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RZ-Ermittlungsverfahren: Beschuldigte bleiben in U-Haft, Anklageerhebung
im Herbst
"Unglaubwürdigkeit des Kronzeugen nicht belegt"
Zu 186 Anschläge haben sich die Revolutionären Zellen/Rote
Zora in den Jahren 1973 bis 1992, als zumindest ein Teil der Revolutionären
Zellen deren Auflösung erklärte, bekannt (1). Und in all
diesen Jahren .ist es den Sicherheitsbehörden weder gelungen,
irgendwelche Spitzel einzuschleusen, noch konnte man - bis auf wenige
Ausnahmen - angeblicher oder tatsächlicher Aktivistinnen und
Unterstützerinnen habhaft werden.
Seit Ende vergangenen Jahres soll nun alles ganz anders sein. Zunächst
wurde mit dem Berliner Tarek Mousli (41) ein mutmaßlicher
RZ- "RädeIsführer" verhaftet und dann, auf grund seiner
Aussagen, am 19. Dezember die Frankfurterin Sabine E. sowie in Berlin
Axel Haug und Harald Glöde. Zeitgleich wurden deren Wohnungen
durchsucht sowie -zehn Stunden lang von rund 1.000 PolizistInnen
und BundesgrenzschutzbeamtInnen der Berliner MehringHof, in dem
zahlreichen Gruppen, Initiativen und Gewerbebetriebe beheimatet
sind. Hier soll sich laut Tarek Mousli ein Sprengstoff- und Waffendepot
befunden haben. Also wurden nicht nur, wie bei Razzien durchaus
üblich, Türen aufgebrochen und alle möglichen Räume
verwüstet, sondern unter anderem auch Wände aufgestemmt
und Dekkenverkleidungen heruntergerissen. Der Sachschaden betrug
rund 100.000 Mark.
Weil aber der MehringHof, im Gegensatz zu früheren Jahren,
als die Berliner Szene noch anderes als ihre 1.-Mai-Rituale auf
die Reihe bekam, längst nicht mehr (nur) autonome Hochburg,
sondern "unverzichtbarer Bestandteil des Kreuzberger kulturellen,
sozialen und wirtschaftlichen Lebens .", Ausgangspunkt vieler fortschrittlicher
Projekte und als solcher über die Grenzen Deutschlands bekannt"
und damit "nicht von Schaden, sondern von Nutzenfür den Bezirk"
(2) ist, gab es vom Bundeskriminalamt im Frühjahr immerhin
80.000 Mark Schadensersatz.
Auch eine zweite Durchsuchung des MehringHofs am 30. Mai brachte
nicht das gewünschte Ergebnis. Diesmal rückte die Staatsmacht
mit deutlich reduziertem Aufgebot, dafür aber mit High Tech
an. Die BeamtInnen des Bundeskriminalamts wurden -erstmals in Deutschland
von Tarek Mousli per Online-Videokonferenz aus dessen Versteck heraus
ferngesteuert, doch auch diesmal nicht zu den richtigen Stellen.
Ein beschlagnahmter blauer Müllsack, ein ausgesaugter Aufzugschacht
und auch die von den Wänden genommenen Proben ergaben in den
Wiesbadener Chemielabors keinerlei verwertbare Spuren, mußte
die Bundesanwaltschaft Ende Juli eingestehen. Die Lagerung von
Sprengstoff wäre hingegen noch nach Jahren nachweisbar gewesen.
