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RZ / Rote Zora

RZ-Ermittlungsverfahren: Beschuldigte bleiben in U-Haft, Anklageerhebung im Herbst

"Unglaubwürdigkeit des Kronzeugen nicht belegt"

Zu 186 Anschläge haben sich die Revolutionären Zellen/Rote Zora in den Jahren 1973 bis 1992, als zumindest ein Teil der Revolutionären Zellen deren Auflösung erklärte, bekannt (1). Und in all diesen Jahren .ist es den Sicherheitsbehörden weder gelungen, irgendwelche Spitzel einzuschleusen, noch konnte man - bis auf wenige Ausnahmen - angeblicher oder tatsächlicher Aktivistinnen und Unterstützerinnen habhaft werden.

Seit Ende vergangenen Jahres soll nun alles ganz anders sein. Zunächst wurde mit dem Berliner Tarek Mousli (41) ein mutmaßlicher RZ- "RädeIsführer" verhaftet und dann, auf grund seiner Aussagen, am 19. Dezember die Frankfurterin Sabine E. sowie in Berlin Axel Haug und Harald Glöde. Zeitgleich wurden deren Wohnungen durchsucht sowie -zehn Stunden lang von rund 1.000 PolizistInnen und BundesgrenzschutzbeamtInnen der Berliner MehringHof, in dem zahlreichen Gruppen, Initiativen und Gewerbebetriebe beheimatet sind. Hier soll sich laut Tarek Mousli ein Sprengstoff- und Waffendepot befunden haben. Also wurden nicht nur, wie bei Razzien durchaus üblich, Türen aufgebrochen und alle möglichen Räume verwüstet, sondern unter anderem auch Wände aufgestemmt und Dekkenverkleidungen heruntergerissen. Der Sachschaden betrug rund 100.000 Mark.

Weil aber der MehringHof, im Gegensatz zu früheren Jahren, als die Berliner Szene noch anderes als ihre 1.-Mai-Rituale auf die Reihe bekam, längst nicht mehr (nur) autonome Hochburg, sondern "unverzichtbarer Bestandteil des Kreuzberger kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Lebens .", Ausgangspunkt vieler fortschrittlicher Projekte und als solcher über die Grenzen Deutschlands bekannt" und damit "nicht von Schaden, sondern von Nutzenfür den Bezirk" (2) ist, gab es vom Bundeskriminalamt im Frühjahr immerhin 80.000 Mark Schadensersatz.

Auch eine zweite Durchsuchung des MehringHofs am 30. Mai brachte nicht das gewünschte Ergebnis. Diesmal rückte die Staatsmacht mit deutlich reduziertem Aufgebot, dafür aber mit High Tech an. Die BeamtInnen des Bundeskriminalamts wurden -erstmals in Deutschland von Tarek Mousli per Online-Videokonferenz aus dessen Versteck heraus ferngesteuert, doch auch diesmal nicht zu den richtigen Stellen. Ein beschlagnahmter blauer Müllsack, ein ausgesaugter Aufzugschacht und auch die von den Wänden genommenen Proben ergaben in den Wiesbadener Chemielabors keinerlei verwertbare Spuren, mußte die Bundesanwaltschaft Ende Juli eingestehen. Die Lagerung von

Sprengstoff wäre hingegen noch nach Jahren nachweisbar gewesen. (3)

Die angebliche Berliner RZ

Das nicht auffindbare Waffen- und Sprengstoffdepot betreut haben soll der am vierten Advent verhaftete 49jährige Axel Haug, einer der Hausmeister des Gebäudekomplexes MehringHof

Harald Göde (51) ist Mitarbeiter der dort ansässigen Forschungsgesellschaft Flucht und Migration (FFM). Den bei den wird wie Sabine E. "Mitgliedschaft in der terroristischen Vereinigung 'RZ'" (§ 129a StGB) vorgeworfen, konkret geht es um die bis in die neunziger Jahre aktive Berliner Revolutionäre Zelle. Der habe neben dem zum Kronzeugen mutierten Tarek Mousli zudem auch Rudolf Schindler angehört. Der 56jährige Frankfurter, Lebensgefährte von Sabine E., war bereits am 13. Oktober vergangenen Jahres verhaftet worden, und zwar aufgrund von Angaben eines anderen Kronzeugen, Hans-Joachim Klein. Dieser hatte bereits 1977 seine" Rückkehr in die Menschlichkeit" vollzogen, das bewahrte ihn aber nicht vor der Verhaftung im Herbst 1998 im französischen Exil und der Auslieferung nach Deutschland. Er behauptete, Rudolf Schindler habe ihn im RZ-Auftrag für den Anschlag auf die OPEC-Konferenz in Wien im Jahre 1975 angeworben. (4)

