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Diverses

Buch-Titel VSA-Verlag, Stresemannstr. 384a, 2000 Hamburg 50, ISBN 3-87975-576-0


Handelsgeschäfte mit der "Wahrheit"

Kronzeugen als Sonder- Beweismittel der Anklage

"Ich bin ... ein entschiedener Gegner der Kronzeugenlösung, weil ich sie für eine ganz unnötige Kapitulation des Rechtsstaates halte." Der das im Jahre 1976 bekannte, war niemand "Geringerer" als der wenig später von Mitgliedern der RAF ermordete oberste Ankläger der Republik, Generalbundesanwalt Siegfried Buback. Dreizehn Jahre nach diesem Bekenntnis, im Jahre 1989, ist die "Kronzeugenregelung bei terroristischen Straftaten" nach mehrmaligen Anläufen erstmals, wenn auch nur befristet bis 1992, als Gesetz eingeführt worden. Eine "ganz unnötige Kapitulation des Rechtsstaates" oder etwa eine mittlerweile "nötig" gewordene Kapitulation?

Gesetzlose "Kronzeugen"- Produktion in der Praxis

Siegfried Buback hatte seine Bedenken gegen eine solche gesetzliche Regelung seinerzeit mit rhetorischen Fragen zur Figur des Kronzeugen in einem Rechtsstaat untermauert: ". was machen wir zum Beispiel hinterher mit den Leuten? Wir müßten ihnen eine neue Identität geben und sie schützen. Aber mich stört vor allem die Durchbrechung des Rechtsstaatsprinzips und des Gleichheitssatzes. Sollen wir denn von zwei Mördern einen laufen lassen, nur weil er sagt, der andere war auch dabei?"

Trotz dieser verbalen Abneigung Bubacks gegen eine gesetzliche Kronzeugenlösung entwickelten er und sein Nachfolger Kurt Rebmann unter dem Motto "In der Praxis finden wir da immer einen Weg" (Buback) eben diese Lösung und praktizierten sie ohne jede rechtliche Grundlage fast zwanzig Jahre lang: Karl-Heinz Ruhland, Dierk Hoff, Gerhard Müller, Peter K., Volker Speitel, Hans-Joachim Dellwo, Jürgen Bodeux, Reiner Hochstein, Heinz B. und Hans B. sind die bekanntesten Resultate dieser gesetzlosen staatlichen Kronzeugenproduktion der letzten zwei Jahrzehnte.13

Es handelt sich bei diesen gekürten Zeugen der Anklage, oder, wie sie auch genannt werden, "Kronzeugen ohne Titel" ausschließlich um Mittäter aus den jeweiligen bewaffneten Gruppen, denen nach ihrer Festnahme in aller Regel, unter Ausnutzung der Sonderhaftbedingungen mehr oder weniger offene Versprechungen hinsichtlich ihres eigenen Strafverfahrens gemacht wurden - sofern sie sich bereit erklärten, über ihre ehemaligen Mitkämpfer "auszupacken". So wurde etwa dem "Kronzeugen" Hoff von der Bundesanwaltschaft bedeutet, er könne "auf die Milde des Gerichts bauen", obwohl die Staatsanwaltschaft mit einer "Zusage" massiv in die Unabhängigkeit der Gerichte eingreift; anderen wurden darüber hinaus finanzielle Leistungen im Zusammenhang mit einer Existenz- Neugründung versprochen - Methoden, die nach § 136a StPO - hier: "Versprechen eines gesetzlich nicht vorgesehen Vorteils" - verboten sind. Aber selbst mit dem bloßen Versprechen eines "fairen Verfahrens", also einer rechtsstaatlichen Selbstverständlichkeit, konnten "Kronzeugen" schon gewonnen werden. Daß ein derartiger Handel überhaupt möglich ist, erklärt sich aus der bitteren Erfahrung, daß in "Terrorismus"- Prozessen dieses strafprozessuale Prinzip des "fair trial" ansonsten längst suspendiert ist - und das erst recht, wenn ein zum "Kronzeugen" auserkorener Häftling die Kollaboration mit der Staatsgewalt verweigert. In diesem Fall wird dem Betroffenen von den Ermittlern meist recht unverblümt mit einer schwerwiegenden Anklage, häufig mit einer Mord(versuchs)- Anklage gedroht.

Für die Strafermittlungsbehörden, allen voran die Bundesanwaltschaft und das Bundeskriminalamt, war und ist die "Kronzeugen"- Produktion, neben der Strategie per "Kollektivitätsthese" und "Offenkundigkeit", ein wesentliches Mittel, um den chronischen Beweisnotstand in bezug auf die Mitglieder bewaffneter Gruppen zu überwinden. Daher genügt es den Ermittlungsbehörden bei weitem nicht, wenn ein Delinquent lediglich dem bewaffneten Kampf entsagt und zum Aussteiger wird wie beispielsweise das Ex- RAF-Mitglied Peter-Jürgen Boock. Wesentlich ist ihnen vielmehr der umfassende Verrat, der als Beweis für die Aufrichtigkeit des Betroffenen gewertet wird.

Diese Einstellung moderner Strafverfolgungsorgane in einem "freiheitlich- demokratischen Rechtsstaat" muß eigentlich befremden, zumal die Figur des "Kron" - Zeugen unschwer als Element eines vordemokratischen, monarchistischen Straf(prozeß)rechts auszumachen ist. Deshalb möchten ihn manche auch zum "Staatszeugen" transmutieren. Doch wie auch immer die Titulierung ausfallen mag, die charakteristischen Wesensmerkmale solcher "Zeugen" haben eine noch wesentlich ältere undemokratische und freiheitsfeindliche Tradition, die bis zum lnquisitionsprozeß des Mittelalters zurückreicht. Der amerikanische Gelehrte Henry Charles Lea hat dazu in seiner großen Untersuchung zur Geschichte der Inquisition festgestellt, daß das Geständnis eines Ketzers "in der Regel von dem Bekenntnisse der Bekehrung und Reue begleitet" sein mußte. Dies allein genügte jedoch nicht, "sondern der Neubekehrte war auch verpflichtet, seine Aufrichtigkeit dadurch zu beweisen, daß er alle, von denen er wußte oder vermutete, daß sie Ketzer seien, dem Inquisition anzeigte und so der Verfolgung neue Bahnen eröffnete." Andernfalls "könnte der Bußfertige keine Vergebung und Gnade erhoffen; denn die Weigerung, seine Verwandten und Freunde zu verraten, galt als ein Beweis, daß er im Herzen keine Reue empfinde, und so blieb nichts anderes übrig, als ihn dem weltlichen Arme auszuliefern, genau dem römischen Rechte entsprechend, das einen bekehrten Manichäer, der noch mit ehemaligen Glaubensgenossen verkehrte, ohne sie der Behörde anzuzeigen, mit dem Tode bestrafte."