(3)
Die angebliche Berliner RZ
Das nicht auffindbare Waffen- und Sprengstoffdepot betreut haben
soll der am vierten Advent verhaftete 49jährige Axel Haug,
einer der Hausmeister des Gebäudekomplexes MehringHof
Harald Göde (51) ist Mitarbeiter der dort ansässigen
Forschungsgesellschaft Flucht und Migration (FFM). Den bei den wird
wie Sabine E. "Mitgliedschaft in der terroristischen Vereinigung
'RZ'" (§ 129a StGB) vorgeworfen, konkret geht es um die bis in die
neunziger Jahre aktive Berliner Revolutionäre Zelle. Der habe
neben dem zum Kronzeugen mutierten Tarek Mousli zudem auch Rudolf
Schindler angehört. Der 56jährige Frankfurter, Lebensgefährte
von Sabine E., war bereits am 13. Oktober vergangenen Jahres verhaftet
worden, und zwar aufgrund von Angaben eines anderen Kronzeugen,
Hans-Joachim Klein. Dieser hatte bereits 1977 seine" Rückkehr
in die Menschlichkeit" vollzogen, das bewahrte ihn aber nicht vor
der Verhaftung im Herbst 1998 im französischen Exil und der
Auslieferung nach Deutschland. Er behauptete, Rudolf Schindler habe
ihn im RZ-Auftrag für den Anschlag auf die OPEC-Konferenz in
Wien im Jahre 1975 angeworben. (4)
Während Hans-Joachim Klein aber laut Bundeskriminalamt nur
über den Zeitraum bis 1977 aussagen mochte, plauderte Tarek
Mousli anscheinend fast sechs Monate lang. Und nicht etwa nur über
den Zeitraum bis Anfang der neunziger Jahre, als er sich nach der
damals bekanntgewordenen Ermordung des ehemaligen RZ-Aktivisten
und, laut Bundesanwaltschaft, seines" Ziehvaters ", Gerd Albartus
- von den Revolutionären Zellen losgesagt haben will, sondern
auch über alles, was er über linksradikale Zusammenhänge
bis zu seiner Verhaftung am 23. November 1999 erfahren haben will.
Inwieweit für Tarek Mousli, soweit es selbst begangene Straftaten
betrifft, die Kronzeugenregelung anwendbar ist, bleibt abzuwarten.
Im Gesetz heißt es jedenfalls, daß die nur gelte, "...
wenn das Wissen über die Tatsachen bis zum 31.12.1999 offenbart
worden ist". Die meisten seiner Aussagen hat Tarek Mousli aber erst
nach diesem Datum gemacht.
Wie dem auch sei, die Kronzeugenaussagen führten im Frühjahr
zu weiteren Festnahmen. Am 18. April wurde Matthias Borgmann als
mutmaßlicher RZ-Angehöriger verhaftet. Der 51jährige,
seit Jahren Leiter des Akademischen Auslandsamtes der Technischen
Universität Berlin, wurde daraufhin von der TU-Leitung fristlos
entlassen. Auch Lothar E., ebenfalls früher Hausmeister im
MehringHof, soll Berliner RZ-Mitglied gewesen sein. Er wurde am
18. Mai im kanadischen Yellowknife, wo er eine Pension betreibt,
von den dortigen Behörden auf grund eines Auslieferungsbegehrens
der Bundesanwaltschaft festgenommen. Ende Juni wurde Lothar E. aber
gegen Hinterlegung einer Kaution von umgerechnet fast 154.000 Mark
aus der Haft entlassen. Das eigentliche Auslieferungsverfahren findet
im Spätsommer statt. (5)
Axel Haug, Harald Göde, RudolfSchindler, Sabine E., Matthias
Borgmann sowie Lothar E. sollen in den achtziger Jahren nach Angaben
Tarek Mouslis, der im Jahre 1985 durch Gert Albartus rekrutiert
worden sein will, mit ihm gemeinsam die Berliner Revolutionäre
Zelle gebildet haben. Wobei noch unklar ist, ob er nicht noch weitere
Personen beschuldigt hat, gegen die eventuell ebenfalls Haftbefehle
bestehen, So hatte die Sprecherin der Bundesanwaltschaft, Eva Schübel,
Ende des vergangenen Jahres gegenüber dem Focus behauptet,
Tarek Mousli habe 50 Namen bisher unbekannter Mitglieder der Revolutionären
Zellen/Roten Zora genannt. Über die "Mitgliedschaft in der
terroristischen Vereinigung 'RZ'" hinaus wird den Betroffenen vor
allem die Beteiligung an verschiedenen Anschlägen vorgeworfen.