Während Hans-Joachim Klein aber laut Bundeskriminalamt nur über den Zeitraum bis 1977 aussagen mochte, plauderte Tarek Mousli anscheinend fast sechs Monate lang. Und nicht etwa nur über den Zeitraum bis Anfang der neunziger Jahre, als er sich nach der damals bekanntgewordenen Ermordung des ehemaligen RZ-Aktivisten und, laut Bundesanwaltschaft, seines" Ziehvaters ", Gerd Albartus - von den Revolutionären Zellen losgesagt haben will, sondern auch über alles, was er über linksradikale Zusammenhänge bis zu seiner Verhaftung am 23. November 1999 erfahren haben will. Inwieweit für Tarek Mousli, soweit es selbst begangene Straftaten betrifft, die Kronzeugenregelung anwendbar ist, bleibt abzuwarten. Im Gesetz heißt es jedenfalls, daß die nur gelte, "... wenn das Wissen über die Tatsachen bis zum 31.12.1999 offenbart worden ist". Die meisten seiner Aussagen hat Tarek Mousli aber erst nach diesem Datum gemacht.

Wie dem auch sei, die Kronzeugenaussagen führten im Frühjahr zu weiteren Festnahmen. Am 18. April wurde Matthias Borgmann als mutmaßlicher RZ-Angehöriger verhaftet. Der 51jährige, seit Jahren Leiter des Akademischen Auslandsamtes der Technischen Universität Berlin, wurde daraufhin von der TU-Leitung fristlos entlassen. Auch Lothar E., ebenfalls früher Hausmeister im MehringHof, soll Berliner RZ-Mitglied gewesen sein. Er wurde am 18. Mai im kanadischen Yellowknife, wo er eine Pension betreibt, von den dortigen Behörden auf grund eines Auslieferungsbegehrens der Bundesanwaltschaft festgenommen. Ende Juni wurde Lothar E. aber gegen Hinterlegung einer Kaution von umgerechnet fast 154.000 Mark aus der Haft entlassen. Das eigentliche Auslieferungsverfahren findet im Spätsommer statt. (5)

Axel Haug, Harald Göde, RudolfSchindler, Sabine E., Matthias Borgmann sowie Lothar E. sollen in den achtziger Jahren nach Angaben Tarek Mouslis, der im Jahre 1985 durch Gert Albartus rekrutiert worden sein will, mit ihm gemeinsam die Berliner Revolutionäre Zelle gebildet haben. Wobei noch unklar ist, ob er nicht noch weitere Personen beschuldigt hat, gegen die eventuell ebenfalls Haftbefehle bestehen, So hatte die Sprecherin der Bundesanwaltschaft, Eva Schübel, Ende des vergangenen Jahres gegenüber dem Focus behauptet, Tarek Mousli habe 50 Namen bisher unbekannter Mitglieder der Revolutionären Zellen/Roten Zora genannt. Über die "Mitgliedschaft in der terroristischen Vereinigung 'RZ'" hinaus wird den Betroffenen vor allem die Beteiligung an verschiedenen Anschlägen vorgeworfen. So sollen Harald Göde, Axel Haug, Rudolf Schindler und Sabine E. an den beiden "Knieschuß-Attentaten" auf Günter Korbmacher, Vorsitzender Richter des Bundesverwaltungsgerichts, am 1. September 1987 in West-Berlin und auf den Chef der West-Berliner Ausländerbehörde, Harald Hollenberg, am 28. Oktober 1986 mitgewirkt haben. Nach Aussagen seiner ehemaligen Lebensgefährtin hätte Tarek Mousli ihr erzählt, nicht nur mitgemacht, sondern auch selbst geschossen zu haben. Seinen eigenen Angaben der Bundesanwaltschaft gegenüber zufolge will er hier aber nur logistische Hilfe (Rückzugsplanung, Abhören des Polizeifunks) geleistet haben. Diese beiden Anschläge sind indes als "gefährliche Körperverletzung" bereits verjährt. Nicht aber diejenigen nach § 129a sowie wegen der Beteiligung an Sprengstoff anschlägen beziehungsweise des unerlaubten Besitzes von Sprengstoff;