Jahrhunderte später erging es im Rechtsstaat Bundesrepublik dem geständigen RAF-Aussteiger Peter-Jürgen Boock, der sich weigerte, seine ehemaligen Genossen der Staatsgewalt auszuliefern, nicht viel besser: Er wurde zunächst zu dreimal lebenslänglicher Freiheitsstrafe verurteilt, die später reduziert wurde auf einmal Lebenslänglich. Als "Kronzeuge" wäre er mit einiger Sicherheit des Denunziantenprivilegs teilhaftig geworden und möglicherweise mit ein paar Jahren davongekommen, im übrigen, als Schutz vor der Rache seiner früheren Mitkämpfer, wahrscheinlich mit einer neuen Identität und obendrein mit staatlichem Salär ausgestattet worden ganz nach mittelalterlichem Vorbild, demzufolge denjenigen, die freiwillig vortraten, um ihren Eifer durch Geständnis und Verrat kundzutun, "nicht nur verziehen, sondern auch ihr Lebensunterhalt von den Fürsten und Prälaten sichergestellt" wurde: Die Denunziationen von Ketzern waren für den Inquisitor "so unerläßlich, daß man sie nicht nur durch Bestrafungen (etwa Folterungen, Isolation; R.G.), sondern auch durch Belohnungen herbeizuführen suchte", berichtet Lea.

Gerichtliche Mittäterschaft

Zurück in die Bundesrepublik Deutschland des 20. Jahrhunderts: Die erfolgreich zu Verrätern gemachten "Kronzeugen" tauchten in einer Vielzahl jener großen "Terrorismus- Verfahren" ( auf, in denen es zumeist um Lebenslänglich ging - als Handlungsreisende in Sachen Verrat, als Ermittlungsgehilfen der Staatsgewalt, zu ihrem eigenen Schutz mehr oder weniger verfremdet und getarnt. Häufig wurden gar aus "Sicherheitsgründen" (wegen angeblicher "Gefährdung" der Zeugen) oder wegen "Unerreichbarkeit" (Aufenthaltsort angeblich den Ermittlungsbehörden unbekannt) lediglich die polizeilichen Aussagen der "Kronzeugen" vor Gericht verlesen bzw. die Verhörpersonen der Polizei und Staatsanwaltschaft als "Zeugen vom Hörensagen" vernommen (s. dazu das vorangegangene Kapitel). Trotz der naheliegenden Überlegung, daß bei solchen Zeugen der Anreiz besonders hoch sein muß, andere, möglicherweise auch Unschuldige schwer, ja bewußt falsch zu belasten, um selbst mit heuer Haut davonzukommen, spielten die Gerichte dieses ungesetzliche Spiel weitgehend mit, obwohl sich alle "Kronzeugen" im Verlaufe ihrer zahlreichen Aussagen in erhebliche Widersprüche verwickelten. Und so kam es, daß diese regelmäßig selbst straffällig gewordenen "Kronzeugen ohne Titel" für ihre belastenden Aussagen gegen ehemalige Genossen, trotz schwerer Tatvorwürfe, erheblichen Strafrabatt erhielten, zudem frühzeitig begnadigt wurden und anschließend mit neuer Identität (neuer Name, Lebenslauf, Paß) und einer Menge Geld zur Gründung einer neuer Existenz ausgestattet wurden. Dem "Kronzeugen" Gerhard Müller wurde für seinen Verrat sogar ein Polizistenmord "geschenkt". Auf der anderen Seite wurden jene umso schwerer bestraft, meist mit lebenslänglicher Freiheitsstrafe, die von den "Kronzeugen" in fragwürdigen Prozessen entsprechend belastet worden waren.

"Kronzeugen" ohne gesetzliche Grundlage gab es nicht nur in den Kern- Verfahren gegen Mitglieder der RAF oder der "Bewegung 2. Juni", sondern auch in kleineren und unbekannteren "Terrorismus"- Prozessen: in Verfahren gegen Mitglieder der "Revolutionären Zellen" und anderer Gruppen, die zu "terroristischen Vereinigungen" deklariert wurden, aber auch gegen bloße Unterstützer, Werber, "Sympathisanten". So beklagte sich beispielsweise der "Kronzeuge" Volker Speitel in einem Interview über die Bundesanwaltschaft: "Einige meiner Aussagen, speziell in ganz winzigen Verfahren gegen Sympathisanten, sind dazu benutzt worden, um daraus abenteuerliche Anklagen zu konstruieren". So wurde etwa der Arzt Karl Heinrich A. aufgrund verfälscht wiedergegebener Aussagen Speitels und Dellwos angeklagt. Das Gericht lehnte die Eröffnung des Verfahrens nach einer kritischen Überprüfung der Anklage ab eine gerichtliche Kontrollpraxis, die jedoch nicht allen Angeklagten zuteil wird.

Fallbeispiele: Zur Glaubwürdigkeit von "Kronzeugen"

Ungeachtet des Wahrheitsgehalts ihrer Aussagen erfüllen "Kronzeugen" den Behörden nicht selten den Traum, groß angelegte Ermittlungen nach § 129a Strafgesetzbuch durchführen zu können. Oder sie liefern nachträglich die Rechtfertigung für solches Tun. Dafür einige Beispiele abseits der "Terrorismus"- Großverfahren, Beispiele, die zeigen, in welchen Abhängigkeitsverhältnissen sich solche Zeugen der Anklage befinden, unter welchem Druck sie ihre Aussagen machen, wie es also um ihre Glaubwürdigkeit bestellt ist und welche Kriminalisierungsfolgen sie damit heraufbeschwören:

Die Ergebnisse umfangreicher Ermittlungen über ein terroristisches Phantom namens "Antifa- Gruppe" in Wuppertal füllten nach über vierjährigen exzessiven Observationen, Telefon- Abhöraktionen, Postkontrollen, Hausdurchsuchungen,

Beschlagnahmen von Adressenmaterial, Kalendern, Briefen und Tagebüchern schließlich insgesamt 150.000 Seiten. Dieses gesammelte Ermittlungsmaterial wurde 1984 zu einer knapp 300 Seiten starken Anklageschrift gegen neun Personen eingedampft. Ihnen wurde darin vorgeworfen, Parolen gesprüht ("Feuer + Flamme für diesen Staat", "Staat verschwinde"), Plakate geklebt, Fensterscheiben von Banken und Kaufhäusern zertrümmert und Brandanschläge verübt zu haben, und zwar organisiert in der "Terroristischen Vereinigung Antifa-Gruppe".