So sollen Harald Göde, Axel Haug, Rudolf Schindler und Sabine
E. an den beiden "Knieschuß-Attentaten" auf Günter Korbmacher,
Vorsitzender Richter des Bundesverwaltungsgerichts, am 1. September
1987 in West-Berlin und auf den Chef der West-Berliner Ausländerbehörde,
Harald Hollenberg, am 28. Oktober 1986 mitgewirkt haben. Nach Aussagen
seiner ehemaligen Lebensgefährtin hätte Tarek Mousli ihr
erzählt, nicht nur mitgemacht, sondern auch selbst geschossen
zu haben. Seinen eigenen Angaben der Bundesanwaltschaft gegenüber
zufolge will er hier aber nur logistische Hilfe (Rückzugsplanung,
Abhören des Polizeifunks) geleistet haben. Diese beiden Anschläge
sind indes als "gefährliche Körperverletzung" bereits
verjährt. Nicht aber diejenigen nach § 129a sowie wegen der
Beteiligung an Sprengstoff anschlägen beziehungsweise des unerlaubten
Besitzes von Sprengstoff;
Auch für den Sprengstoffanschlag auf die Zentrale SozialhilfesteIle
für Asylbewerber (ZSA) in West-Berlin im Februar 1987 wurde
Tarek Mousli von seiner Ex beschuldigt. Er hatte dem Vernehmen nach
als Täterinnen hingegen zunächst Harald Göde, Rudolf
Schindler und Sabine E. den Behörden gegenüber angegeben.
Anfang des Jahres denunzierte er diesen Anschlag betreffend zudem
Axel Haug, dessen Haftbefehl daraufhin am 4. Februar entsprechend
erweitert wurde. Der sei außerdem am Sprengstoffanschlag auf
die Berliner Siegessäule im Januar 1991 beteiligt gewesen.
Und späteren Aussagen zufolge sollen auch Lothar E. und Matthias
Borgmann, gegen die dann am 9. bzw. 17. März Haftbefehl erlassen
wurde, an den Anschlägen auf die ZSA und die Siegessäule
beteiligt gewesen sein.
Der Kronzeuge ist frei
Bei der zweiten Durchsuchung des MehringHofs am 30. Mai hatten
noch (fast) alle gedacht, daß Tarek Mousli die BeamtInnen
des Bundeskriminalamtes aus irgendeinem Knast irgendwo in Deutschland
dirigierte. Ende Juni aber wurde bekannt, daß er bereits im
April aus dem Gefängnis entlassen worden war und sich nun unter
einer anderen Identität in einem Zeugenschutzprogramm befindet,
das ihn auch finanziell absichert.
Die Freilassung des Kronzeugen, immerhin soll er der" Rädelsführer"
der Berliner RZ gewesen sein, deutete die Verteidigung der von ihm
Beschuldigten zunächst als positives Zeichen für eine
Untersuchungshaftverschonung ihrer MandantInnen. Denn, so Silke
Studzinsky, Anwältin von Harald Glöde, " das bedeutet
doch, daß die Straferwartung selbst bei dem mutmaßlichen
Rädelsführer Mousli nicht so hoch angesetzt ist". (6)
Doch am 4. August entschied der Bundesgerichtshof in Karlsruhe
bei der, da Harald Göde, Axel Haug und Sabine E. nunmehr seit
über sechs Monaten in Untersuchungshaft saßen, fälligen
Entscheidung über die Fortdauer der UHaft, daß die drei
weiter in den Knästen in Düsseldorf, Wuppertal und Frankfurt
bleiben müssen. Darüber hinaus wurde die Haftbeschwerde
von Matthias Borgmann (JVA Berlin- Moabit) verworfen. Begründet
wurden diese Entscheidungen mit den Aussagen Tarek Mouslis sowie
der angeblich bestehenden Fluchtgefahr.
Die Verteidigung, der bisher nur ein Teil der Ermittlungsakten
zugänglich gemacht wurde, hatte - vergeblich - einen Verstoß
gegen das Prinzip des fairen Verfahrens gerügt, weil der Kronzeuge
monatelang von Bundeskriminalamt und Bundesanwaltschaft vernommen
worden war, ohne daß die Verteidigung ihrerseits informiert
wurde, anwesend sein oder gar den Zeugen selbst befragen konnte.
Darüber hinaus sei erwiesen, daß Tarek Mousli im Rahmen
seiner Befragungen teilweise umfangreiche Zusammenfassungen seiner
eigenen Aussagen bekannt gegeben wurden. Zudem sei er auf Widersprüche
innerhalb seiner Aussagen und Tatsachen aus den Ermittlungsakten,
die im Widerspruch zu seinen Aussagen stehen, aufmerksam gemacht
worden und habe über Monate hinweg die Gelegenheit gehabt,
seine Aussagen auf diese Art und Weise nachzubessern. (Dies führte
eben unter anderem zu der oben schon genannten Erweiterung des Haftbefehls
gegen Harald Haug.) Damit konnte Tarek Mousli, ein möglicherweise
tief in ein Tatgeschehen verwickelter Beschuldigter, nach freiem
Belieben Tatbeteiligte und Tatbeiträge austauschen.