Auch für den Sprengstoffanschlag auf die Zentrale SozialhilfesteIle für Asylbewerber (ZSA) in West-Berlin im Februar 1987 wurde Tarek Mousli von seiner Ex beschuldigt. Er hatte dem Vernehmen nach als Täterinnen hingegen zunächst Harald Göde, Rudolf Schindler und Sabine E. den Behörden gegenüber angegeben. Anfang des Jahres denunzierte er diesen Anschlag betreffend zudem Axel Haug, dessen Haftbefehl daraufhin am 4. Februar entsprechend erweitert wurde. Der sei außerdem am Sprengstoffanschlag auf die Berliner Siegessäule im Januar 1991 beteiligt gewesen. Und späteren Aussagen zufolge sollen auch Lothar E. und Matthias Borgmann, gegen die dann am 9. bzw. 17. März Haftbefehl erlassen wurde, an den Anschlägen auf die ZSA und die Siegessäule beteiligt gewesen sein.

Der Kronzeuge ist frei

Bei der zweiten Durchsuchung des MehringHofs am 30. Mai hatten noch (fast) alle gedacht, daß Tarek Mousli die BeamtInnen des Bundeskriminalamtes aus irgendeinem Knast irgendwo in Deutschland dirigierte. Ende Juni aber wurde bekannt, daß er bereits im April aus dem Gefängnis entlassen worden war und sich nun unter einer anderen Identität in einem Zeugenschutzprogramm befindet, das ihn auch finanziell absichert.

Die Freilassung des Kronzeugen, immerhin soll er der" Rädelsführer" der Berliner RZ gewesen sein, deutete die Verteidigung der von ihm Beschuldigten zunächst als positives Zeichen für eine Untersuchungshaftverschonung ihrer MandantInnen. Denn, so Silke Studzinsky, Anwältin von Harald Glöde, " das bedeutet doch, daß die Straferwartung selbst bei dem mutmaßlichen Rädelsführer Mousli nicht so hoch angesetzt ist". (6)

Doch am 4. August entschied der Bundesgerichtshof in Karlsruhe bei der, da Harald Göde, Axel Haug und Sabine E. nunmehr seit über sechs Monaten in Untersuchungshaft saßen, fälligen Entscheidung über die Fortdauer der UHaft, daß die drei weiter in den Knästen in Düsseldorf, Wuppertal und Frankfurt bleiben müssen. Darüber hinaus wurde die Haftbeschwerde von Matthias Borgmann (JVA Berlin- Moabit) verworfen. Begründet wurden diese Entscheidungen mit den Aussagen Tarek Mouslis sowie der angeblich bestehenden Fluchtgefahr.

Die Verteidigung, der bisher nur ein Teil der Ermittlungsakten zugänglich gemacht wurde, hatte - vergeblich - einen Verstoß gegen das Prinzip des fairen Verfahrens gerügt, weil der Kronzeuge monatelang von Bundeskriminalamt und Bundesanwaltschaft vernommen worden war, ohne daß die Verteidigung ihrerseits informiert wurde, anwesend sein oder gar den Zeugen selbst befragen konnte. Darüber hinaus sei erwiesen, daß Tarek Mousli im Rahmen seiner Befragungen teilweise umfangreiche Zusammenfassungen seiner eigenen Aussagen bekannt gegeben wurden. Zudem sei er auf Widersprüche innerhalb seiner Aussagen und Tatsachen aus den Ermittlungsakten, die im Widerspruch zu seinen Aussagen stehen, aufmerksam gemacht worden und habe über Monate hinweg die Gelegenheit gehabt, seine Aussagen auf diese Art und Weise nachzubessern. (Dies führte eben unter anderem zu der oben schon genannten Erweiterung des Haftbefehls gegen Harald Haug.) Damit konnte Tarek Mousli, ein möglicherweise tief in ein Tatgeschehen verwickelter Beschuldigter, nach freiem Belieben Tatbeteiligte und Tatbeiträge austauschen.