Das Oberlandesgericht Düsseldorf weigerte sich zunächst, ungeachtet dieser staatsanwaltschaftlichen Fleißarbeit, die 129a- Anklage zuzulassen - mangels "fester Gruppenbindung" und "organisierter Willensbildung" in jener "Antifa-Gruppe" - Voraussetzungen, wie sie für eine § 129a- Anklage eigentlich gegeben sein müßten. Ein Beschluß des Bundesgerichtshofs führte aber 1987 schließlich doch noch zur Eröffnung des Gerichtsverfahrens. In der Zwischenzeit hatte nämlich die Generalstaatsanwaltschaft einen "Kronzeugen" aus dem Hut gezaubert, der die Existenz einer "terroristischen Vereinigung", denen die Angeklagten angeblich angehört haben sollen, behauptet hatte. "Aus Sicherheitsgründen", so die Anklagebehörde, körine dieser Zeuge zwar nicht vor Gericht erscheinen, aber seine Vernehmungsprotokolle könnten ja im Verfahren zum Beweis verlesen werden.

Dieser "Kronzeuge" war, so stellte sich erst später aufgrund privater Nachforschungen heraus, einer der Angeklagten: Günter P. Da ihm bereits eine Haftstrafe wegen Haschisch- Schmuggels drohte, hatte er - wie er später m einem Widerruf seiner Aussagen zugab - "aus panischer Angst vor dem Knast" die belastenden Aussagen gegen die Angeklagten weitgehend frei erfunden. Andere Beweise, die individuelle Tatbeiträge der als "Terroristen" angeklagten Personen hätten belegen können, gab es nicht, und so fiel die Anklagekonstruktion in sich zusammen. Das Verfahren endete am 4. November 1987 nach fast achtjährigen intensiven "Terrorismus"- Ermittlungen folgerichtig mit Freisprüchen.

Zu fragen bleibt, was wohl passiert wäre, wenn der Plan der Generalstaatsanwaltschaft aufgegangen wäre: Der "Kronzeuge" wäre unbekannt geblieben, wegen "Unerreichbarkeit" (er hielt sich zunächst im Ausland auf) nicht vor Gericht erschienen und daher nicht als Mitangeklagter identifiziert worden; seine Glaubwürdigkeit und der Wahrheitsgehalt seiner Aussagen hätten folglich nicht überprüft werden können. Stattdessen wären seine belastenden Aussagen aus den Vernehmungsprotokollen vor Gericht verlesen worden, und die Vernehmungsbeamten hätten als "Zeugen vom Hörensagen" diese Aussagen bestätigt und die "Glaubwürdigkeit" des "Kronzeugen" attestiert. Eine Verurteilung aufgrund von Indizien und auf der Basis dieser "Zeugenaussage" wäre möglich geworden.

Aufgrund der Aussagen des "Kronzeugen" Walter L. gegenüber der Bundesanwaltschaft wurden 1981 über fünfzig Personen beschuldigt, die "terroristische Vereinigung 'Schwarzer Block' ", eine angebliche "autonome Gruppierung mit anarchistischer Zielsetzung", in und um Frankfurt gebildet zu haben und für bislang unaufgeklärte Anschläge im Rhein- Main- Gebiet verantwortlich zu sein. Gegen sechs Personen wurde Haftbefehl erlassen. Nach diversen Razzien zog der Hauptbelastungszeuge die Aussagen gegen seine ehemaligen Gesinnungsgenossen jedoch zurück: Sie seien falsch und "nur unter Druck gemacht" worden; ihm sei für "gute Aussagen" Straffreiheit zugesichert worden, außerdem habe er bei den Polizei- Verhören Prügel bezogen. "Da hab ich nur noch ja, ja gesagt, scheißegal, was protokolliert wurde."

Noch ein anderer "Kronzeuge" fühlte sich zu "massig falschen Aussagen" animiert: Karl-Peter Pl., alias Jörg Paulus, der als "Randfigur der RAF- Szene" galt. Er hatte sich dem Bundeskriminalamt mit Informationen angedient und Internas aus dem Untergrund geliefert. Ihm selbst warf die Bundesanwaltschaft "Unterstützung einer terroristischen Vereinigung" vor; ein BAW- Vertreter stellte ihm jedoch als Gegenleistung für seine Informationen Strafmilderung in Aussicht. Und es kam noch besser: Das BKA bezahlte für die Dauer der Vernehmungen Kost und Logis in einem Hotel, dem Zeugen wurde eine neue Identität versprochen, ja sogar von einer Gesichtsoperation soll die Rede gewesen sein. Plein wurde amtlich für tot erklärt, und damit stand einer neuen Identität nichts mehr im Wege. Der amtlich gefälschte Ausweis lautete auf den Namen Jörg Paulus und auf diesen Namen liefen auch die regelmäßigen Zahlungen des BKA ein, die sich nach Pl's Angaben auf über 30.000 DM summierten.

Nach drei Monaten Informationsfluß gab Pl. gegenüber dem Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" zu, daß er bei den polizeilichen Vernehmungen, da wo er nicht mit Fakten dienen konnte, "frei erfunden" habe. So habe er etwa zwei Bekannte als Angehörige der "Revolutionären Zellen" denunziert: "Alles war bis ins Detail erlogen. Ich weiß heute noch nicht, warum ich die beiden als angebliche RZ- Mitglieder belastet habe. Ich war in einem schlimmen Tief." Wie er in dieses Tief gerutscht war, schilderte P. in knappen Worten so: Obwohl er sich "Tag für Tag beschissener fühlte in meiner Haut als Verräter" habe er sich von den Verhörspezialisten "total abhängig" gefühlt; er hatte "Angst, daß die mich fallenlassen" und wollte deshalb "immer irgendwie eine Leistung bringen".

Dieser Leistungsdruck aufgrund von existentieller Abhängigkeit, aufgrund des ureigenen Interesses, möglichst ungeschoren aus dem eigenen Verfahren herauszukommen und die Vorteile des Verrats zu erlangen, ist charakteristisch für die "Kronzeugen"- Rolle. Jene, die sich hierauf einlassen, werden letztlich für Staatsinteressen instrumentalisiert, sie werden zu Objekten staatlichen Handelns und Inszenierens degradiert.