Auf alle diese Einwände ging der Bundesgerichtshof bei seiner
Entscheidung am 4. August praktisch nicht ein. Sogar die Rüge
von konkreten Widersprüchen wurde mit der lapidaren Bemerkung
abgehandelt, daß Tarek Mousli "sich gleichwohl bei der Vielzahl
der Beteiligten und Geschehnisse im Einzelfall geirrt haben kann
", was aber " seine Unglaubwürdigkeit nicht" belege.
Auch der Haftgrund "Fluchtgefahr" sei, so die Verteidigung, nicht
zu rechtfertigen, denn die Beschuldigten lebten alle in stabilen
Wohn- und Arbeitsverhältnissen. Bis auf eine Ausnahme (Verurteilung
aus dem Jahre 1987) seien alle strafrechtlich unbelastet. Zudem
hätten die Revolutionären Zellen sich vor mehreren Jahren
aufgelöst. Besonders kritikwürdig sei, daß die Fluchtgefahr
auch damit begründet wird, " daß die Auslieferung in
solchen Fällen politisch motivierter Straftaten problematisch
ist". Dies ergebe sich aus den Verfahren gegen Lothar E. in Kanada
und zwei im Januar in Paris festgenommene angebliche west-deutsche
RZ-AktivistInnen, die dort ebenfalls auf Kaution freigelassen wurden
und zumindest derzeit nicht ausgeliefert werden. Damit werde, meint
die Verteidigung, den in Deutschland befindlichen Beschuldigten
praktisch zum Vorwurf gemacht, daß in anderen Staaten bei
politisch motivierten Straftaten offensichtlich rechtsstaatlichere
Maßstäbe gelten. (7)
Nach Angaben der Bundesanwaltschaft will sie im Herbst beim Kammergericht
Berlin Anklage gegen die Beschuldigten erheben. Der Prozeß,
mit dem die Bundesanwaltschaft nach Angaben ihrer Sprecherin Eva
SchübeI "ausschließlich Geschichte" aufarbeiten will
(8), würde dann voraussichtlich Anfang des Jahres 2001 beginnen.
Ob es einen -mit Tarek Mousli als Kronzeugen und Angeklagtem -oder
zwei Prozesse geben wird, scheint hingegen noch unklar. Im Sommer
gab es Hinweise, daß Tarek Mousli bald vor Gericht kommen
könnte. Das wäre nach Auffassung von Wolf gang Kaleck,
Rechtsanwalt von Matthias Borgmann, allerdings" hochproblematisch
" (9). Denn dann würden diese Kronzeugenaussagen ohne ausführliche
Beweisaufnahme hingenommen und legitimiert. Wie bei anderen § 129a-Verfahren
könnten die dann in weiteren RZ-Verfahren durch Verlesung des
Gerichts als bekannte Tatsachen eingeführt werden.
Beugehaft angedroht
Zwei mutmaßliche Angehörige einer anderen Revolutionären
Zelle wurden am 16. Januar in Paris auf Ersuchen der Bundesanwaltschaft
in Auslieferungshaft genommen. Sonja Suder, inzwischen 67 Jahre
alt, und Christian Gauger (58) sollen 1977 an zwei Sprengstoffanschlägen
gegen die Firmen MAN in Nürnberg und Klein, Schanzlin &
Becker in FrankenthaI, die beide Atomkraftwerksausrüstung in
alle Welt lieferten, beteiligt gewesen sein, außerdem am Brandschlag
im Jahre 1978 auf das Heidelberger Schloß. Nach den Aussagen
Hans-Joachim Kleins soll Sonja Suder außerdem 1975 Unterstützung
für den Überfall auf die OPEC-Konferenz in Wien geleistet
haben.
Ende März befand ein Pariser Gericht, daß die von den
deutschen Behörden wegen der drei genannten Anschläge
eingereichten Unterlagen nicht ausreichend seien und erteilte Sonja
Suder und ChristianGauger gegen eine vergleichsweise geringe Kaution
von umgerechnet 3.000 Mark Haftverschonung.