Auf alle diese Einwände ging der Bundesgerichtshof bei seiner Entscheidung am 4. August praktisch nicht ein. Sogar die Rüge von konkreten Widersprüchen wurde mit der lapidaren Bemerkung abgehandelt, daß Tarek Mousli "sich gleichwohl bei der Vielzahl der Beteiligten und Geschehnisse im Einzelfall geirrt haben kann ", was aber " seine Unglaubwürdigkeit nicht" belege.

Auch der Haftgrund "Fluchtgefahr" sei, so die Verteidigung, nicht zu rechtfertigen, denn die Beschuldigten lebten alle in stabilen Wohn- und Arbeitsverhältnissen. Bis auf eine Ausnahme (Verurteilung aus dem Jahre 1987) seien alle strafrechtlich unbelastet. Zudem hätten die Revolutionären Zellen sich vor mehreren Jahren aufgelöst. Besonders kritikwürdig sei, daß die Fluchtgefahr auch damit begründet wird, " daß die Auslieferung in solchen Fällen politisch motivierter Straftaten problematisch ist". Dies ergebe sich aus den Verfahren gegen Lothar E. in Kanada und zwei im Januar in Paris festgenommene angebliche west-deutsche RZ-AktivistInnen, die dort ebenfalls auf Kaution freigelassen wurden und zumindest derzeit nicht ausgeliefert werden. Damit werde, meint die Verteidigung, den in Deutschland befindlichen Beschuldigten praktisch zum Vorwurf gemacht, daß in anderen Staaten bei politisch motivierten Straftaten offensichtlich rechtsstaatlichere Maßstäbe gelten. (7)

Nach Angaben der Bundesanwaltschaft will sie im Herbst beim Kammergericht Berlin Anklage gegen die Beschuldigten erheben. Der Prozeß, mit dem die Bundesanwaltschaft nach Angaben ihrer Sprecherin Eva SchübeI "ausschließlich Geschichte" aufarbeiten will (8), würde dann voraussichtlich Anfang des Jahres 2001 beginnen.

Ob es einen -mit Tarek Mousli als Kronzeugen und Angeklagtem -oder zwei Prozesse geben wird, scheint hingegen noch unklar. Im Sommer gab es Hinweise, daß Tarek Mousli bald vor Gericht kommen könnte. Das wäre nach Auffassung von Wolf gang Kaleck, Rechtsanwalt von Matthias Borgmann, allerdings" hochproblematisch " (9). Denn dann würden diese Kronzeugenaussagen ohne ausführliche Beweisaufnahme hingenommen und legitimiert. Wie bei anderen § 129a-Verfahren könnten die dann in weiteren RZ-Verfahren durch Verlesung des Gerichts als bekannte Tatsachen eingeführt werden.

Beugehaft angedroht

Zwei mutmaßliche Angehörige einer anderen Revolutionären Zelle wurden am 16. Januar in Paris auf Ersuchen der Bundesanwaltschaft in Auslieferungshaft genommen. Sonja Suder, inzwischen 67 Jahre alt, und Christian Gauger (58) sollen 1977 an zwei Sprengstoffanschlägen gegen die Firmen MAN in Nürnberg und Klein, Schanzlin & Becker in FrankenthaI, die beide Atomkraftwerksausrüstung in alle Welt lieferten, beteiligt gewesen sein, außerdem am Brandschlag im Jahre 1978 auf das Heidelberger Schloß. Nach den Aussagen Hans-Joachim Kleins soll Sonja Suder außerdem 1975 Unterstützung für den Überfall auf die OPEC-Konferenz in Wien geleistet haben.

Ende März befand ein Pariser Gericht, daß die von den deutschen Behörden wegen der drei genannten Anschläge eingereichten Unterlagen nicht ausreichend seien und erteilte Sonja Suder und ChristianGauger gegen eine vergleichsweise geringe Kaution von umgerechnet 3.000 Mark Haftverschonung.

