Ein Brief vom 23.1.00
Wie Du siehst, bin ich mittlerweile im Besitz einer Schreibmaschine,
leider ohne Textspeicher, aber vielleicht kann man ja aus dem auch wieder
ein Funkgerät oder einen Hubschrauber bauen, wie aus dem Laptop?
Merkwürdigerweise geht mir das Briefeschreiben mit der Maschine
schneller aus den Fingern als wenn ich per Hand schreiben würde. Schon
Deformationserscheinungen angesichts zu langen Gebrauchs der technischen
Errungenschaften wie Compi und ähnliches?
Nachdem ich die ersten 4 Wochen mehr so in den Tag hineingelebt habe,
habe ich jetzt seit letztem Montag angefangen mir den Tagesablauf etwas
strukturierter zu gestalten.
Zwischen Frühstück (6.30) und Hofgang (10.00) lerne ich jetzt
jeden Morgen abwechselnd Englisch bzw. Polnisch. In einer Pause
zwischendurch mache ich dann für 20-30 Minuten ein bißchen
Gymnastik, teils Übungen, die ich aus meiner Karate- bzw. Aikido-Zeit
noch in Erinnerung habe, teils Shiatsu-Übungen (...)
.Es ist keine schweißtreibende Gymnastik, mehr Dehnungs- und
Entspannungsübungen. Ich habe auch das Gefühl, daß seit ich
diese Gymnastik mache , ich mich konzentrierter mit den anderen Sachen
beschäftigen kann. Nach dem Hofgang (11.30) und vor dem Mittagessen
(12.30) lese ich in der Regel die FR und die Westdeutsche Zeitung (WZ), ein
ähnliches Käseblatt wie MOZ [Märkische Oder Zeitung,
Anm.d.Empf.] oder SZ [Sächsische Zeitung, Anm. d. Empf.], hat aber den
Vorteil, daß Mittwochs immer das Fernsehprogramm für die Woche
drin ist.
Nach dem Mittagessen lese ich in der Regel bis zum Abendessen (17.30),
und nach dem Abendessen beantworte ich dann Briefe oder lese weiter bis ich
mich dann vor die Glotze hänge. Das Fernsehprogramm ist aber so
schlecht, trotz Kabelanschluß, daß ich mittlerweile nur noch
relativ wenig ; Tagesschau oder interessante Magazine und dann später
gegen 22.00 irgendwelchen Schrott zum Abhängen, in die Röhre
schaue. Das gelingt mir auch leichter seitdem ich meinen Tag ein wenig
strukturiert habe.
Für Tips für Gymnastikübungen bin ich weiterhin offen,
ein Aikidobuch haben sie mir nicht ausgehändigt, ich glaube mit der
Begründung, ich könnte mit dem Aikido ja irgendwelche
Schließer angreifen. Selbstverständlich mache ich auch die ein
oder andere Entspannungspause auf dem Bett zwischendurch, aber ich fand
diesen Umgang ganz hilfreich für mich, soweit mensch das nach einer
Woche schon sagen kann.
Das Beantworten nimmt mitlerweile einen relativ großen Raum ein,
jetzt am Wochenende habe ich über 10 Briefe geschrieben, und ich
gehöre ja nicht unbedingt zu der Gilde der Schnellschreiber. Da kommt
dann das Lesen ein bißchen ins Hintertreffen. Da ich in den letzten
Wochen auch noch Bücher aus der Anstaltsbücherei hatte, habe ich
von meinen anfänglich verkündeten Leseplänen noch nicht viel
verwirklicht.
Neben dem Gössner (habe ich im letzten Brief schon erwähnt)
habe ich eigentlich mehr Belletristik gelesen. Und so ganz nebenbei tauchen
ja mittlerweile auch die Aussagen, bzw. nur Teile davon, hier auf, mit
denen ich mich dann natürlich auch beschäftige. (.....) Die
Diskussion von Texten auf diesem schriftlichen Wege ist für mich
natürlich totales Neuland, und wahrscheinlich hast Du da Recht mit
Deinem Vorschlag sich bestimmte Kapitel vorzunehmen und die parallel zu
lesen. Das wird wohl ein ziemlicher Lern- und Umgewönungsprozeß
für mich, denn viele meiner Einsichten und Erkenntnisse sind
eigentlich erst im Lauf einer lebendigen Diskussion entstanden und die
funktioniert hier mit meiner Triumph-Adler nicht so richtig. Aber
zumindestens versuchen sollten wir es mal.
Inhaltlich steht für mich die vom Gössner untersuchte Thematik
ziemlich im Vordergrund, liegt ja wahrscheinlich auch auf der Hand. Und
danach würde ich mir als nächstes gerne den Heinrich Hannover
durchlesen, bevor ich mich dann dem Foucault zuwenden würde.(...)
Zum Zeitpunkt der Kundgebung habe ich mit dem Kopf am Zellenfenster
gehangen und mehr geahnt als gehört, daß dort irgendwo irgendwas
stattfindet. Ich finde das aber nicht so schlimm, weil ich mir denke,
daß es durchaus auch von mir bzw. von meinem unmittelbaren
Mitbekommen unabhängige Gründe für diese Kundgebung gibt.
Zum Einen haben es andere Leute hier im Knast mitbekommen, ich bin von
einem Schließer gefragt worden, ob ich es gehört hätte, was
sicherlich meiner allgemeinen Position hier zugute kommt. Zum anderen denke
ich , daß es als Teil einer allgemeinen Öffentlichkeitarbeit
nicht unwichtig ist und zuguterletzt finde ich es ja nach wie vor ganz
herrvoragend, wenn meine (unsere) Verhaftung dazu führt, daß
sich Leute (wieder) zusammensetzen und ein gemeinsamer politischer
Diskussionsprozeß stattfindet, also wichtig mehr für die Leute,
die Szene hier.(...)
Ich habe inzwischen das erste Antwortschreiben von Axel erhalten, d.h.
auch zwischen uns fängt auf diesem Wege eine Kommunikation an. Sowie
ich es weiß, kann mensch mir CD's und Kasseten schicken,
allerdings keine selbst bespielten sondern orginalverpackte und am besten
noch von dem entsprechenden Händler. Ich habe mir auch in den letzten
Tagen überlegt, was ich denn da gerne hätte und je länger
ich nachdenke umso mehr fällt mir ein.(...)
[Diesbezügliche Anfragen sind bitte an das Soli-Büro zu
richten!]
Harald
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