Durch die Festnahmen in Paris wurde Werner R. aus Hagen quasi über
Nacht zum Objekt bundesdeutscher Terroristenfahndung. Denn tags
darauf, am 17. Januar, durchsuchten BeamtInnen des Bundeskriminalamtes
und des Staatsschutzes zur ungewöhnlichen Uhrzeit 20 Uhr 30
seine Wohngemeinschaft, in der er seit 20 Jahren lebt, und danach
in Haspe das Atelier der KünstlerInnengruppe Kooperative K.,
deren Mitglied er ist. Sonja Suder und Christian Gauger sollen nämlich
in Frankreich unter falschem Namen gelebt haben, Christian G. seit
mehreren Jahren mit der Identität eines Schweizer Staatsbürgers,
und zwar unter dem Namen von Werner R.
In der Wohngemeinschaft wurden zunächst eine Mitbewohnerin
und eine Besucherin an die Wand gestellt, nach Waffen durchsucht
und nach dem Aufenthaltsort von Werner R. gefragt. Daraufuin wurde
das Atelier der Kooperative K. in Haspe mit gezogenen Waffen gestürmt.
Nach der Atelierdurchsuchung fuhren die BeamtIn nen mit ihm in die
Wohngemeinschaft und durchsuchten auch die privaten Räume der
MitbewohnerInnen. Vier Stunden lang stellten 15 BeamtInnen alles
auf den Kopf.
Die anfängliche Nervosität und Aufgeregtheit der BeamtInnen
legte sich während der Durchsuchung zusehends. Dies änderte
sich allerdings wieder, als sie darauf stießen, daß
Werner R. neben der deutschen auch die schweizer Staatsangehörigkeit
- seine Mutter ist Schweizerin besitzt. Bei der Durchsuchung war
allerdings der schweizer Paß, den er seit 1992 besitzt und
bei seinen persönlichen Unterlagen wähnte, nicht aufzufinden.
Er hatte den Verlust nicht bemerkt, da er ihn nur selten nutzte.
Daraufhin begann eine akribische Durchleuchtung seiner Lebensverhältnisse
(Quittungen, Rechnungen, Kontoauszüge), Liebesbeziehungen (Briefe,
Fotos) und politischen Aktivitäten. Beschlagnahmt wurden zum
Beispiel Briefe aus Nicaragua von seinem Aufenthalt dort 1984 sowie
ein nicht abgeschickter Brief an eine frühere Freundin, die
1989 verhaftet wurde und für das BKA zum "terroristischen Umfeld"
zählt.
Nach der Durchsuchung, um etwa 0 Uhr 30, ging es dann ins Hagener
Polizeipräsidium zur weiteren Befragung als "Zeuge". Hier wurde
Werner R. unter anderem nach seinen Kontakten zur " linken Szene
" befragt. Später nutztendie BKABeamten den Begriff "terroristische
Szene". Werner R. gab an, zu der Frau, an die er 1989 hatte schreiben
wollen, Anfang der 80er Jahre freundschaftlichen Kontakt gehabt
zu haben. Außerdem kenne er aus seiner Jugendzeit (ein Kneipenkontakt
im Alter von 16 Jahren) einen Menschen, der später wegen Mitgliedschaft
in der Bewegung 2. Juni verurteilt wurde und kurze Zeit in der Hagener
Justizvollzugsanstalt einsaß. Diesem hatte er schriftlich
angeboten, Bücher zu schicken, die der aber nicht brauchte.
Und zu guter letzt wohnte Werner R. 1975 in einer Kölner Wohngemeinschaft,
in der für zwei Wochen auch Rechtsanwalt Klaus Croissant wohnte,
der damals in Düsseldorf verteidigte. Die Vernehmung dauerte
bis etwa 2 Uhr 30.
Bei der erneuten Befragung am Morgen des gleichen Tages eröffneten
die Beamten Werner R., daß sie seine Angabe, sich das Verschwinden
des Passes nicht erklären zu können, für nicht glaubwürdig
hielten, weil er so "zahlreiche Kontakte" zu "terroristischen Personen"
habe. Es wurde ihm gedroht, daß er zwar noch Zeuge sei, sich
das aber schnell ändern könne. Es war also damit rechnen,
daß ihm unterstellt würde, er hätte den Paß
zur Verfügung gestellt und sich damit der -sehr dehnbaren -"Unterstützung
einer terroristischen Vereinigung" verdächtig gemacht. Damit
wäre er nicht mehr nur Zeuge, sondern gleichzeitig Verdächtiger,
also "tatverdächtiger Zeuge".