Durch die Festnahmen in Paris wurde Werner R. aus Hagen quasi über Nacht zum Objekt bundesdeutscher Terroristenfahndung. Denn tags darauf, am 17. Januar, durchsuchten BeamtInnen des Bundeskriminalamtes und des Staatsschutzes zur ungewöhnlichen Uhrzeit 20 Uhr 30 seine Wohngemeinschaft, in der er seit 20 Jahren lebt, und danach in Haspe das Atelier der KünstlerInnengruppe Kooperative K., deren Mitglied er ist. Sonja Suder und Christian Gauger sollen nämlich in Frankreich unter falschem Namen gelebt haben, Christian G. seit mehreren Jahren mit der Identität eines Schweizer Staatsbürgers, und zwar unter dem Namen von Werner R.

In der Wohngemeinschaft wurden zunächst eine Mitbewohnerin und eine Besucherin an die Wand gestellt, nach Waffen durchsucht und nach dem Aufenthaltsort von Werner R. gefragt. Daraufuin wurde das Atelier der Kooperative K. in Haspe mit gezogenen Waffen gestürmt. Nach der Atelierdurchsuchung fuhren die BeamtIn nen mit ihm in die Wohngemeinschaft und durchsuchten auch die privaten Räume der MitbewohnerInnen. Vier Stunden lang stellten 15 BeamtInnen alles auf den Kopf.

Die anfängliche Nervosität und Aufgeregtheit der BeamtInnen legte sich während der Durchsuchung zusehends. Dies änderte sich allerdings wieder, als sie darauf stießen, daß Werner R. neben der deutschen auch die schweizer Staatsangehörigkeit - seine Mutter ist Schweizerin besitzt. Bei der Durchsuchung war allerdings der schweizer Paß, den er seit 1992 besitzt und bei seinen persönlichen Unterlagen wähnte, nicht aufzufinden. Er hatte den Verlust nicht bemerkt, da er ihn nur selten nutzte. Daraufhin begann eine akribische Durchleuchtung seiner Lebensverhältnisse (Quittungen, Rechnungen, Kontoauszüge), Liebesbeziehungen (Briefe, Fotos) und politischen Aktivitäten. Beschlagnahmt wurden zum Beispiel Briefe aus Nicaragua von seinem Aufenthalt dort 1984 sowie ein nicht abgeschickter Brief an eine frühere Freundin, die 1989 verhaftet wurde und für das BKA zum "terroristischen Umfeld" zählt.

Nach der Durchsuchung, um etwa 0 Uhr 30, ging es dann ins Hagener Polizeipräsidium zur weiteren Befragung als "Zeuge". Hier wurde Werner R. unter anderem nach seinen Kontakten zur " linken Szene " befragt. Später nutztendie BKABeamten den Begriff "terroristische Szene". Werner R. gab an, zu der Frau, an die er 1989 hatte schreiben wollen, Anfang der 80er Jahre freundschaftlichen Kontakt gehabt zu haben. Außerdem kenne er aus seiner Jugendzeit (ein Kneipenkontakt im Alter von 16 Jahren) einen Menschen, der später wegen Mitgliedschaft in der Bewegung 2. Juni verurteilt wurde und kurze Zeit in der Hagener Justizvollzugsanstalt einsaß. Diesem hatte er schriftlich angeboten, Bücher zu schicken, die der aber nicht brauchte. Und zu guter letzt wohnte Werner R. 1975 in einer Kölner Wohngemeinschaft, in der für zwei Wochen auch Rechtsanwalt Klaus Croissant wohnte, der damals in Düsseldorf verteidigte. Die Vernehmung dauerte bis etwa 2 Uhr 30.

Bei der erneuten Befragung am Morgen des gleichen Tages eröffneten die Beamten Werner R., daß sie seine Angabe, sich das Verschwinden des Passes nicht erklären zu können, für nicht glaubwürdig hielten, weil er so "zahlreiche Kontakte" zu "terroristischen Personen" habe. Es wurde ihm gedroht, daß er zwar noch Zeuge sei, sich das aber schnell ändern könne. Es war also damit rechnen, daß ihm unterstellt würde, er hätte den Paß zur Verfügung gestellt und sich damit der -sehr dehnbaren -"Unterstützung einer terroristischen Vereinigung" verdächtig gemacht. Damit wäre er nicht mehr nur Zeuge, sondern gleichzeitig Verdächtiger, also "tatverdächtiger Zeuge".

