Das Ausmaß an historischer Amnesie und an moralischer
Desintegration, das in dieser Bereitschaft zum Ausdruck kommt, ist
die schwerste Hypothek, mit der unsere Geschichte belastet ist.
Es gibt eine Reihe von Gründen, die diese fatale Entwicklung erklären.
Faktoren wie Mißtrauen und Zweifel uns selbst gegenüber, die wir
aus dem reichen Norden kamen, oder Opportunismus angesichts der
Möglichkeiten, die die Zusammenarbeit mit palästinensischen Organisationen
bot, spielen dabei sicherlich ebenso eine Rolle wie der Handlungsdruck,
unter dem wir aufgrund der Isolationsbedingungen in den westdeutschen
Knästen standen, oder aber die Tatsache, daß wir mit unserem Begriff
von Antizionismus nur Teil einer historischen Strömung waren, die
fast alle Fraktionen der damaligen Linken erfaßt hatte. Aber so
plausibel alle diese Gründe auch sein mögen - sie entschuldigen
nicht, daß wir in dieser Zeit enorme Fehler gemacht haben, Fehler,
die nicht hätten passieren dürfen.Wir können nicht für uns in Anspruch
nehmen, daß wir all dies bereits damals, in den ersten Monaten nach
Entebbe, so gesehen hätten. Statt in einer grundlegenden Debatte
Logik, Ablauf und Resultat der Aktion einer schonungslosen Analyse
zu unterziehen und daraus Schlußfolgerungen für unsere weitere Praxis
zu ziehen, gaben wir uns mit halbherziger Kritik zufrieden. Die
naheliegende Konsequenz, wieder an dem anzuknüpfen, wofür unsere
Politik in der BRD stand, nämlich die Orientierung auf die sozialen
und politischen Bewegungen im Lande, zogen nur einige. Dennoch ist
auch richtig, daß die Erfahrung von Entebbe tiefe Spuren hinterlassen
hat. Der markige Satz von der Karawane, die weiterzieht, während
die Hunde bellen, war mehr Spruch als daß er unsere Realität beschrieb.
Das Wissen um die Katastrophe wirkte wie ein permanent schwelender
Treibsatz fort, der uns immer wieder selbstkritische Diskussionen
abverlangte, in denen wir an der Wahrheit nicht vorbeikamen. Die
mehr unterschwellige als offene Auseinandersetzung hatte nicht nur
Brüche in persönlichen Freundschaften zur Folge, sie hat auch an
den Fundamenten unseres politischen Konzepts gerührt. Selbst wenn
wir nicht im einzelnen auseinanderhalten können, in welchen Punkten
die Erfahrung eine ursächliche Rolle gespielt hat oder wo sie lediglich
den Hintergrund zu völlig anderen Diskussionen und Entscheidungen
abgab - daß sie zentrale Bedeutung in der Bestimmung jener Positionen
hatte, die unsere Politik in den folgenden Jahren geprägt haben,
steht außer Frage. So berechtigt es also ist, uns einen Mangel an
Bewußtheit zum Vorwurf zu machen, so falsch wäre es, zu negieren,
daß sich Entebbe - und sei es nur in Form des schleichenden Gifts
einer Lebenslüge - dauerhaft in unserem politischen Selbstverständnis
niedergeschlagen hat. Daß wir seitdem nichts mehr unternommen haben,
was auf israelische Einrichtungen zielte, ist uns erst wesentlich
später aufgefallen. Wo das Thema auf der Tagesordnung stand, haben
wir nach westdeutschen Stellen gesucht, die von der Politik Israels
profitierten. Die Behandlung palästinensischer Flüchtlinge durch
die bundesdeutschen Asylbehörden verfolgten wir genauer als das
Drama der Aufstandsbekämpfung in den besetzten Gebieten. Statt mißverständlicher
Aktionen haben wir gar keine Aktionen gemacht, wenn wir Bedenken