Daraufhin verweigerte Werner R. weitere Aussagen. Einer Ladung
zur polizeilichen Vernehmung einige Tage später kam er nicht
nach. Der Vorladung der Staatsanwaltschaft Frankfurt/Main im März
folgte er in Begleitung seiner Anwältin, um dort die Aussage
zu verweigern, was ihm als Verdächtigen zusteht.
Die Staatsanwaltschaft Frankfurt versuchte anschließend,
mit der Verhängung von 1.000 Mark Zwangsgeld weitere Aussagen
zu erzwingen. Nach erneuter Vorladung zur Staatsanwaltschaft Frankfurt
am 16. Mai beantragte der Staatsanwalt beim Amtsgericht Frankfurt
Beugehaft. (10) Das lehnte den Antrag als "unverhältnismäßig"
ab, denn Werner R. habe zu Recht sein Aussageverweigerungsrecht
in Anspruch genommen. Allerdings hob dann das Landgericht diesen
Beschluß auf und ordnete Beugehaft an.
Nachdem Werner R. monatelang damit rechnen mußte, jederzeit
fest- und in Beugehaft genommen zu werden, gab wundersamerweise
das Bundesverfassungsgericht am 22. August der durch Rechtsanwältin
Anne Mayer erstellten Verfassungsbeschwerde statt. Es hob damit
unanfechtbar -den Beschluß des Landgerichts Frankfurt auf,
weil der gegen Artikel 2 Absatz 2
(Die Freiheit der Person ist unverletzlich) und Artikel 104, nach
dem es eine rechtliche Grundlage für den Freiheitsentzug geben
muß, des Grundgesetzes verstoße. Ob und, wenn ja, wie
diese Verdächtigungen Werner R.s weiter verfolgt werden, ist
unklar. (11)
Anna und Arthur haben Angst
Mit der hehren Forderungen nach Aussageverweigerung bei Polizei
(deren Vorladungen können folgenlos ignoriert werden) und Staatsanwaltschaft
ist es in den letzten Jahren indes zunehmend weniger weit her. Denn
die Entscheidung, die letztendlich auf bis zu sechs Monate Beugehaft
hinauslaufen kann, ist ja im Ernstfall keine theoretische mehr,
sondern bedarf neben der in Diskussionen gewonnenen bzw. bestärkten
"politischen Klarheit' derjenigen, die sie letztendlich zu vertreten
haben, gerade eines starken freundschaftlichen und "privaten" wie
auch solidarischen politischen Rückhalts der Betroffenen -insbesondere,
wenn sie in den Knast gehen. (12)
Und doch, "Anna und Arthur halten's Maul", diese -auf grund der
desaströsen Erfahrungen nach den katastrophalen und in zwei
Fällen tödlichen Schüssen auf Polizisten an der Startbahn
West im Jahre 1987 entwickelte - platte Parole stimmt heute weniger
dennje. Das belegen zahlreiche Erfahrungen auch in anderen Ermittlungsverfahren
der letzten Jahre, da bedarf es keines § I 29a-Vorwurfs.
Denn "Anna und Arthur leben jetzt im Jahr 2000, in einer anderen
persönlichen und politischen Situation. Anna und Arthur haben
Angst und hatten schon immer Angst. Anna undArthur fragen sich nach
dem Preis, nach den Auswirkungenfür ihr ganz persönliches
Leben und sie fragen sich, ob der Preis vielleicht nicht viel zu
hoch ist." (13)
Statt, wie zumeist üblich, die Augen zu verschließen,
wendet sich die Berliner ZeugInnengruppe auch an diejenigen, die
Fragen, Unsicherheiten und Ängste weder allein noch gemeinsam
mit anderen klären konnten:" Was also tun, wenn Fehler passieren,
wenn es Menschen nicht schaffen, die Aussage zu verweigern, wenn
sich verquatscht oder wenn die Situation falsch eingeschätzt
worden ist? Hier können wir nur appelieren: Egal, was passiert
ist, egal, wie eine eventuelle Aussage ausgesehen hat, bleibt nicht
allein damit. Redet darüber, teilt es den AnwältInnen
mit. Redet mit euren FreundInnen und GenossInnen darüber. laßt
es nicht zu, daß sich eine Atmosphäre der Unsicherheit
und des Mißtrauen breit macht. Schlimmer als nach den Aussagen
von Tarek Mousli kann es nicht werden. Es liegt an allen zusammen,
ob wir die Atmosphäre so bestimmen, daß auch für
Fehler und andere Herangehensweisen genug Platz ist." (14)
Die Aussagen des Kronzeugen Tarek Mousli füllen eine hohe
dreisteIlige Zahl von Seiten. Darin enthalten -immerhin geht es
um einen Zeitraum von mehr als zwanzig Jahren - ist eine unbekannte
Zahl von Namen ehemaliger oder auch noch heutiger AktivistInnen,
von denen bestimmt ein ganzer Teil gar nicht mehr in Berlin wohnt.