Daraufhin verweigerte Werner R. weitere Aussagen. Einer Ladung zur polizeilichen Vernehmung einige Tage später kam er nicht nach. Der Vorladung der Staatsanwaltschaft Frankfurt/Main im März folgte er in Begleitung seiner Anwältin, um dort die Aussage zu verweigern, was ihm als Verdächtigen zusteht.

Die Staatsanwaltschaft Frankfurt versuchte anschließend, mit der Verhängung von 1.000 Mark Zwangsgeld weitere Aussagen zu erzwingen. Nach erneuter Vorladung zur Staatsanwaltschaft Frankfurt am 16. Mai beantragte der Staatsanwalt beim Amtsgericht Frankfurt Beugehaft. (10) Das lehnte den Antrag als "unverhältnismäßig" ab, denn Werner R. habe zu Recht sein Aussageverweigerungsrecht in Anspruch genommen. Allerdings hob dann das Landgericht diesen Beschluß auf und ordnete Beugehaft an.

Nachdem Werner R. monatelang damit rechnen mußte, jederzeit fest- und in Beugehaft genommen zu werden, gab wundersamerweise das Bundesverfassungsgericht am 22. August der durch Rechtsanwältin Anne Mayer erstellten Verfassungsbeschwerde statt. Es hob damit unanfechtbar -den Beschluß des Landgerichts Frankfurt auf, weil der gegen Artikel 2 Absatz 2

(Die Freiheit der Person ist unverletzlich) und Artikel 104, nach dem es eine rechtliche Grundlage für den Freiheitsentzug geben muß, des Grundgesetzes verstoße. Ob und, wenn ja, wie diese Verdächtigungen Werner R.s weiter verfolgt werden, ist unklar. (11)

Anna und Arthur haben Angst

Mit der hehren Forderungen nach Aussageverweigerung bei Polizei (deren Vorladungen können folgenlos ignoriert werden) und Staatsanwaltschaft ist es in den letzten Jahren indes zunehmend weniger weit her. Denn die Entscheidung, die letztendlich auf bis zu sechs Monate Beugehaft hinauslaufen kann, ist ja im Ernstfall keine theoretische mehr, sondern bedarf neben der in Diskussionen gewonnenen bzw. bestärkten "politischen Klarheit' derjenigen, die sie letztendlich zu vertreten haben, gerade eines starken freundschaftlichen und "privaten" wie auch solidarischen politischen Rückhalts der Betroffenen -insbesondere, wenn sie in den Knast gehen. (12)

Und doch, "Anna und Arthur halten's Maul", diese -auf grund der desaströsen Erfahrungen nach den katastrophalen und in zwei Fällen tödlichen Schüssen auf Polizisten an der Startbahn West im Jahre 1987 entwickelte - platte Parole stimmt heute weniger dennje. Das belegen zahlreiche Erfahrungen auch in anderen Ermittlungsverfahren der letzten Jahre, da bedarf es keines § I 29a-Vorwurfs.

Denn "Anna und Arthur leben jetzt im Jahr 2000, in einer anderen persönlichen und politischen Situation. Anna und Arthur haben Angst und hatten schon immer Angst. Anna undArthur fragen sich nach dem Preis, nach den Auswirkungenfür ihr ganz persönliches Leben und sie fragen sich, ob der Preis vielleicht nicht viel zu hoch ist." (13)

Statt, wie zumeist üblich, die Augen zu verschließen, wendet sich die Berliner ZeugInnengruppe auch an diejenigen, die Fragen, Unsicherheiten und Ängste weder allein noch gemeinsam mit anderen klären konnten:" Was also tun, wenn Fehler passieren, wenn es Menschen nicht schaffen, die Aussage zu verweigern, wenn sich verquatscht oder wenn die Situation falsch eingeschätzt worden ist? Hier können wir nur appelieren: Egal, was passiert ist, egal, wie eine eventuelle Aussage ausgesehen hat, bleibt nicht allein damit. Redet darüber, teilt es den AnwältInnen mit. Redet mit euren FreundInnen und GenossInnen darüber. laßt es nicht zu, daß sich eine Atmosphäre der Unsicherheit und des Mißtrauen breit macht. Schlimmer als nach den Aussagen von Tarek Mousli kann es nicht werden. Es liegt an allen zusammen, ob wir die Atmosphäre so bestimmen, daß auch für Fehler und andere Herangehensweisen genug Platz ist." (14)