Belastende Aussagen des ehemaligen, im Gefängnis "anpolitisierten" Strafgefangenen Dirk St., der sich zuvor mit Hilfe dieser "Karriere" als V-Mann in verschiedene politische Szenen eingeschlichen hatte, lösten Ende 1987 bundesweite Razzien gegen das angebliche RAF-Umfeld aus. Obwohl dieser zum "Kronzeugen" aufgebaute Ermittlungsgehilfe selbst nach Auffassung von Sicherheitsexperten als "Aufschneider" und "Spinner" anzusehen ist, basierten sogar Haftbefehle ausschließlich auf seinen Aussagen. So wurde beispielsweise die Offenbacher Studentin Andrea B. wegen - so der Haftbefehl vom 18.9.1987 - des Verdachts der Mitgliedschaft in einer "Terroristischen Vereinigung", die in mehreren Städten der Bundesrepublik existiere, fast zwei Monate lang in Isolationshaft gehalten. Das Ermittlungsverfahren mußte allerdings bald wieder eingestellt, der zu Unrecht Beschuldigten eine Entschädigung für die erlittene Untersuchungshaft zugesprochen werden.

Aufgrund der umfangreichen Aussagen von Dirk St. durchsuchte die Bundesanwaltschaft sowohl bundesweit Gefängniszellen von politischen Gefangenen als auch Wohnungen und Büroräume, u.a. die der Hamburger Rechtsanwältin Ute Brandt, seiner ehemaligen Verteidigerin, gegen die ein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden war. Mit diesen Aktionen drangen Polizei und Staatsanwaltschaft in verdächtige politisch- oppositionelle Kommunikationszusammenhänge ein, mit der Beschlagnahme von Verteidigerakten und -post durchbrachen sie die prinzipiell geschützte Vertrauenssphäre zwischen der Strafverteidigerin und ihren Mandanten. wurde. Wenig später fand noch eine zweite Durchsuchung von Ute Brands Büro statt, in deren Verlauf Verteidigerpost und private Korrespondenz zwischen der Anwältin und einem ihrer Mandanten, dem zu lebenslanger Haft verurteilten RAF-Gefangenen Rolf Heißler, beschlagnahmt wurden.

Nach Auswertung der zuerst beschlagnahmten Unterlagen wurde das Ermittlungsverfahren im September 1988 eingestellt, soweit es auf "die Fantastereien des Herm Dirk St." zurückging. Die Begründung der Bundesanwaltschaft: "Seine Anschuldigungen sind nicht haltbar."

Doch St.s' unhaltbare Anschuldigungen hatten gleichwohl eine wichtige Funktion erfüllt: Sie spielten den Türöffner zu Ute Brandts "verdächtiger" Anwaltspraxis, die auf diese Weise unter die Lupe genommen werden konnte. Ute Brandt vertritt nämlich bereits seit geraumer Zeit politische Gefangene und unterstützt öffentlich die Forderung ihrer Mandanten nach Zusammenlegung mit anderen Gefangenen und Aufhebung der Isolationshaftbedingungen, was nicht zuletzt zu ihren anwaltlichen Pflichten gehört. Ihr wurde deshalb jedoch "Unterstützung einer terroristischen Vereinigung" und "Werbung für die RAF" vorgeworfen. Das diesbezügliche Belastungsmaterial stammte aus einem sog. Zufallsfund während der zweiten Bürodurchsuchung und aus einer Zellenrazzia: Es handelt sich um den Schriftwechsel mit Rolf Heißler, Schriftstücke, die ordnungsgemäß als Verteidigerpost gekennzeichnet waren und den zuständigen Post- Überwachungsrichter unbeanstandet passiert hatten.

Ute Brandt wurde gleichwohl am 2. Oktober 1988 wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung angeklagt. Mit dem Schriftverkehr und der Übersendung verschiedener Zeitschriften und Materialien habe sie, so wird ihr vorgeworfen, die RAF und den Hungerstreik der RAF-Gefangenen unterstützt. Nach neun Monaten lehnte der Staatsschutzsenat des Hanseatischen Oberlandesgerichts mit Beschluß vom 30. Juni 1989 allerdings die Eröffnung des Hauptverfahrens "mangels hinreichenden Tatverdachts" ab. Die Begründung der Richter: "Denn sie wurde als Verteidigerin ihres Mandanten tätig und konnte grundsätzlich die Verteidigungsstrategie und -maßnahmen zur Erzielung von Hafterleichterungen bestimmen, wobei ihr stets bewußt war, daß sämtliche Schriftstücke vom Überwachungsrichter kontrolliert werden würden."

Gesetzliche Regelung trotz erheblicher Bedenken

Aus den bisherigen Erfahrungen mit den ungesetzlichen "Kronzeugen ohne Titel" in "Terrorismus"- Verfahren, aber auch mit der "kleinen" Kronzeugenregelung in § 31 BtMG (Betäubungsmittelgesetz) zur Bekämpfung der Drogenkriminalität oder aus den Erfahrungen in anderen Ländern hätte eigentlich deutlich werden müssen, mit welchen Problemen dieses Ermittlungsinstrument befrachtet ist. Trotzdem bemühten sich die staatlichen Organe seit Mitte der siebziger Jahre, parallel zu ihrer einschlägigen Praxis, permanent um eine gesetzliche Absicherung dieser Figur zur Terrorismusbekämpfung.

Auch bislang gab es in diesem Kriminalitätsbereich bereits eine durchaus bedenkliche Möglichkeit, die Strafe zu mildem oder ganz von Strafe abzusehen:

nach § 129a Abs. 5 in Verbindung mit § 129 Abs. 6 StGB; Voraussetzung: Der Täter muß sich bemühen, das Fortbestehen einer "terroristischen Vereinigung" oder die Begehung einer ihrem Ziel entsprechenden Straftat zu verhindern; oder:

Er muß freiwillig sein Wissen so rechtzeitig einer Dienststelle offenbaren, daß Straftaten, deren Planung er kennt, noch verhindert werden können. Straferlaß oder -milderung erhält der Täter nach dieser Vorschrift sozusagen nur für "tätige Reue", für ein Handeln, das präventiv auf die Verhinderung künftiger Straftaten oder auf die Auflösung einer "terroristischen Vereinigung" gerichtet ist. Die Regelung ist nicht anwendbar, wenn es um die Aufklärung bereits begangener Straftaten nach § 129a bzw. um die Ergreifung von Mittätern geht.