Allerdings lassen die in Berlin befürchteten massenhaften Vorladungen
von "zeugen" oder Verdächtigen noch auf sich warten.(I5)
Die Berliner Zeuginnengruppe stellt Fragen zur Solidaritätsarbeit,
die sonst oft unter den Tisch fallen: " Was macht das mit den Leuten,
die damit rechnen müssen, daß vielleicht ein wichtiger
Zeitraum ihres politischen Werdegangs transparent gemacht werden
soll? Wer von uns allen würde schon gerne aus Bullenakten erfahren,
wie erdachte oder stattgefundene Kontakte oder Konflikte, Freund-
oder Feindschaften, geliebte Beziehungen oder lieber Vergessenes
in märchenhaften Ausschweifungen vor der BA W halluziniert
wird? (..) Wie stark ist die Wut, die Ohnmacht, aber auch die sehr
ernstzunehmende Traurigkeit und Enttäuschung, die eigene Geschichte
sowohl im persönlichen wie politischen Kontext herabgespielt,
verzerrt, lächerlich gemacht und vor allem kriminalisiert verewigt
zu wissen?
Es wird diejenigen geben, die nach dem anfänglichen Schock,
Schrecken und natürlich auch Ängsten, den eigenen Namen
in den Akten zu
wissen, ihren Vertrauten gegenüber Befürchtungen und
Wut äußern können, denen es dank eines intakten
sozialen Rahmens auf der Arbeit, im Freundinnenkreis, in der Familie
und vielleicht im politischen Zusammenhang gelingt, sich gut darauf
vorzubereiten, daß 'da noch was kommen könnte '. Denen
es also eigentlich doch ganz gut geht, weil es welche gibt, die
über alle Differenzen hinweg zu ihnen halten und wissen, wie
sie Nähe ausdrücken können.
Was ist mit denjenigen, die sich entweder auf eine andere Entwicklung
ihres Lebens konzentriert haben, die woanders oder eben nicht mehr
politisch engagiert sind und denen es vielleicht an Leuten mangelt,
mit denen sie nochmal- mit der nötigen Offenheit -gedanklich
in ihre Geschichte in den 80ern und beginnenden 90ern zurücktauchen
können? Oder denen, die sagen, sie hatten ihre Gründe,
aus 'unserer Politik' auszusteigen, vielleicht zurecht? Und wie
gehen diejenigen, die aufgrund ihres Alters gar keinen Bezugzu 'damals'
haben, mit Gerüchten um, mit der verständlichen Neugier,
die nicht an den Grenzen der Stadt halt macht?" (16)
Und die, gelinde gesagt, " unschönen Erfahrungen" mit Verfahren
der Vergangenheit sprächen klar dafür, daß das Informationsbedürfnis
der Szene über den offiziellen Stand der Ermittlungen der Gegenseite
berechtigt ist. Genauso wie die ZeugInnengruppe das "spürbare
Interesse an alten Texten der RZ und Roten Zorafür die Diskussionen
über das 'wie' unserer Organisationsformen und Aktionsebenen
zur Umsetzung bisheriger oder zukünftiger Utopien" gutheißt.