Die Aussagen des Kronzeugen Tarek Mousli füllen eine hohe dreisteIlige Zahl von Seiten. Darin enthalten -immerhin geht es um einen Zeitraum von mehr als zwanzig Jahren - ist eine unbekannte Zahl von Namen ehemaliger oder auch noch heutiger AktivistInnen, von denen bestimmt ein ganzer Teil gar nicht mehr in Berlin wohnt. Allerdings lassen die in Berlin befürchteten massenhaften Vorladungen von "zeugen" oder Verdächtigen noch auf sich warten.(I5)

Die Berliner Zeuginnengruppe stellt Fragen zur Solidaritätsarbeit, die sonst oft unter den Tisch fallen: " Was macht das mit den Leuten, die damit rechnen müssen, daß vielleicht ein wichtiger Zeitraum ihres politischen Werdegangs transparent gemacht werden soll? Wer von uns allen würde schon gerne aus Bullenakten erfahren, wie erdachte oder stattgefundene Kontakte oder Konflikte, Freund- oder Feindschaften, geliebte Beziehungen oder lieber Vergessenes in märchenhaften Ausschweifungen vor der BA W halluziniert wird? (..) Wie stark ist die Wut, die Ohnmacht, aber auch die sehr ernstzunehmende Traurigkeit und Enttäuschung, die eigene Geschichte sowohl im persönlichen wie politischen Kontext herabgespielt, verzerrt, lächerlich gemacht und vor allem kriminalisiert verewigt zu wissen?

Es wird diejenigen geben, die nach dem anfänglichen Schock, Schrecken und natürlich auch Ängsten, den eigenen Namen in den Akten zu

wissen, ihren Vertrauten gegenüber Befürchtungen und Wut äußern können, denen es dank eines intakten sozialen Rahmens auf der Arbeit, im Freundinnenkreis, in der Familie und vielleicht im politischen Zusammenhang gelingt, sich gut darauf vorzubereiten, daß 'da noch was kommen könnte '. Denen es also eigentlich doch ganz gut geht, weil es welche gibt, die über alle Differenzen hinweg zu ihnen halten und wissen, wie sie Nähe ausdrücken können.

Was ist mit denjenigen, die sich entweder auf eine andere Entwicklung ihres Lebens konzentriert haben, die woanders oder eben nicht mehr politisch engagiert sind und denen es vielleicht an Leuten mangelt, mit denen sie nochmal- mit der nötigen Offenheit -gedanklich in ihre Geschichte in den 80ern und beginnenden 90ern zurücktauchen können? Oder denen, die sagen, sie hatten ihre Gründe, aus 'unserer Politik' auszusteigen, vielleicht zurecht? Und wie gehen diejenigen, die aufgrund ihres Alters gar keinen Bezugzu 'damals' haben, mit Gerüchten um, mit der verständlichen Neugier, die nicht an den Grenzen der Stadt halt macht?" (16)

Und die, gelinde gesagt, " unschönen Erfahrungen" mit Verfahren der Vergangenheit sprächen klar dafür, daß das Informationsbedürfnis der Szene über den offiziellen Stand der Ermittlungen der Gegenseite berechtigt ist. Genauso wie die ZeugInnengruppe das "spürbare Interesse an alten Texten der RZ und Roten Zorafür die Diskussionen über das 'wie' unserer Organisationsformen und Aktionsebenen zur Umsetzung bisheriger oder zukünftiger Utopien" gutheißt.