Bei der angestrebten gesetzlichen "Kronzeugen"- Regelung sollte es also nicht in erster Linie um die Verhinderung von Straftaten gehen - eine solche Vorschrift existierte ja schon -, sondern um die Legalisierung eines bereits erprobten Ermittlungsinstruments, das der Verbesserung der Ermittlung begangener Taten und der Verfolgung von Tätern dient. "Belohnt wird nicht die >Umkehr< des Täters und sein Wille zur Wiedergutmachung der Tat, soweit dies möglich ist, sondern die Menge von verratenen Informationen über Mitglieder, SympathisantInnen und Strukturen politischer Gruppen."

Nachdem nun mehrere Versuche zu Zeiten der sozialliberalen Regierungskoalition (nach der Lorenz- Entführung in Berlin und als Reaktion auf die Beweisschwierigkeiten im Stammheimer Baader- Meinhof- Prozeß) und letztmalig 1986 (nach dem Mord an dem Diplomaten Gerold von Braunmühl) gescheitert waren, kam schließlich Ende der achtziger Jahre (1989) trotz heftiger wissenschaftlicher Bedenken und politischer Proteste eine erste gesetzliche "Kronzeugenregelung bei terroristischen Straftaten" zustande, die bis zum 31. Dezember 1992 befristet ist. Diese Befristung offenbart den Charakter der Vorschrift als Sondergesetz. Schon früher war man, etwa im Rechtsausschuß des Bundestages, der Auffassung, in einer solchen Befristung "komme nur das schlechte Gewissen des Gesetzgebers zum Ausdruck"

Nach dieser Kronzeugenregelung kann nun der Generalbundesanwalt mit Zustimmung eines Strafsenates des Bundesgerichtshofs von der Strafverfolgung absehen (§1) oder das Gericht kann im Urteil von Strafe absehen oder die Strafe

nach seinem Ermessen mildern (§ 2):

wenn "der Täter oder Teilnehmer einer Straftat nach § 129a des Strafgesetzbuches oder einer mit dieser Tat zusammenhängenden Straftat selbst oder durch Vermittlung eines Dritten gegenüber einer Strafverfolgungsbehörde sein Wissen über bestimmte Tatsachen (offenbart) deren Kenntnis geeignet ist,

1. die Begehung einer solchen Straftat zu verhindern,

2. die Aufklärung einer solchen Straftat, falls er daran beteiligt war, über seinen eigenen Tatbeitrag hinaus zu fördern oder

3. zur Ergreifung eines Täters oder Teilnehmers einer solchen Straftat zu führen",und "wenn die Bedeutung dessen, was der Täter oder Teilnehmer offenbart hat, insbesondere im Hinblick auf die Verhinderung künftiger Straftaten, dies im Verhältnis zu der eigenen Tat rechtfertigt".

Diese Abwägung nach § 1 wird vom Generalbundesanwalt vorgenommen, womit ihm richterliche Befugnisse und Gewalt übertragen werden (daran ändert grundsätzlich auch die Pflicht zur Zustimmung des BGH nichts) - eine Kompetenzverschiebung, die der ehemalige Präsident des Bundesgerichtshofes, Gerd Pfeiffer, als unzulässige Anmaßung richterlicher Gewalt durch den Generalbundesanwalt kritisiert.

Kommt es doch zu einer Anklage gegen den Kronzeugen, so kann das Gericht von Strafe absehen oder die Strafe mildem (§ 2); dabei kann es zugunsten des Kronzeugen bis zum gesetzlichen Mindestmaß der angedrohten Strafe herabgehen oder statt auf Freiheitsstrafe auf Geldstrafe erkennen. Mit Zustimmung des Generalbundesanwalts kann es das Verfahren auch einstellen (nach § 153b Abs. 2 StPO).

Werden dem Kronzeugen Tötungsdelikte, also Mord (§ 211 StGB) oder Totschlag (§ 212) zur Last gelegt, dann ist nach § 3 ein Absehen von Verfolgung und Strafe nicht und eine Strafmilderung nur bis zu einer Mindeststrafe von drei Jahren (statt Lebenslänglich bzw. einer langjährigen Freiheitsstrafe) zulässig - eine Regelung, die im Vorfeld der Legalisierung besonders umstritten war; ursprünglich sollte auch Straffreiheit für Mörder möglich gemacht werden.

Trotz der letztgenannten Einschränkung treffen auf diese zeitlich befristete Ausnahmeregelung mit Maßnahmecharakter sämtliche Bedenken zu, die in der Vorphase der Verrechtlichung von wissenschaftlicher und politischer Seite artikuliert wurden: Achtzig Strafrechtslehrer und die Strafverteidigervereinigungen protestierten; in einer Experten- Anhörung des Bundestags- Rechtsausschusses lehnten 1986 18 von 20 Sachverständigen die Kronzeugenregelung ab; selbst die Gewerkschaft der Polizei (GdP) hält sie für "rechtsstaatlich und rechtsethisch nicht vertretbar"; der Präsident des Oberlandesgerichts Braunschweig, Rudolf Wassermann, äußerte die feste Überzeugung, "daß unser Rechtssystem den Kronzeugen nicht verträgt",57 andere sprechen von "Komplizenschaft mit Mördern", von "Strafvereitelung itn Amt" sowie von einem "Offenbarungseid" des Rechtsstaates. Die Bedenken und Einwände lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:

1. Die Privilegierung des Kronzeugen verstößt gegen eine Reihe von verfassungsrechtlichen Prinzipien, so gegen das Rechtsstaats- (Art. 20 1 GG), das Verhältnismäßigkeits- und das Gleichheitsprinzip (Art. 3 1 GG). Letztgenannter Verfassungsgrundsatz ist dadurch verletzt, daß der Kronzeuge durch die Gewährung von Straffreiheit oder Strafmilderung im Vergleich zu seinen Mittätem und zu anderen Straftätern bevorzugt, also ungleich behandelt wird. Diese Ungleichbehandlung per Sondergesetz ist willkürlich und kann auch nicht mit der so beliebten Formel von der "besonderen Gefährlichkeit des Terrorismus" sachlich begründet werden.

2. Die gesetzliche Zulassung des Kronzeugen verstößt auch gegen eine Reihe von strafprozessualen Prinzipien: So wird das sog. Legalitätsprinzip durchbrochen, wonach die Staatsanwaltschaft zur Verfolgung jeder Straftat ohne Ansehen der Person verpflichtet ist (§ 152 II StPO); zwar gibt es eine ganze Reihe von Einschränkungen dieses Prinzips (§§ 153 if StPO), doch bedeutet die Nichtverfolgung bzw. Straffreistellung von Kronzeugen, die meist in schwerwiegende Straftaten verwickelt sind, praktisch eine Freistellung vom Legalitätsgrundsatz frei nach ermittlungsstrategischer Opportunität. Nach Auffassung mancher Kritiker wird dadurch das "Rechtsbewußtsein der Allgemeinheit empfindlich erschüttert... Aber auch der Kronzeuge wird mit dem doppelten Makel belastet: Er bleibt ein unbestrafter Verbrecher, ist aber darüber hinaus auch ein Verräter. Und wer den Verrat liebt, liebt noch lange nicht den Verräter. Damit können auch bei der Resozialisierung des Kronzeugen erhebliche Probleme entstehen".