hatten, ob sie vielleicht antijüdisch waren oder zumindest so ausgelegt
hätten werden können. Wir hatten allen Grund zur Zurückhaltung,
wenn wir uns mit Motiv und politischem Gehalt des Antizionismus
beschäftigten. Die Gewißheit, daß auch wir als Linke nicht gegen
antisemitische Ressentiments gefeit sind, die notdürftig mit nationalrevolutionären
Definitionen kaschiert werden, hat uns praktisch blockiert. Das
Dilemma der politischen Abstinenz, das sich daraus ergab, schien
einigen von uns eher dahingehend auflösbar, daß wir den Begriff
der NS-Kontinuität und unser Leben in diesem Land zum Anlaß nahmen,
nach den Spuren jüdischen Widerstands gegen die nationalsozialistische
Neuordnung zu suchen und uns darauf zu beziehen, als daß wir zwecks
Legitimation und Befriedigung des eigenen Handlungsbedarfs politisch
fatale Analogien zogen, wie dies in manchen Dokumenten des linken
Antizionismus geschieht. Eine weitere Konsequenz war der allmähliche
Rückzug aus den internationalen Kontakten. Allmählich, weil es alte,
auch emotionale Verbindungen gab und weil wir uns selbst schwertaten,
mit jenen Begriffen und ideologischen Konstrukten zu brechen, die
eine Aktion wie Entebbe überhaupt möglich gemacht hatten. In diesem
Prozeß hat sich ein Politikverständnis artikuliert und geformt,
das sich fundamental von dem der Gruppe unterschied, mit der wir
bis dahin zusammengearbeitet hatten. Differenzen, die wir lange
Zeit ignoriert oder der Unterschiedlichkeit von Bedingungen bzw.
unserem Metropolenstatus zugeschrieben hatten, erwiesen sich nun
als knallharte Widersprüche, für die sich kein gemeinsamer Nenner
mehr fand. Der Anspruch, aus unterschiedlichen Positionen heraus
solidarisch zu handeln, stieß an seine Grenzen. Die Zusammenarbeit
mit jener Gruppe basierte auf einem Begriff von Antiimperialismus,
der soziale Befreiung unmittelbar an die Erlangung staatlicher Souveränität
koppelte. Die Beendigung der Fremdherrschaft, so dachten wir, sei
gleichbedeutend mit dem Beginn der sozialen Revolution. Da die Befreiungsorganisationen
das um seine Unabhängigkeit kämpfende Volk repräsentierten, waren
sie der direkte Adressat internationaler Solidarität. Daß die Machtübernahme
den sozialen Gehalt der Revolution in fast allen Fällen eher zerstörte
als entfaltete, daß sich die Führer der Befreiungsbewegungen, kaum
hatten sie die Kommandoposten in den jungen Nationalstaaten besetzt,
als Protagonisten brutaler Entwicklungsdiktaturen gebärdeten, daß
von der frisch gewonnen Unabhängigkeit vor allem die alten Kader
profitierten, während das anhaltende Massenelend einer neuen Erklärung
bedurfte, daß sich - kurz gesprochen - die ganze Dialektik von nationaler
und sozialer Befreiung vor allem für die neuen Machthaber rechnete
und daß dies keine Frage von Verrat oder korrupter Moral war, sondern
dem Wesen der Staatsgründung entsprach - all das paßte nicht in
unser Bild eines homogenen Befreiungsprozesses und wurde deshalb
ausgeblendet. Erst in dem Maße, wie nach vollzogener Nationwerdung
neue Kämpfe ausbrachen, wie sich vielfältigste Formen sozialer Gegenmacht
artikulierten, deren antagonistischer Kontrahent der Komplex von
Gewalt und Verwertung war, den jener Staat verkörperte, waren wir
imstande, den Mythos nationaler Unabhängigkeit und den ihm immanenten,
alle Differenzen homogenisierenden Volksbegriff zu relativieren.