Während die Beschuldigten im RZ-Ermittlungsverfahren und ihre
AnwältInnen eine "offene Solidaritätsarbeit" aber klar
ablehnen, fordert die ZeugInnengruppe UnterstützerInnengruppen
und dabei vor allem diejenigen Leute, die auf grund ihres Einblicks
in das Verfahren kompetent sind, auf, der" Gerüchteküche
durch klare Informationen entgegen[zu)treten. Das war und ist bis
heute bei komplexen Verfahren sowohl nötig, wie es auch eine
schwierige Aufgabe ist. " Das würde verhindern, daß Solidaritätsarbeit
zur "drögen Antirepressionspolitik" degeneriert, die um die
Gefangenen rotiert, Kohle sammelt oder Beratungstätigkeiten
organisiert und trägt. Wie auch bei anderen § 129a- Verfahren
lasse sich die politische Solidarität nicht auf ein Thema reduzieren
" wie es blödsinnig wäre, sich ausschließlich an
den Fehlern von RZ und Roter Zora oder an womöglichen autoritären
Strukturen eines mythosbeladenen militanten Zusammenhangs abzuarbeiten".
(17)
Willi Leow
Weitere Informationen:
Zitronenfalter -Die Nummer 3 der vom Berliner Bündnis für
Freilassung herausgegebenen Zeitung müßte im Herbst erscheinen
und wird dann im Infoladen Bremen, St.-Pauli-Straße 10/12,
erhältlich sein.
www.freilassung.de -Die gut gepflegte und immer aktuelle Homepage
des Berliner Bündnisses für Freilassung enthält hauptsächlich
Informationen zu den Ermittlungsverfahren gegen die am 19. Dezember
festgenommenen Axel Haug, Harald Göde und Sabine E.
Anmerkungen:
(1) Aber auch danach fanden noch weitere Anschläge im Namen
der RZ bzw. der Roten Zo,a statt. Die Roten Zora bekannten sich
letztmals im Juli 1995, und zwar zu einem Anschlag auf die LUrssen-Werft
in Lemwerder bei Bremen: vgl. kassiber 27, Oktober 1995, S. 28ft".
(2) Resolution der Fraktion der SPD in d~r Bezirksverordnetenversammlung
Kreuzberg von Berlin vom 3.1.2000.
(3) Pressemitteilung des Berliner Bündnisses fnr Freilassung
vom 25.7.2000.
(4) Vgl. kassiber 42, Juli 2000, S. 53fT.
(5) die Tageszeitung (Berlin-Ausgabe) vom 20.6.2000. (6) Zitiert
nach: Tagesspiegel vom 4.7.2000.
(7) Presseerklärung der Verteidigung in den RZ-Verfahren vom
17.8.2000.
(8) Frankfurter Rundschau vom 16.6.2000.
(9) die Tageszeitung vom 1.7.2000.
(10) Brief der Freundinnen und Freunde Wemer R.s vom 20.6.2000.
Kontakt: Quadrux-Buchladen, Lange Straße 21,58089 Hagen, Tel/Fax:
02331/334058. (11) Frankfurter Rundschau vom 25.8.2000 sowie Brief
der Freundinnen und Freunde Wemer R.s vom 23.8.2000.
(12) Vgl. das kassiber-Interview mit Ulf B., der im "radikal-Verfahren"
fünf Monate in Beugehaft gesessen hat, in: kassiber 28, Februar
1996, S. 38ft".
(13) Zitiert nach: Und was wir noch zu sagen haiten, dauert keine
Zigarette ...(Beitrag zur Zeugenveranstaltung am 6. April 2000 im
SO 36, Berlin).
(14) Ebd.
(15) Aus den Ermittlungsakten gegen angebliche "Führungskader"
"Autonomer Gruppen", die in den Jahren 1996 und 1997 Hakenkrallen-Anschläge
gegen die Deutsche Bahn AG begangen haben sollen, wurde bekannt,
daß "eine Beschuldigte einem Personenkreis zugerechnet wird:
der für die finanzielle Koordination der linksextremistischen
Szene in Berlin verantwortlich ist". Auch soll die Frau "sowohl
an der Herstellung der bis zum Jahre 1984 offen erstellten 'radikal'
als in der Folgezeit an der verdeckt erstellen 'radikal' beteiligt"
gewesen sein. Wahrscheinlich stammen diese Angaben von Tarek Mousli,
denn er hatte auch von Axel Haug behauptet, daß der diesem
"Koordinierungsausschuß" angehöre..
(16) Zitiert nach: Berliner Impressionen (Beitrag zur :zeugenveranstaltung
am 6. April 2000 im SO 36, Berlin).
(17) Zitate in diesem Absatz: ebd.
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