3. Der Kronzeuge ist das Gegenteil eines klassischen Zeugen: Selbst tief in Schuld verstrickt, kauft er sich durch den Verrat seiner Mitgenossen vom Staat frei, der seinerseits bei der Terrorismusbekämpfung unter besonderem Erfolgszwang steht:
ein Handel, der in der Regel in Untersuchungshaft, zumeist unter Isolationshaftbedingungen, angebahnt und perfekt gemacht wird, in einer örtlichen und psychischen Situation also, in der die Grenzen zwischen Versprechen eines Vorteils,
Täuschung und Unterdrucksetzen äußerst fließend sind (vgl. § 136a StPO "Verbotene Vernehmungsmethoden") und in der ausschließlich die eine Seite, die staatliche, die Bedingungen diktiert;
ein Handel, der den frisch gekürten Kronzeugen vom Mitbeschuldigten zum Ermittlungsgehilfen der Staatsanwaltschaft und Polizei transformiert, ihn in den staatlichen Verfolgungsapparat integriert (ebenso wie seine Verteidiger), dem repressiven und präventiven Staatsschutz nutzbar macht und so gegen das Verbot des Rollentauschs (vom Beschuldigten zum Zeugen und Fahndungsinstrument) im Strafprozeß verstößt;
ein Handel, der die ohnehin kaum gewährleistete Waffengleichheit im Strafprozeß vollends zunichte macht: "Da der Kronzeuge als reines Ermittlungsinstrument ausschließlich Überführungszwecken dient, erhöht sich damit das ohnehin im Ermittlungsverfahren vorhandene Übergewicht der Strafverfolgungsbehörden deutlich."61 Ein Umstand, der im Gerichtsverfahren noch dadurch verstärkt wird, daß der Einsatz von Kronzeugen, ebenso wie der von V-Leuten und Untergrundagenten, zwangsläufig zur exekutiven Manipulation von Gerichtsverfahren führt. Insbesondere durch die Vorenthaltung dieser Zeugen aus "Sicherheitsgründen" oder "Gründen des Staatswohls" und durch die mittelbare Einführung ihrer Aussagen per Vemehrnungsprotokoll und "Zeugen vom Hörensagen", wird das prozessuale Öffentlichkeits- und Unmittelbarkeitsprinzip ausgehöhlt. Eine Überprüfung der Glaubwürdigkeit des Zeugen durch die Angeklagten und ihre Verteidigung wird praktisch verhindert (s. dazu ausführlich im vorigen Kapitel).

4. Die Kronzeugenregelung geht davon aus, der potentielle Kronzeuge habe seine ethischen Wertvorstellungen gewandelt und sich auf die geltenden Werte dieser Gesellschaft rückbesonnen, wolle also dem bewaffneten Kampf entsagen und künftig keine Straftaten mehr begehen; nur der Verrat seiner bisherigen Genossen und politischen Zusammenhänge könne diesen Sinneswandel hinreichend deutlich machen; für diese denunziatorische Fahndungshilfe gebühre ihm eine angemessene Gegenleistung: Straferlaß oder Strafmilderung, darüber hinaus Geld und ein neues Leben ("Zeugenschutzprogramm"). Mit der Rückbesinnung auf die geltenden Werte dieser Gesellschaft wird er sogleich mit ihnen hautnah konfrontiert: Der Handel, auf den er sich einläßt, seine Leistung und die Gegenleistung des Staates haben mit Moral und politischer Ethik sowenig zu tun wie der Durchschnitt der kapitalistischen Handelsgeschäfte in dieser Gesellschaft. Insofern scheint in der Tat, so könnte man zynisch schlußfolgern, bereits mit dem Kronzeugen- Deal ein wesentliches Stück "Resozialisierung" gelungen.

5. Eines der gewichtigsten Bedenken gegen die Figur des Kronzeugen resultiert aus den vorgenannten Argumenten: die mangelnde Glaubwürdigkeit jener bestochenen, gekauften "Zeugen", die ihre Aussagen, die nicht selten wie Fahndungsexpertisen klingen, in bestem Polizeijargon verfaßt, eigentlich für ein rechtsstaatliches Strafverfahren von vornherein wertlos machen müßte. Das alles dominierende Interesse, die eigene Rolle zu schönen und die der Tatgenossen zu überhöhen, das verständliche Interesse an Straffreiheit oder zumindest an milder Beurteilung durch das Gericht, das existentielle Interesse an dem Schutz und der Unterstützung durch die Sicherheitsorgane - diese Interessenkonstellation und Abhängigkeit von staatlichen Instanzen erzeugt einen ungeheuren psychischen Druck und damit die Gefahr, letztlich mehr zu sagen, als man weiß. Die Sicherheitsorgane sind unersättlich in ihrem Drang, Verdächtiges zu erfahren, politische, soziale und organisatorische Zusammenhänge zu ergründen, kriminogene Zonen auszumachen, Kontaktpersonen zu verdaten. Ganze Fahndungsbücher, Lichtbildmappen und andere Dokumente werden mit den Kronzeugen systematisch durchgegangen, immer auf der Lauer nach interpretierbaren Reaktionen und Informationen, immer darauf aus, Kontakt- und Phantombilder zu erstellen. Wo der Verrat um des eigenen persönlichen Vorteils willen gefordert ist, da sind falsche Bezichtigungen geradezu vorprogrammiert. Der Beweiswert eines solchermaßen gekauften Zeugen sinkt gen Null - eine gerichtlich nur selten und unvollkommen gewürdigte Tatsache, die etliche "Terrorismus"- Verfahren, zusätzlich zu den sonstigen Gründen, gelinde gesagt erheblich ins Zwielicht brachte.

Nicht verwunderlich also, daß die Strafverteidigervereinigungen schon im Jahre 1987 alle Verteidigerinnen aufforderten, "ihre Mandanten eindringlich davor zu warnen, sich als Kronzeugen mißbrauchen zu lassen".