Wir mußten zur Kenntnis nehmen, daß das Spektrum sozialer Bedürfnisse
und Interessen nicht in den Befreiungsorganisationen aufging und
daß die Dimension des Geschlechter- und des Klassenkampfs selbst
im Prozeß antiimperialistischer Befreiung keinen Moment lang ihre
Bedeutung verloren hatte. Wir durften uns mit den völkisch-ethnischen
Parolen nicht zufrieden geben, auf denen das unartikulierte Miteinander
von KämpferInnen und Kommandanten basierte, waren es doch gerade
jene, die als Kader unter den Bedingungen des Krieges die Instanzen
und Formen zukünftiger Ausbeutung und Zurichtung schufen. Wir konnten
nicht länger ignorieren, daß es wiederum die Männer waren, die in
Gestalt des befreiten Nationalstaats die Schaltstellen der Verwertung
besetzten und damit zugleich einen erneuten Anlauf unternahmen,
die Kontrolle über die Frauen und die Reproduktion zurückzugewinnen.
Wir mußten den Mythos des Volkskriegs auf seine revolutionären Qualitäten
hinterfragen und ihn in seiner Doppelheit als Moment der Befreiung
und als Form zerstörerischer Rationalisierung neu begreifen - einer
Rationalisierung, zu deren ersten Opfern die Flüchtlinge ebenso
gehörten wie die Frauen und Kinder in den Auffanglagern an den Grenzen
zu den umkämpften Gebieten. Wir mußten - kurzum - brechen mit allen
Facetten des leninistisch-stalinistischen Verständnisses nationaler
Befreiung, das von Beginn an die Politik der Komintern bestimmt
und das wir uns im Zuge der Rezeption des Marxismus-Leninismus Anfang
der 70er Jahre eingehandelt hatten. Es ist dies kein Vorwurf oder
eine Denunziation jener, mit denen wir damals zusammengekämpft haben,
sondern das - sicherlich sehr pauschale - Resümee einer Erfahrung.
Es ist eine Kritik an falschen Harmonievorstellungen, wie wir sie
lange Zeit gehabt haben und die hier vor allem von Seiten antiimperialistischer
Gruppierungen ungebrochen genährt werden. Die Selbstverständlichkeit,
mit der jede revolutionäre Gruppe oder Bewegung internationale Solidarität
auf ihre Fahnen schreibt, steht im Widerspruch zu den Schwierigkeiten,
sie einzulösen. Existenz und Gewalt des gemeinsamen Gegners reichen
nicht aus, um die Gegensätze und Konflikte in den eigenen Reihen
einzudämmen. Immer wieder brechen auch hier Antagonismen auf, die
ihre Ursache in der Unterschiedlichkeit von Interessen und Zielvorstellungen
oder in selbst errichteten ideologischen Barrieren haben. Immer
wieder kommt der Moment, wo das, was die eine Gruppe für unbedingt
richtig und notwendig hält, in den Augen der anderen schädlich und
falsch ist. Daraus ergeben sich - trotz des Anspruchs auf Gemeinsamkeit
im Handeln und Geschlossenheit vor dem Gegner - schärfste Auseinandersetzungen,
die bis zur Selbstzerfleischung reichen können. Über den Ausgang
solcher Kontroversen innerhalb des revolutionären Lagers aber entscheiden
nicht der gute Wille und die bessere Absicht, darüber entscheiden
- wie sonst auch - die Machtverhältnisse.(...)" Die gesamte
Diskussion aus den Jahren 91/92 umfaßt fünf Papiere verschiedener
Revolutionärer Zellen und ist in "Früchte des Zorns" (im
ID-Archiv 1993 erschienen) dokumentiert. In der nächsten Ausgabe
der Alhambra-Zeitung werden wir speziell zum Thema Antisemitismus
in der Linken den Vortrag von Katharina Seewaldt mit dem gleichen
Titel abdrucken.
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