Während die Beschuldigten im RZ-Ermittlungsverfahren und ihre AnwältInnen eine "offene Solidaritätsarbeit" aber klar ablehnen, fordert die ZeugInnengruppe UnterstützerInnengruppen und dabei vor allem diejenigen Leute, die auf grund ihres Einblicks in das Verfahren kompetent sind, auf, der" Gerüchteküche durch klare Informationen entgegen[zu)treten. Das war und ist bis heute bei komplexen Verfahren sowohl nötig, wie es auch eine schwierige Aufgabe ist. " Das würde verhindern, daß Solidaritätsarbeit zur "drögen Antirepressionspolitik" degeneriert, die um die Gefangenen rotiert, Kohle sammelt oder Beratungstätigkeiten organisiert und trägt. Wie auch bei anderen § 129a- Verfahren lasse sich die politische Solidarität nicht auf ein Thema reduzieren " wie es blödsinnig wäre, sich ausschließlich an den Fehlern von RZ und Roter Zora oder an womöglichen autoritären Strukturen eines mythosbeladenen militanten Zusammenhangs abzuarbeiten". (17)

Willi Leow

Weitere Informationen:

Zitronenfalter -Die Nummer 3 der vom Berliner Bündnis für Freilassung herausgegebenen Zeitung müßte im Herbst erscheinen und wird dann im Infoladen Bremen, St.-Pauli-Straße 10/12, erhältlich sein.

www.freilassung.de -Die gut gepflegte und immer aktuelle Homepage des Berliner Bündnisses für Freilassung enthält hauptsächlich Informationen zu den Ermittlungsverfahren gegen die am 19. Dezember festgenommenen Axel Haug, Harald Göde und Sabine E.

Anmerkungen:

(1) Aber auch danach fanden noch weitere Anschläge im Namen der RZ bzw. der Roten Zo,a statt. Die Roten Zora bekannten sich letztmals im Juli 1995, und zwar zu einem Anschlag auf die LUrssen-Werft in Lemwerder bei Bremen: vgl. kassiber 27, Oktober 1995, S. 28ft".

(2) Resolution der Fraktion der SPD in d~r Bezirksverordnetenversammlung Kreuzberg von Berlin vom 3.1.2000.

(3) Pressemitteilung des Berliner Bündnisses fnr Freilassung vom 25.7.2000.

(4) Vgl. kassiber 42, Juli 2000, S. 53fT.

(5) die Tageszeitung (Berlin-Ausgabe) vom 20.6.2000. (6) Zitiert nach: Tagesspiegel vom 4.7.2000.

(7) Presseerklärung der Verteidigung in den RZ-Verfahren vom 17.8.2000.

(8) Frankfurter Rundschau vom 16.6.2000.

(9) die Tageszeitung vom 1.7.2000.

(10) Brief der Freundinnen und Freunde Wemer R.s vom 20.6.2000. Kontakt: Quadrux-Buchladen, Lange Straße 21,58089 Hagen, Tel/Fax: 02331/334058. (11) Frankfurter Rundschau vom 25.8.2000 sowie Brief der Freundinnen und Freunde Wemer R.s vom 23.8.2000.

(12) Vgl. das kassiber-Interview mit Ulf B., der im "radikal-Verfahren" fünf Monate in Beugehaft gesessen hat, in: kassiber 28, Februar 1996, S. 38ft".

(13) Zitiert nach: Und was wir noch zu sagen haiten, dauert keine Zigarette ...(Beitrag zur Zeugenveranstaltung am 6. April 2000 im SO 36, Berlin).

(14) Ebd.

(15) Aus den Ermittlungsakten gegen angebliche "Führungskader" "Autonomer Gruppen", die in den Jahren 1996 und 1997 Hakenkrallen-Anschläge gegen die Deutsche Bahn AG begangen haben sollen, wurde bekannt, daß "eine Beschuldigte einem Personenkreis zugerechnet wird: der für die finanzielle Koordination der linksextremistischen Szene in Berlin verantwortlich ist". Auch soll die Frau "sowohl an der Herstellung der bis zum Jahre 1984 offen erstellten 'radikal' als in der Folgezeit an der verdeckt erstellen 'radikal' beteiligt" gewesen sein. Wahrscheinlich stammen diese Angaben von Tarek Mousli, denn er hatte auch von Axel Haug behauptet, daß der diesem "Koordinierungsausschuß" angehöre..

(16) Zitiert nach: Berliner Impressionen (Beitrag zur :zeugenveranstaltung am 6. April 2000 im SO 36, Berlin).

(17) Zitate in diesem Absatz: ebd.

MAIL
http://www.freilassung.de/div/texte/rz/Kass43_112000.htm