Der erste Anwendungsfall 1990

Inzwischen ist die umstrittene Kronzeugenregelung erstmals in der bundesdeutschen Justizgeschichte zur Anwendung gekommen: Der geständige Angeklagte Ali Cetiner, der den Ermittlungsorganen als ehemaliger leitender Funktionär der kurdischen Arbeiterpartei PKK gilt, wurde im März 1990 von einer Schwurgerichtskammer des Berliner Landgerichts wegen Mordes an einem Parteidissidenten zu fünf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt - statt, wie nach dem Strafgesetzbuch zwingend vorgeschrieben, zu Lebenslänglich. Die neue Kronzeugenregelung machte es ganz offiziell möglich: Denn Cetiner hatte zuvor gegenüber der Bundesanwaltschaft umfassend und in mehreren Versionen über die PKK "ausgepackt". Er hat damit zu einer ganzen Reihe von Haftbefehlen beigetragen und darüber hinaus für das bereits mehrfach beschriebene Großverfahren gegen mutmaßliche PKK- Mitglieder vor dem OLG Düsseldorf belastende Aussagen beigesteuert.

Cetiner gilt als "wichtigster Zeuge im Düsseldorfer Prozeß" (so der Chefermittler in Sachen PKK). Einer der BAW- Ankläger im PKK- Verfahren, Oberstaatsanwalt beim BGH, Lothar Senge, bekannte während seiner Zeugenaussage in dem Berliner Kronzeugen- Prozeß: "Ich muß gestehen, daß in einigen Anklagepunkten sehr hypothetische Indizienketten aufgestellt worden sind. Cetiner hat uns durch seine Aussagen die Dinge rund gemacht."

Die zunächst "sehr hypothetische", von Senge auch mal "mutig" genannte "Indizienkette", die offenbar zur Anklage gegen 18 Kurdlnnen vor dem OLG Düsseldorf ausgereicht hatte, wurde also im Nachhinein durch einen Mitbeschuldigten weitgehend bestätigt - einem Mitbeschuldigten, der nach eigenem Eingeständnis selbst an einem Mord beteiligt war, der sich monatelang in der Verfügungsgewalt der Ermittlungs- und Anklagebehörden befunden hatte und der sich als Kronzeuge, um den Preis des Verrats an seinen früheren Genossen, mit vereinter Hilfe staatlicher Instanzen aus der Schlinge der lebenslänglichen Verurteilung ziehen konnte. Nicht verwunderlich, daß manche Kritiker davon sprechen, der Staat paktiere auf diese Weise mit Mördern, kaufe angesichts der offenkundigen Interessenlage solcher Kronzeugen notgedrungen äußerst zwielichtige "Zeugen" cm, schütze sie anschließend und leiste auch noch großzügige Hilfe bei der Gründung einer neuen Existenz (Wohnung, Arbeitsplatz usw.), die Cetiner tatsächlich von der Bundesanwaltschaft versprochen worden war.

Der Sachverständige Dr. med. Celler schilderte den akuten Zustand des angeklagten Kronzeugen vor Gericht folgendermaßen:67 Cetiner, 36 Jahre alt, sei um

mindestens zehn Jahre vorgealtert, körperlich schwach, seine Psyche zusammengebrochen. Er sei schwer depressiv, hoffnungslos, ohne Antrieb. Seine Haftsituation empfinde er als miserabel und seine besondere Bewachung nicht als Schutz, sondern als Schikane. Sein Intelligenz- Quotient betrage nur 76, was erstaunlich niedrig sei. Cetiner, so der Sachverständige sinngemäß weiter, sei völlig erfolglos, gescheitert sowohl politisch als auch familiär, eine schwache Persönlichkeit, die dem Fanatismus und der Indoktrination innerhalb der PKK erlegen sei.

Kann es da nicht möglich sein, daß er auch den Vernehmungsmethoden der Ermittler erlegen ist, dem Wechselbad von Zuckerbrot und Peitsche, der staatschützerischen Instrumentalisierung in einer absoluten Abhängigkeits- und Zwangslage

- und dann letztendlich Aussagen produzierte, die schließlich wundersamerweise genau die "sehr hypothetische und mutige Indizienkette" der Ankläger im PKK- Verfahren bestätigten?

Das BKA betreut solche "gefährdeten Zeugen" der Anklage, die möglicherweise die Rache ihrer verratenen Genossen fürchten müssen, sehr intensiv. Dafür gibt es spätestens seit 1987 ein eigenes "Zeugenschutzprogramm", das sowohl auf die in Freiheit lebenden (Kron-) Zeugen Anwendung findet, als auch auf inhaftierte Zeugen der Anklage. Die "Koordinationsstelle Zeugenschutz" beim BKA sorgt für deren Unterkunft, ggfls. für wechselnde Wohnorte, Verpflegung, Kleidung, Geldzahlungen und sonstige Vergünstigungen sowie für Bodyguards und kugelsichere Westen bei ihren diversen Gerichtsauftritten - eine wahrhaft fürsorgliche Belagerung, die zu einer vollständigen Abschirmung nach außen und zu einer umfassenden Abhängigkeit von den Ermittlungsbehörden führt.

Mit dem im März 1990 abgeschlossenen Berliner Kronzeugen- Verfahren wurden entscheidende Fakten gesetzt, die in das noch laufende Düsseldorfer "Terrorismus"- Verfähren gegen zunächst 18 (später 16) mutmaßliche Mitglieder bzw. Unterstützter der kurdischen PKK unmittelbar hineinwirkten; die Verteidigung und das Gericht wurden dadurch in ihrem jeweiligen Wirken drastisch eingeschränkt: Mit dem Berliner Strafmaß- Rabatt- Urteil wurde Cetiner als Kronzeuge gerichtlich anerkannt, er und seine teils wirren, oftmals widersprüchlichen Aussagen galten damit als prinzipiell glaubwürdig. Auf diese Weise wurden ohne Kenntnis der Düsseldorfer Akten entscheidende Punkte des PKK- Verfahrens bereits vorweggenommen, die eigentlich dort noch zu beweisen gewesen wären - etwa Aussagen über Personen und Strukturen der PKK und insbesondere die Feststellung, daß es sich bei der PKK oder bei Teilen von ihr um eine "terroristische Vereinigung" handele Gleichwohl mußte das Düsseldorfer OLG ein Jahr später indirekt eingestehen, daß der Kronzeuge im PKK- Verfahren doch nicht halten konnte, was die Anklagebehörde (sich von ihm) versprach: Das Gericht bot nämlich im März 1991 - nach fast 120 Verhandlungstagen - insgesamt acht Angeklagten des PKK- Prozesses an, ihr Verfahren gemäß § 153 StPO ("Nichtverfolgung von Bagatellsachen") einzustellen. Begründung: Der Kronzeuge Cetiner habe "seine früheren Angaben" zu Binnenstruktur und Bestrafungspraktiken der PKK inzwischen "erheblich relativiert" und die Aussagen des "bestgeschützten Zeugen des BKA", Nusret A., zur PKK- Parteistruktur in Europa beruhten, so das Gericht, "weitgehend auf Kenntnis vom Hören- Sagen und in vielen Punkten wohl auch eher auf Vermutungen als auf Wissen". Die betroffenen Angeklagten, die bislang der Öffentlichkeit als "Top- Terroristen" präsentiert wurden, lehnten diese gerichtliche Einstellungsanregung allerdings ab - sie erwarten Freisprüche oder die Einstellung des gesamten Verfahrens.

Zurück zum Berliner Kronzeugen- Verfahren gegen den Hauptbelastungszeugen Cetiner. Prozeßbeobachter der Berliner "Roten Hilfe" schildern ihren Eindruck von diesem ersten offiziellen Kronzeugen- Prozeß: "Erinnerte doch der gesamte Prozeß eher an ein abgekartetes Spiel, denn an einen Strafprozeß. In bisher nicht dagewesener Eintracht saßen sich die Verteidigung Cetiners, Staatsanwaltschaft und das Gericht gegenüber, warfen sich ab und an freundlich die Bälle zu und verfolgten unübersehbar dasselbe Ziel, Cetiner als Kronzeugen mit einer reduzierten Strafe aus dem Gericht zu bekommen." Was denn auch perfekt gelungen ist. "Der Spiegel" sprach in diesem Zusammenhang anschaulich von einem Strafprozeß, der "nach den Regeln des orientalischen Basars" ablaufe. Doch da wird noch mehr um den Preis gerungen als in jenem Verfahren.

Weitere Kronzeugen- Prozesse

Weitere Kronzeugen- Handelsgeschäft nach der neuen gesetzlichen Regelung standen 1991 ins mittlerweile gesamtdeutsche Haus: Einige der in der ehemaligen DDR festgenommenen Ex- RAF- Mitglieder, die dem "Terrorismus" längst abgeschworen hatten, boten sich der Bundesanwaltschaft als unerwarteten Kronzeugen- Nachschub an. Und die Bundesanwaltschaft akzeptierte.

Der zweite Kronzeugenprozeß fand erstmals gegen ein ehemaliges RAF-Mitglied - vor dem Bayerischen Obersten Landesgericht statt. Dieser Prozeß sollte, bezogen auf die RAF, "Pilotfunktion" haben. Allerdings wurden dabei manche Erwartungen enttäuscht: Werner Lotze, angeklagt wegen Mordes, Mordversuchs in mehreren Fällen, zweier Banküberfälle und wegen eines Sprengstoffanschlags, wurde im Januar 1991 zu zwölf Jahren Haft verurteilt - äußerst wenig für Mord und Mordversuche (sonst zwingend lebenslänglich), aber doch ziemlich viel für einen Kronzeugen der Anklage, der sich geständig zeigte und dabei auch Taten gestand, die ihm bisher gar nicht zur Last gelegt worden waren.76 Doch das Gericht ging davon aus, daß es sich bei Lotze nicht um den vom Gesetzgeber angepeilten "klassischen Kronzeugen" handele, dessen Aussagen zu unmittelbaren Fahndungserfolgen führen; solche seien bislang jedenfalls "nicht feststellbar" -nicht verwunderlich, wie das Gericht befand: schließlich habe Lotze zehn Jahre lang abseits der RAF in der früheren DDR gelebt: "historisch interessante Aufklärung früherer Straftaten" falle jedoch nicht unbedingt unter die Kronzeugenregelung.

Und in der Tat hatte der Gesetzgeber jene Alt- Fälle aus der Ex- DDR, allesamt frühe Aussteiger, nicht im Blick, sondern die noch aktiven RAF-Mitglieder und ihre aktuelle Abkehr vom "Terrorismus". Trotz dieser Tatsache hat der Generalbundesanwalt gegen das Münchener Urteil - verkehrte Welt in Kronzeugen- Prozessen - in seltener Einigkeit mit der Verteidigung zugunsten des Verurteilten Revision eingelegt, um in nächster Instanz (vor dem BGH) vielleicht doch noch ein "richtiges" Kronzeugen- Urteil mit angemessenem Rabatt zu erwirken. Schließlich sollen auch diese Urteile als politisches Signal an die noch aktiven RAF-Kader dienen: als positives Signal, endlich "reinen Tisch" zu machen und damit von der zeitlich begrenzten Kronzeugenregelung noch rechtzeitig zu profitieren (womöglich bleibt dies allerdings eine pure Illusion, angesichts der unstreitigen Erkenntnis, daß es sich bei den RAF-Kämpfern um hoch motivierte Täter mit hohem moralischen Anspruch handelt - der RAF-Aussteiger Baptist Ralf Friedrich spricht von "furchtbaren Moralisten" die sich auf ein solch verräterisches Handelsgeschäft ebensowenig einlassen werden, wie auf die mehrfache Auslobung von mehreren Millionen DM für Aussteiger und Denunzianten.

Auf ein politisches Signal hoffen indes andere: nämlich einige der in der DDR bereits "resozialisierten" und geläutertem Ex- Terroristen. So z.B. Susanne Albrecht, der u.a. die Ermordung des Dresdner- Bank- Chefs Jürgen Ponto im Jahre 1977 zur Last gelegt wird.79 Doch auch sie wurde entäuscht: Ihr Ausstieg aus der "Terrorszene", der sich in ihrem jahrelangen DDR- Asyl manifestierte, sowie Selbstbezichtigungen und auf über zehn Jahre alte Taten bezogene Beschuldigungen haben zwar ausreicht, dem "Lebenslänglich" zu entrinnen, nicht aber um weitergehende Vergünstigungen zu erzielen: Ihr Verfahren vor dem OLG Stuttgart endete im Juni 1991 ebenfalls mit zwölf Jahren Freiheitsstrafe - genauso wie es Werner Lotze erging.

Lotze wollte nicht, so machte er vor seinem Prozeß geltend, daß seine belastenden Aussagen, sein Wissen über die RAF "als Ware betrachtet" werde, mit der er um Vergünstigungen feilschen wolle. "Doch genau so ist es gekommen: Die Ware wurde als minderwertig eingestuft. Der Warencharakter der Aussagen liegt in der Natur des Kronzeugengesetzes."

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